Soziale Ungleichheit, steigende Schülerzahlen, schlechtes
Abschneiden im internationalen Vergleich – die neue Erziehungsministerin Mady Delvaux-Stehres steht unter Zugzwang.
„Es gibt wenig gute Schüler, aber ganz viel schlechte.“ Guy Foetz‘ Urteil über das Niveau des Luxemburger Schulsystems ist vernichtend. Der Vize-Präsident des Syndikats Erziehung und Wissenschaft (SEW) fügte bei der Pressekonferenz der Lehrergewerkschaft am vergangenen Dienstag noch hinzu: „In anderen Ländern ist es eher gelungen, eine wesentlich höhere Zahl an guten Schülern zu haben.“
Wieder gibt es – vier Jahre nach Pisa – eine Studie der „Organization for Economic Cooperation and Development“ (OECD). Dabei hat Luxemburg nur bedingt an dem internationalen Vergleich teilgenommen. So fehlt Luxemburg zum Beispiel in der OECD-Rangliste der Lehrergehälter. Als Spitzenverdiener sind dort die PaukerInnen aus der Schweiz und Deutschland aufgeführt.
Solche Studien seien mit Vorsicht zu genießen, hieß es aus dem Erziehungsministerium. Die Zahlen seien „aufgekocht“ worden, erklärte Michel Lanners, Leiter des „Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques“ (Script) kürzlich gegenüber der Presse und verwies darauf, dass Luxemburg relativ konstante Bildungsdaten vorweise. Doch konstant kann auch stagnierend bedeutend.
Nach wie vor gibt es wenig Schmeichelhaftes aus dem luxemburgischen Bildungssektor zu melden: So verlässt zum Beispiel jedeR fünfte SchülerIn hier zu Lande die Schule ohne Abschluss. Nur die Hälfte der SchülerInnen besitzt eine Hochschulzugangsberechtigung. Unterdessen beläuft sich das Budget für die Bildung nicht einmal auf fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts. Damit ist Luxemburg Schlusslicht unter den 30 getesteten Staaten der OECD.
SEW-Vize Foetz kennt die Schwachstellen des luxemburgischen Schulsystems: Die Lehrergewerkschaft tritt für grundlegende Reformen des hiesigen Schulwesens ein und ist für eine gesellschaftspolitische Diskussion über die Orientierung der Schule. Die Rolle der Schule müsse klar definiert und „die Probleme nicht unter den Tisch gekehrt“ werden, sagt SEW-Präsidentin Monique Adam im Gespräch mit der woxx. Denn nur so könne die Schule ihrer Ausbildungs- und ihrer gesellschaftlichen Rolle gerecht werden.
„Eine effiziente und kohärente Bildungsoffensive für Luxemburg“ hatte vor fünf Jahren die damalige Unterrichtsministerin Anne Brasseur bei ihrem Amtsantritt angekündigt. Doch der große Wurf blieb aus. Gewiss: Mit dem Basisschul- und Primärschulgesetz, der Reform der Berufsausbildung sowie dem Plan directeur sectoriel „lycées“ brachte die DP-Politikerin einiges auf den Weg. Dennoch beging sie, wie die woxx im Juni (woxx Nr. 748) konstatierte, den Kardinalfehler bisheriger luxemburgischer SchulpolitikerInnen: „Statt zunächst die Stärken und Schwächen des Systems zu analysieren, klare Entwicklungsziele aufzustellen und dann mit passgenauen Lösungen die Fehlerquellen auszumerzen, fehlt eine wissenschaftlich fundierte, detaillierte Bestandsaufnahme des Schulsystems bis heute.“
Sprachproblem: Kein Patentrezept
Was im Luxemburger Schulsystem vor allem fehlt, ist eine Qualitätskontrolle. Und dazu gehört eben ein internationaler Vergleich. Einen solchen verspricht Delvaux-Stehres: „Den Blick von außen benötigen wir unbedingt“, sagte neue Ministerin unlängst in einem Interview. Für langfristige regelmäßige Bewertungen soll das Script zuständig sein, aber auch die Uni Luxemburg und andere Universitäten. Die neue Ministerin möchte den Ist-Zustand mit Hilfe ausländischer Experten verifizieren lassen.
Was Delvaux-Stehres besonders unter den Nägeln brennt, sind die ungleichen Bildungschancen: Die Pisa-Vergleichsstudie aus dem Jahr 2000 ergab, dass in Luxemburg ein überdurchschnittlich großes sozio-ökonomisches Gefälle in den verschiedenen Schulen besteht und dass vor allem Immigrantenkinder in der Schule das Nachsehen haben. Dass kapverdische und portugiesische Kinder mehr als doppelt so häufig sitzen bleiben wie luxemburgische, ist ein Indiz für die ungleichen Voraussetzungen. Ein weiteres ist, dass von tausend luxemburgischen SchülerInnen 137 im klassischen Sekundarunterricht eingeschrieben sind, von tausend portugiesischen hingegen nur 35. In den klassischen Lyzeen liegt der Ausländeranteil bei nur 16,5 Prozent.
„Das Sprachproblem spielt eine wesentliche Rolle“, meint Guy Foetz. Den Worten des Gewerkschafters zufolge hat es wenig Sinn, Englisch bereits in der Primärschule zu unterrichten. Viel wichtiger sei es dagegen, die Muttersprache der Kinder in den Unterricht zu integrieren. Auf diese Weise lerne man die Strukturen einer Sprache kennen, erklärt der Pädagoge, was wesentlich mehr bringe als eine Fremdsprache. Auch Luxemburgisch als Integrationssprache sei keine ideale Lösung, meint Monique Adam. Damit laufe man Gefahr, sich abzukapseln, sagt die SEW-Präsidentin und fügt hinzu: „Mit Luxemburgisch geht man nicht studieren.“ Ein Patentrezept gebe es jedenfalls noch nicht.
„Gleiche Chancen für alle Schüler.“ Mit dieser Devise ist Mady Delvaux-Stehres angetreten. Dies erfolge unter anderem durch die Früherziehung: „Je früher man ansetzt, desto größer die Chancen, Ungleichheiten wettzumachen“, lautet ihr Motto. Darüber hinaus will die Ministerin das Angebot an ganztägiger Betreuung erhöhen. Die SchülerInnen müssten auch nachmittags in der Schule bleiben können.
Die schulische Betreuung vor und nach dem Unterricht müsse verbessert werden, so die LSAP-Politikerin. Ein Pilotprojekt zur Ganztagsschule soll ab dem Schuljahr 2005/06 in verschiedenen siebten Klassen gestartet werden. Mit ihrem Plädoyer gegen Hausaufgaben löste Delvaux-Stehres einen ersten polemischen Schlagabtausch mit ihrer Vorgängerin aus. Man dürfe PrimärschülerInnen nicht noch durch Hausaufgaben belasten. Denn nicht alle Eltern können ihren Kindern gleichermaßen helfen. Anne Brasseur hielt dagegen. In Sachen Hausaufgaben sei sie „fundamental anderer Meinung“.
Scheu vor Noten
Einen besonderen Akzent auf die Lehrerleistungen setzt der jüngste OECD-Bericht. Er sei „eine Generalabrechnung mit der starren Auswahl und praxisfernen Ausbildung von Lehrern, mit ihren veralteten Arbeitsbedingungen, ihrer Gängelung und leistungsfeindlichen Vergütung“, schreibt Martin Spiewak in der „Zeit“ (Nr. 40/2004). Wie die OECD über Deutschland urteilt, kann gut und gerne auch für Luxemburg gelten: Die Lehrerausbildung ist höchst reformbedürftig.
„Die Ausbildung der Primärschullehrer ist zu stark praxisbezogen, die der Sekundarschullehrer zu praxisfern“, stellt Monique Adam fest. Während für Erstere nach Worten der SEW-Chefin ein wissenschaftlicher Ansatz fehlt – „eine Philosophie des Unterrichts“ – und ihr Unterricht demnach zu wenig auf die Bedürfnisse der Schüler ausgerichtet ist, orientiert sich die Ausbildung der GymnasiallehrerInnen zu sehr an fachlichen Kriterien. Luxemburg hinke in der Ausbildung seines Lehrpersonals in Europa hinterher. Zudem müssten sich die LehrInnen mehr als Teil eines Teams verstehen, betont Monique Adam. Heute herrsche aber vielmehr das Spezialistentum vor.
Den Mangel an Rechenschaftspflicht bei LehrerInnen sehen die OECD-BerichterstatterInnen als ein weiteres Manko. Auch das gilt für Luxemburg: Einer Qualitätskontrolle, wie sie von Mady Delvaux-Stehres angemahnt wird, mussten sich die hiesigen PädagogInnen bislang nicht unterziehen. Sie benoten zwar ihre SchülerInnen, vor der eigenen Benotung scheuen sie jedoch zurück.
Dass das luxemburgische Schulsystem enormen Nachholbedarf hat und dass etwas getan werden muss, liegt also nicht nur an den steigenden Schülerzahlen. Bis 2013 sollen jährlich rund 700 neue SchülerInnen allein im Sekundarunterricht hinzukommen. Dem entsprechend wird auch das Lehrpersonal aufgestockt. Immerhin tut sich etwas, seit : Die „Education précoce“ soll bereits nach dem neuen Schulgesetz ab 2009 in allen Kommunen Luxemburgs angeboten und mit dem „Plan sectoriel lycées“, der in einer ersten Phase den Bau von drei Lyzeen in Junglinster, Redingen und Belval-West vorsieht, ein dezentralisiertes Schulangebot geschaffen werden. Für das kommende Jahr beläuft sich das Budget des Erziehungsministeriums auf rund 700 Millionen Euro. Im Jahr 2000 waren das noch etwa 500 Millionen Euro. Doch ob die quantitative Steigerung mit einer qualitativen einher geht, ist damit noch nicht gesagt. Eine „nachhaltige Reform“, wie von der Lehrergewerkschaft gefordert, steht noch aus.