Auch im Internet wird versucht, die Erinnerung an Verbrechen und Völkermord wachzuhalten. Das geht weit über reine Information hinaus.
Auf der Seite „Memory Loops“ ist Erinnerung wie ein virtuelles Kunstwerk aufgebaut. Nutzer sehen als erstes eine Stadtkarte von München: Der Wirrwarr grauer Straßenzüge auf schwarzem Hintergrund, darauf verteilt lauter blaue Kreise, die im Zentrum dicht beieinander und teilweise übereinander liegen. Geht man auf einen dieser Kreise, so erscheinen
Adressen, zum Beispiel Lenbachplatz 3. Beim Anklicken ist plötzlich eine Kinderstimme zu hören, die eine Mitteilung von Hitlers Privatsekretär Martin Bormann aus dem Jahr 1942 verliest: „Betrifft beschlagnahmte Kunstschätze bei der Firma Bernheimer, München“. In der Audiodatei (Länge 1,38 Minuten) wird die Plünderung einer Kunstsammlung befohlen: „Öffentliche Münchener Galerien können sich heraussuchen, was sie an Bildern haben wollen.“
Download statt Kranzniederlegung
300 deutsche und 175 englische Tonspuren umfasst das internetbasierte Audioarchiv der Künstlerin Michaela Melián, das den NS-Terror in München dokumentiert. Der Trick, neben Erwachsenen auch Kinder vorlesen zu lassen, verstärkt die Wirkung der Originaltexte. Besonders wenn die Bekanntmachungen Willkür und Entrechtung in typisches Beamtendeutsch fassen. Auch der Boykottaufruf vom März 1933 wird von zarter Kindesstimme vorgetragen: „Kauft nicht in jüdischen Warenhäusern! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten! Meidet jüdische Ärzte!“
Die Audio-Dateien sind aber nicht allein für das Anhören im Internet gedacht, sondern verweisen auf reale Orte der Verfolgung: das Hofbräuhaus, die Feldherrnhalle, das Polizeipräsidium. Aufs Mobiltelefon oder den MP3-Player überspielt, sollen sie dorthin mitgenommen und gehört werden – ganz zeitgemäß mit Stecker im Ohr. Die „Erinnerungsschleifen“ führen also aus dem virtuellen Raum heraus in die Straßen der Stadt. Michaela Melián lässt dabei die Originaltexte für sich sprechen, begleitende Erklärungen sind überflüssig. Das preisgekrönte Projekt stieß in München anfangs auf einige Skepsis. Aber es spricht alle die an, die mit einem Download mehr anfangen können als mit einer Kranzniederlegung.
Von den fast 200.000 Menschen, die zwischen 1938 und 1945 im KZ Mauthausen inhaftiert waren, überlebte nur die Hälfte. Zwanzig dieser Überlebenden erzählen auf der Seite der österreichischen Gedenkstätte vom Schrecken des Lageralltags und dem Leben danach. Die Berichte sind Teil des „Mauthausen Survivors Documentation Project“, bei dem 900 Audio- und 90 Video-Interviews aufgenommen wurden. Die ehemaligen Häftlinge sprechen in ihrer Muttersprache, die Interviews sind deutsch untertitelt. In den USA etwa entstand der Bericht von Solomon J. Salat, einem gebürtigen Polen, der ab August 1944 unter anderem im Steinbruch von Mauthausen arbeiten musste und später nach Amerika auswanderte. Salat sagt: „Wenn ich durch das Fenster meiner Erinnerungen schaue, sehe ich nichts als Grabsteine.“
Memory-Sharing
Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem nutzt das Internet im Sinne des Web 2.0: Nutzer werden an der Aktualisierung des zentralen Datenbestands von Shoah-Opfern beteiligt. Seit 2004 steht ein einfaches Formular online, in welches die Namen noch nicht registrierter Opfer eingegeben werden können. Vorschläge zur Korrektur von fehlerhaften Einträgen sind ebenfalls möglich. Bevor die Daten – digitalisierte Fotografien oder Dokumente – in den Bestand übergehen, werden sie auf Plausibilität geprüft. Zur Zeit sind im Datenbestand annähernd drei Millionen Personen aufgeführt.
Vor über zehn Jahren lenkten Terroristen zwei gekaperte Flugzeuge in die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centre. Auch dieses Anschlags wird im Netz auf besondere Art gedacht. Beim „Sonic Memorial Project“ haben sich unabhängige Radiomacher, Künstler, Musiker, Archivare, Journalisten, Historiker und Webdesigner zusammengetan und aus privaten Aufnahmen und Erinnerungen an den 11. September 2001 eine Sound-Skulptur geformt: Interviews, Polizeifunk, Nachrichten auf Anrufbeantwortern. Da ist zum Beispiel Romi Porrazzos Botschaft aus dem 60. Stock des Nordturms. Um 8.48 Uhr spricht er seiner Frau aufs Band: Es habe eine Explosion gegeben und nun sei alles auf der Flucht. Zu hören sind auch Geräusche auf den Straßen. Etwa das Glockenläuten von St. Luke´s Church mit dem Heulen der Sirenen im Hintergrund. Oder das Getrappel der Massen, die über die Manhattan Bridge Richtung Brooklyn flüchten, weg von den Türmen.
„Sonic Memorial Project“ ist ein offenes Archiv, jeder kann seinen Beitrag hochladen. Viele New Yorker haben im Nachhinein Gedichte oder Musikstücke geschrieben. Aber die Sound-Skulptur reicht auch in die Vorvergangenheit zurück. 1982 rauscht der Fahrstuhl zum Observation Deck hinauf. Und im August 2001 schlagen die Schwingtüren an den Eingängen. Alltagsgeräusche aus der Zeit vor dem 11. September.
http://yadvashem.org
www.memoryloops.net/de#!/intro
www.sonicmemorial.org/sonic/public/index.html
www.mauthausen-memorial.at/index_open.php
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