Soll man, statt die Meere zu überfischen, vermehrt auf Fischzucht setzen? Doch die Aquakultur ist keineswegs nachhaltig per se. In Hamburg werden deshalb alternative Zuchtverfahren erforscht.
Ein Platschen ist zu hören. Drei Karpfen strecken ihre eigenwilligen Barteln aus dem Versuchsbecken. Eigentlich stochern sie damit im Schlamm des Teichs nach Würmern und Insektenlarven. Aber in der Aquakulturanlage von Ahrensburg werden den Karpfen dunkelbraune Pellets als Nahrung serviert.
Der Ernährung von Zuchtfischen gilt das wissenschaftliche Interesse des Instituts für Fischereiökologie, das in einem umgebauten Gewächshaus nordöstlich von Hamburg seinen Sitz hat. Der Karpfen zum Beispiel ist genau genommen kein Vegetarier, erklärt Ulfert Focken, einer der Biologen des Instituts. Im Teich, seinem eigentlichen Lebensraum, wachsen schließlich keine Kartoffeln, sondern kleine Tierchen. Weil der Karpfen aber nicht zu den typischen Räubern wie Lachs oder Forelle zählt, kann er ohne oder mit wenig Fischmehl oder Fischöl gezüchtet werden.
Jedes Jahr holt der Mensch 90 Millionen Tonnen Fisch aus dem Meer. Rund 35 Millionen Tonnen werden zu Fischmehl und Fischöl verarbeitet. Inzwischen geht der Großteil davon an Aquakulturen, deren Zahl Jahr für Jahr steigt. Kein Wunder, denn aus den Meeren ist nicht mehr viel zu holen. Nach dem Weltfischereibericht der FAO waren im Jahr 2008 etwa 32 Prozent der Fischgründe auf der Erde überfischt. Die Bestände könnten bis 2050 sogar so weit geschrumpft sein, dass sich Fischerei nicht mehr loht. In Ostkanada zum Beispiel wird schon seit den 1990er Jahren kein Kabeljau mehr gefangen. Die Bestände im Nordwestatlantik können sich auch nicht erholen, weil ehemalige Beutetiere die freigewordene ökologische Nische besetzt haben und nun den jungen Kabeljau fressen, bevor er groß wird.
Unser Hunger nach Fisch muss immer mehr durch Zuchtprodukte gestillt werden. Heute schon stammt weltweit jeder zweite Fisch, den wir essen, aus Aquakultur. Zwar machen Nicht-Räuber wie der Karpfen immer noch die Masse aus, erklärt Focken, aber: „Wer isst bei uns noch Karpfen?“ In westlichen Ländern werden vor allem karnivore Arten verlangt, räuberische Fische wie Dorade oder Wolfsbarsch. Diese brauchen auch im Käfig sehr viel tierisches Protein, um ordentlich zu wachsen. Eine Zuchtforelle verputzt mindestens dreimal so viel Fisch, wie sie selber später auf den Teller bringt, ein Zuchtlachs mindestens viermal so viel. Ein Thunfisch aus Käfigmast hat sogar das Zehn- bis Zwanzigfache seines Eigengewichts vertilgt, bevor er geschlachtet wird.
Wissenschaftler sprechen von der „fish in fish out“-Rate. Es wird geschätzt, dass diese Rate weltweit für die Aquakultur bei einem Mittelwert von 0,7 liegt: Es kommt also im Schnitt mehr Fisch heraus, als hineingegangen ist – zumindest im Moment noch. Der westliche Konsumstil breitet sich nämlich auch in Ländern aus, in denen räuberische Fische eigentlich nicht auf dem Speiseplan stehen. Focken: „In China oder Vietnam gehört zu einem gehobenem Essen inzwischen der Lachs. Obwohl er da gar nicht hingehört.“
Ohne Fischmehl zum Schlachtgewicht
Bei den Regenbogenforellen ist es merklich kühler. So mögen es die Fluss- und Seenfische mit der schwarzen Punktierung. Kescher hängen an Wasserrohren, die kreuz und quer verlaufen. Sie führen zu grünen Bottichen, in denen es munter sprudelt und spritzt. An den Rändern der Bottiche baumeln orangefarbene Plastikeimer mit Futter, besonderem Futter: Es besteht aus Weizengluten und synthetischen Aminosäuren, enthält also nicht ein einziges Gramm Fischmehl. Aus der Regenbogenforelle, einer typischen Räuberin, soll nämlich eine Vegetarierin werden.
Den synthetischen Aminosäuren kommt dabei eine spezielle Funktion zu. Proteine bestehen aus vielen aneinandergehängten Aminosäuren. Zehn davon ? unter anderem Methionin und Lysin ? müssen Menschen und die meisten Tiere mit der Nahrung aufnehmen. In der Regel enthält pflanzliches Protein aber weniger Methionin und Lysin als tierisches. Deswegen werden diese Aminosäuren dem Fischfutter zugesetzt.
Es scheint den Forellen zu schmecken: Sie wachsen fast genauso schnell wie sonst auch. Der wichtigste Zuchtfisch in Deutschland, in jedem Tiefkühlregal zu finden, kann also ganz ohne Fischmehl bis zu seinem Schlachtgewicht gebracht werden. „Damit haben wir den biologisch machbaren Weg gezeigt“, meint Focken. Jetzt gelte es, die vegetarische Fütterung in industriellem Maßstab aufzubauen.
Experiment mit Jatropha
Der Forscher setzt seinen Rundgang fort, vorbei an Bottichen, in denen alte Bekannte aus der Nordsee wie Pfannkuchen übereinander liegen. Focken nimmt sich einen Kescher und hebt einen zappelnden Steinbutt heraus. Für den Plattfisch, dessen Augen auf der linken Seite sitzen, muss der Konsument noch richtig viel Geld hinlegen. Und er ist schwierig zu züchten. Der Forscher erklärt, was er mit dem Steinbutt vorhat: „Wir könnten ihn in den Nordseewindparks züchten. Der Raum zwischen den Windrädern ist für die Fischerei nicht nutzbar. Wir nehmen also niemandem etwas weg.“
Die Ahrensburger Forschungsanlage beschäftigt sich nicht nur mit einheimischen Zuchtfischen, sie verfügt auch über eine „Tropenabteilung“. Hier sind die von einem Stahlkorsett gehaltenen Glaskästen kleiner als so manches Aquarium, das die Leute in ihr Wohnzimmer stellen. Drinnen herrscht zähflüssiger Verkehr: Gedrungen gebaute Tilapien mit Stachelstrahlen in den Flossen und senkrechten dunklen Streifen auf dem Schwanz schweben heran, schauen einen Moment aus dem Fenster und weichen den nachrückenden Fischen. „Die Fische sind jetzt ein halbes Jahr alt“, erklärt Focken. „Wären sie auf Wachstum gefüttert, würden sie nicht mehr hineinpassen.“
Tilapien gehören in tropischen Ländern zu den wichtigsten Zuchtarten. Ein Fisch mit wenig Gräten und festem Fleisch, der sich auch – mit Thymian, Rosmarin, Zitrone und Pfeffer gewürzt – auf dem Grill zubereiten lässt. In der Natur ernähren sich Tilapien hauptsächlich von Algen, die sie aus dem Wasser herausfiltern. Keine Räuber also. Dennoch werden sie in Zuchten mit Fischmehl und Fischöl gefüttert, damit sie schneller wachsen. Was zusätzlichen Druck auf die Wildfischbestände ausübt.
Auch die Tilapien bekommen in Ahrensburg ungewohntes Essen vorgesetzt. Reines Weizengluten haben sie verschmäht, aber dafür sind sie beim Jatropha weniger wählerisch. Aus der tropischen Pflanze wird Biodiesel hergestellt, der Rückstand, der sogenannte Presskuchen, enthält beachtliche 60 Prozent Protein – fast so viel wie Fischmehl. Focken hat entfettetes und entgiftetes Jatrophakernmehl aus Indien und Madagaskar kommen und zusammen mit Weizenmehl, Sonnenblumenöl, Vitaminen und Mineralien zu Pellets verarbeiten lassen.
Der Wissenschaftler öffnet die Tür zu einem schmalen Seitenraum. Dort stehen oben offene Glaskästen in einer Reihe: Tilapien in Einzelhaltung, seit sieben Wochen im Fütterungsversuch, keine größer als der kleine Finger. Ihre Tagesration ist in durchsichtige Plastikbehälter mit weißem Deckel gefüllt. An der Nummerierung ist der Jatropha-Anteil des Futters zu erkennen. Die braunen, mit Fischmehl aufgepeppten Pillen kommen gut an: „Wir können 50 Prozent des Fischmehls durch Jatropha ersetzen, ohne dass die Fische langsamer wachsen. Diesen Prozentsatz wollen wir noch steigern.“
Focken verfolgt dabei einen Gedanken. Die Fische sollen in tropischen Ländern, wie Indien, Ägypten oder Myanmar (Birma), auf den lokalen Markt kommen. In diesen Ländern wird Jatropha als Energiepflanze angebaut, und es herrscht Proteinmangel. Der mit Jatrophakernmehl gefütterte Tilapia soll helfen, diesen Mangel zu beheben.
Weniger Fisch essen
Aquakulturen schaden der Umwelt, besonders wenn die Netzkäfige vor der Küste aufgestellt werden. Denn dann gelangen Exkremente oder Rückstände von Medikamenten ins Meer. Dieser Gefahr kann am ehesten durch geschlossene Kreislaufanlagen an Land begegnet werden. Für Aquakultur spricht, dass sie effizienter als Fischerei ist. Ein Wildlachs frisst mehr Fisch als sein Artgenosse aus Aquakulturen. Dennoch: Momentan werden Aquakulturen so eingesetzt, dass sie die Überfischung der Meere nicht verlangsamen, sondern beschleunigen, sagt Focken. Nur wenn Fischzuchten mit bedeutend weniger Fischmehl auskämen, würden sie Druck von den Wildbeständen nehmen.
Raubfische zu Vegetariern zu machen, ist da nur ein Weg. Darüber hinaus sollte der Fischanteil in ihrem Futter ganz aus verarbeiteten Fischabfällen bestehen. Wenn nur noch Filets verkauft werden, dann könnte der Rest des Fisches – immerhin bis zu zwei Drittel seines Gewichts – in die Wiederverwertung gehen, statt im privaten Abfall zu landen. Vor allem aber, betont der Forscher, muss der Verbraucher umdenken: „Wir dürfen einfach nicht so viel Fisch essen. Egal, ob dieser aus dem Meer oder aus der Zucht stammt.“
Was allerdings nur für die industrialisierten Länder gilt. In Deutschland werden pro Kopf und Tag etwa vier Gramm Eiweiß aus Fisch und Meeresfrüchten verzehrt. In Bangladesh zwar auch – aber dort sichern diese vier Gramm den Großteil des Bedarfs an tierischem Protein. “ Was wir nebenbei essen, ist in Bangladesh die Lebensgrundlage“, macht Focken klar.