DEMENZ: Vergiss mein nicht

Lange Wartelisten für einen Pflegeplatz und wenig differenzierte Strukturen für die verschiedenen Varianten der Demenz, so die Kritik von Vertretern der Alzheimer-Organisation und des Ettelbrücker Vormundschaftdienstes.

„Wichtig ist, die betroffene Person, da abzuholen, wo sie sich befindet.“

„Mutter, wohin gehst du?“, fragt der Sohn besorgt. „Ich weiß es nicht“, antwortet die alte Frau mit dem weißen Haar und schlurft davon. „Vergiss mein nicht“, lautet der Titel des seit Anfang des Jahres in Deutschland angelaufenen berührenden Films von David Sieveking. Darin dokumentiert der deutsche Filmemacher, wie die dementielle Erkrankung seiner Mutter die Familie vor enorme Herausforderungen stellt, aber zugleich auch einen neuen Anfang entstehen lässt: Denn die Krankheit wird zum Ausgangspunkt einer Erinnerungsarbeit, in der mit Hilfe von Bildern und Erzählungen die Vergangenheit und die latenten Konflikte seiner Familie rekonstruiert werden. Die Diagnose Alzheimer bedeutet keinen Endpunkt, so der Autor in einem Interview. Wenn die erste Phase des Schocks und der Trauer überwunden ist, kann noch eine wunderbare Zeit kommen – gerade, wenn das „Vergessen des Vergessens“ eintritt.

In Luxemburg wurde im Jahre 2010 der Prozentsatz der über 65-Jährigen, die an einer demenziellen Erkrankung litten, auf 8,8 Prozent geschätzt. Dieser Prozentsatz erhöht sich dramatisch mit zunehmendem Alter: in der Alterskategorie 85 aufwärts sind es bereits 33 Prozent. Allgemein sagen Forscher eine rasante Demenz-Zunahme voraus: Sie gehen davon aus, dass sich die Zahl der Alz-heimer-Erkrankten in Europa bis 2050 verdreifachen wird. Als Folge davon werden in Zukunft enorme Kosten auf die Pflegeversicherung zukommen.

Bisher werden rund zwei Drittel der Betroffenen zu Hause gepflegt, die Hauptlast der Pflege liegt also bei den Familien. Viele dieser Angehörigen sind, nach Jahren aufreibender Pflege, erschöpft und ausgebrannt. Bei anderen kollidieren die Anforderungen der Pflege mit ihrer Berufsarbeit. Es besteht daher dringender Handlungsbedarf: Die ambulanten Dienste müssen massiv ausgebaut werden und die Anzahl der Plätze in den Pflegestationen erhöht werden. Der Umgang mit demenziell Erkrankten kann sich hierin jedoch nicht erschöpfen. Eine der Hauptfragen lautet: Was ist zu tun, um dementen Personen weiter eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen? Betroffene und ihre Familien brauchen eine Perspektive. Es geht also auch grundsätzlich darum, dass demente Menschen Persönlichkeiten mit eigenen Rechten bleiben können. Eine Diskussion, die bisher noch kaum geführt wird.

Während Premierminister Jean-Claude Juncker in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation Änderungen bei der Pflegeversicherung ankündigte und erklärte: „Wir müssen die Kosten in den Griff bekommen“, erwähnte er den „Plan d’action national maladies démentielles“, in dem nicht nur die Qualität der Patientenübernahme verbessert, sondern auch nationale Diagnose-Standards erarbeitet werden sollen.

Während dieser im Conseil de gouvernement vom 13. März von den anwesenden Ministern angenommen wurde, weichen sowohl Familien- als auch Gesundheitsminsterium Fragen nach dem Inhalt dieses Plans aus: Details sollen in einer Pressekonferenz erläutert werden, so die Antwort. Die Ministerien bewegen sich somit ganz auf der Linie des Premiers, der einmal äußerte: „Ich bin dagegen, dass Denkprozesse der Verwaltungen und der Regierung öffentlich gemacht werden, wenn sie noch nicht zu einem konklusiven Ende gekommen sind.“ Noch immer scheint in den hiesigen Ministerien nicht klar zu sein, dass sie eigentlich im Auftrag der BürgerInnen handeln und infolgedessen auch die Pflicht haben, Auskunft zu geben.

Während die Patiente Vertriedung bei der Ausarbeitung des Demenzplanes übergangen wurde, war ein anderer Akteur naturgemäß stark eingebunden, nämlich die „Association Luxembourg Alzheimer“ (Ala), die sich seit nunmehr 25 Jahren um die Belange von demenzkranken Menschen kümmert.

Teilhabe dementer Menschen am Alltag

Die Ala verdankt ihre Gründung im Jahr 1987 einer Initiative von Paul Diederich und Jeannot Krecké, die mit ihr auf eine Notlage reagierten: Es gab keine Tagesbetreuung für betroffene PatientInnen. „Wurde die Diagnose Alzheimer gestellt, waren damals die Betroffenen im Grunde auf sich alleine gestellt“, erinnert sich Alain Tapp, Sozialarbeiter, der seit 22 Jahren bei der Ala aktiv ist und auch nichts über den Demenzplan verraten will. „Der einzige Risikofaktor, der momentan als sicher gilt, ist das Alter. Die Lebenserwartung ist in den letzten 30 Jahren rapide gestiegen. Wir haben immer mehr ältere Leute in unserer Gesellschaft“, so Tapp. Cholesterol und Arterienverkalkung würden ebenfalls als Risikofaktoren genannt. Erste Empfehlung bei demenziellen Symptomen sei immer, einen Neurologen aufzusuchen, um die Ursachen der Erkrankung abzuklären, denn es gebe auch sekundäre Demenzformen, die zur Vergesslichkeit führen, Depressionen und Medikamentenmissbrauch zum Beispiel, die jedoch behoben werden könnten.

Während die Ala am Anfang nur eine Telefonberatung anbot, wurden ab 1989 die ersten Foyers eröffnet. Nach der Einführung der Pflegeversicherung 1999 konnte in größerem Umfang Hifestellung beantragt werden. Auch standen mehr staatliche Mittel zur Verfügung, so dass die Ala in den vergangenen Jahren insgesamt sechs Tagesstätten eröffnen konnte – in Bonneweg, Esch/Alzette, Düdelingen, Rümelingen, Dommeldingen und Dahl. 2007 wurde zudem das Wohn- und Pflegeheim für 160 PatientInnen in Erpeldingen in Betrieb genommen.

„Dennoch sind die Wartelisten, vor allem in den Wohn- und Pflegeheimen, nicht mehr zu bewältigen“, so Tapp. Über 300 Personen werden darauf aufgeführt. Beansprucht werden jedoch auch die Dienstleistungen der Ala von der Bibliothek über den psychosozialen Dienst, der Familien und Betroffenen bei verwaltungstechnischen Fragen hilft. So wird, wenn eine Person komplett von einer anderen Person abhängig ist und ihre finanziellen oder administrativen Angelegenheiten nicht mehr bewältigen kann, meist eine Vormundschaft eingerichtet. „Wir raten den Familien eher zur Vormundschaft, um Missbräuchen vorzubeugen“, so Tapp. Weiter bietet die Ala einen Familienkurs zur Symptomatik der Krankheit. „Ein wichtiger Aspekt im Kurs ist auch die Frage, was jemand für sich selbst tun kann, um die Betreuung der dementen Person besser zu ertragen“, erklärt Claudia Ceccato, Psychologin der Ala. Letztlich sei eine Demenz-erkrankung immer sehr individuell. „Da gibt es keinen roten Faden. Für die Familien ist es daher wichtig zu wissen, wie sie mit einer akuten Situation umgehen sollen“, betont Ceccato. Etwa wenn Familienmitglieder auf der 24-Stunden-Helpline der Ala anrufen und berichten, dass der oder die Kranke um 2 Uhr nachts in der Küche steht und kocht. „Für die demenzkranke Person bedeutet diese Situation: Ich will uns etwas zu essen machen, warum störst du mich jetzt? Für den Angehörigen geht es darum, in solchen Situationen seine eigene Sichtweise zu wechseln und die Person einfach gewähren zu lassen – solange Gefahren ausgeschlossen sind“, erklärt Ceccato.

Wichtig sei: „die betroffene Person, da abzuholen, wo sie sich befindet“. Wenn eine demente Person ihre längst verstorbene Mutter besuchen will, dann sollte man nicht versuchen sie von diesem Glauben abzubringen, sondern ihr einfach zuhören und sie gegebenfalls neutralisieren, indem man etwa fragt, warum sie jetzt dahin will. „Durch Fragen bringt man die betroffene Person auch wieder stärker zur Reflexion“, so Ceccato.

Lange Wartelisten für Betreuungsplatz

Diese Prinzipien seien auch wichtig in den Tagesstätten und Pflegeheimen der Ala. „Wir arbeiten sehr viel mit der Biografie der Menschen, die wir in die tägliche Arbeit einbeziehen“, betont Ceccato. Für Betroffene komme es darauf an, einen immer gleichen Rhythmus zu haben, den sie von früher kennen: Alltagsaktivitäten wie kochen, den Tisch abräumen oder Servietten falten. Holzarbeiten seien wichtige Elemente für Personen, die ihr Leben lang eine Werkstatt besaßen. „Jede Person bekommt eine individuelle Betreuung“, erklärt die Psychologin. Wenn jemand nicht mehr in seinem Bett liegen will und immer wieder aufsteht, dann würden die Matratzen auf dem Boden so ausgerichtet, dass ein Sturz keine schweren Folgen hat und die Person auf dem Boden hin und her krabbeln kann.

Fixationen gebe es in den eigenen Institutionen nicht. „Wir entscheiden schon sehr viel über die Betroffenen, wann sie aufstehen, was sie anziehen oder essen sollen – das muss man sich immer wieder vor Augen führen und ihnen so viel Freiheiten wie möglich lassen“, so Tapp. Als professioneller Betreuer müsse man sich hier stets in Frage stellen. Auch die Frage der Medikation bei sogenannten nicht-einwilligungsfähigen Patienten sei heikel. Entsprechend der Pathologie kämen manchmal Beruhigungsmittel zum Einsatz. „Das sollte jedoch immer nur ein Übergang sein und keine Lösung darstellen“, so Tapp. Hier hätten auch Therapieformen zur Beruhigung ihren Platz, wie zum Beispiel das sogenannte Snoezelen.

Die größte Herausforderung der Zukunft sehen die beiden Mitarbeiter der Ala in der steigenden Zahl der Kranken. Diese Entwicklung führe unvermeidlich zu zusätzlichen Kosten. Aber auch über die Art der Strukturen müsse man sich Gedanken machen. „Wir sind in letzter Zeit mit sehr vielen verschiedenen Demenzformen konfrontiert, von Dementen mit Korsakov-Syndrom – einer Amnesie, die durch Alkoholmissbrauch hervorgerufen wird – bis zu Personen mit einer Psychose oder Schizophrenie plus Demenz.“ Und obwohl es – etwa im Centre Hospitalier Emile Mayrisch in Düdelingen, der Zitha-Klinik und im Steinforter Hopital Intercommunal – Geriatrieabteilungen gibt, fehle es an spezialisierten Strukturen für diese Personen. „Diese Krankheitsbilder drücken sich unterschiedlich aus, zum Teil sind die Betroffenen viel jünger und brauchen somit eine ganz andere Betreuung“, folgert Ceccato.

Auch Mike Schaltz vom „Service d’accompagnement tutélaire“ in Ettelbrück sieht hier Handlungsbedarf. Von den rund 300 Dossiers, die der Service verwaltet, betreffen rund 15 Prozent Personen mit einer Demenz.

Korsakov-Patienten fallen durchs Netz der Pflegeversicherung

„Pflegeversicherungsmäßig fallen Korsakov-Patienten, von denen es sehr viele in der Orangerie 2 in Ettelbrück gibt, durchs Netz“, stellt Schaltz fest. Die Leistungen der Pflegeversicherung orientierten sich nach wie vor stärker an körperlichen Gebrechen als an psychischen. „Bei dementen Personen ist das Problem jedoch – gleichgültig, ob es sich um Alzheimer oder Korsakov handelt – dass sie im Prinzip selbst essen und sich waschen können, es aber nicht machen.“ Das habe zur Folge, dass dieser Personenkreis bei der Pflegeversicherung schlecht berechnet wird, obwohl die Betroffenen oft eine 24 Stunden-Betreuung benötigten. Da zudem die Alters- und Pflegeheime nach den Kriterien der Pflegeversicherung vorgehen, damit ihre Kasse stimmt, hätten körperlich beeinträchtigte Personen, die nur im Rollstuhl von A nach B gefahren werden müssten, bessere Chancen als jemand, der verwirrt, jedoch durchaus mobil ist, und bei dem Fluchtgefahr besteht.

„Die Rehabilitation ist zum Teil komplett kontraproduktiv zur Pflegeversicherung“, moniert Schaltz. So würden Korsakov-Demente zum Teil mit sehr viel Training dahin gebracht, wieder alleine zu essen und sich waschen zu können. Dies führe jedoch zu einem Problem in der Pflegeversicherung, da dadurch der Score dieser Patienten im Leistungsbezug abnimmt. „Je besser sich die Betroffenen erholen – und die Krankheit kann ja auch in die Länge gezogen werden – umso weniger Anspruch hat die Person auf einen Platz in einem Altersheim, da die Pflegeversicherung weniger bezahlt“, so Schaltz. Offiziell hätten die Häuser zwar Wartelisten, doch wenn ein Kunde B mehr Pflegeleistungen von der Pflegeversicherung bezieht als ein Kunde A, dann finde sich dieser sehr schnell vor A auf der Liste. Marktwirtschaftlich sei das nur logisch, gerade weil immer mehr Altersheime mit ihrem qualifizierten Personal heute schon am Limit planen.

Hier sei auch problematisch, dass verschiedene Alters- und Pflegeheime ein Mindesteintrittsalter vorschreiben und sich ihre Klienten anhand der Matricule aussuchen. Ein 53-jähriger Korsakov-Patient habe unter diesen Umständen keine Chance. „Es gibt einfach nicht genug Plätze im Pflegebereich, und das bringt mit sich, dass sich jeder zuerst die Besten aussucht“, ärgert sich Schaltz. Eine weitere Folge davon sei, dass immer mehr Betroffene in Krankenhäusern landen und dann, da es keine Ausweichmöglichkeiten gibt, das sanitäre System „blockieren“.

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Siehe auch Dossier | Demenz


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