POP: Zwei flogen übers Kuckucksnest

Es ist nicht CocoRosie erster Auftritt im beschaulichen Großherzogtum. Trotzdem kann man sich bei jedem Auftritt der Schwestern Sierra und Bianca Casady auf Überraschungen gefasst machen.

Exzentrikerinnen aus Leidenschaft: Die Casady-Schwestern.

Die Krux des Musikjournalisten ist es, eine Band wie CocoRosie zu klassifizieren. Eingebürgert hat sich in diesem Zusammenhang die Bezeichnung Freak Folk. Tradition trifft auf Innovation und wird vom künstlerischen Selbstverständnis der Casady-Schwestern in ein komplett neues Werk verarbeitet.

Sierra ist ausgebildete Opernsängerin und stellt mit ihrem klassisch-klaren Gesang den Gegenpol zu Biancas verzerrtem Hauchen, das eher an die isländische Sängerin Björk denken lässt. Diese Kontraste finden sich auch in der Instrumentenwahl wieder. Neben klassischen Instrumenten wie Piano, Harfe oder Oboe werden Synthesizer, Kinderspielzeuge und andere technische Effekte verwendet. Auf traditionelle Songstrukturen aufbauende Lieder enthalten Hip-Hop-Beats und Beatboxing, das neben anderen Perkussionsinstrumenten die Lieder vorantreibt. Es sind emotionsgeladene Geschichten, die in epische Musiklandschaften eingebettet sind.

CocoRosies Musik aber ist nur eine Ausdrucksweise ihrer Kunst, die, wie auch die Songtexte, noch schräger ist, Tabus bricht und zum Nachdenken anregt. Da kann es schon einmal vorkommen, dass ein Song von seiner visuellen Darstellung überschattet wird. Wie im Video zur Single „Gallows“, in dem zwei Schwestern, deren gemeinsamer Liebhaber gehängt wird, Doppelselbstmord begehen. Oder im Video zu „Lemonade“, in der die Schwestern als Mädchen, junge und alte Frauen auftreten, die allesamt einen Bart tragen und so das gesellschaftliche Verständnis von Schönheit und Sexualität attackieren.

Zuweilen wird es gar noch abstruser, wie auf dem Albumcover von „Noah’s Ark“. In der Zeichnung, die aus Biancas Hand stammt, sind drei kopulierende Einhörner zu sehen, von denen eines sich übergibt. Fast wünschte man sich, „Einer flog übers Kuckucksnest“ würde mit den Casady-Schwestern in den Hauptrollen neu verfilmt – diese Version gäbe dem Original sicher eine völlig neue Wendung.

Am 27. Mai erscheint das fünfte Album, „Tales of a Grass Widow“, das patriarchalische Gesellschaftsstrukturen anprangert. Der Song „Child Bride“ zum Beispiel basiert auf dem Schicksal einer Fünfjährigen, die mit einem alten Mann verheiratet wird. Zusammen mit Anthony Hegarty von Anthony and the Johnsons, der von CocoRosie als Mentor oder „Großmutter“ angesehen wird, und auch auf dem neuen Album zu hören ist, haben sie das Projekt Future Feminism gegründet. Dabei geht es um einen Diskurs zur Neuentfachung des Feminismus und dem Aufbrechen patriarchalischer Strukturen. Sicherlich eine nicht einfache Aufgabe, aber auch eine, für die CocoRosie prädestiniert ist. Wer so mühelos Tabus brechen kann, sollte auch mit verkrusteten Gesellschaftsnormen kein Problem haben.

Um „Tales of a Grass Widow“ vorzustellen kommt CocoRosie nun nach Luxemburg. Im Schlepptau den isländischen Produzenten Valgeir Sigurðsson, der das Album mitproduziert hat und der auch schon für „The Adventures of Ghosthorse and Stillborn“ verantwortlich war. Wer nichts gegen einen Schuss Verrücktheit hat, sollte dieses Konzert nicht verpassen. Neben wunderschöner Musik und wundersamer Darstellungskunst wird es vor allem eins: unvorhersehbar.

Im Rockhal Club, am 30. Mai.


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