COURS UNIQUE IM PRIMAIRE: Denkfreiheit und Wahlfreiheit

Die geplante Einführung des Cours unique begeistert die VerfechterInnen der Praktischen Philosophie und bereitet den ReligionslehrerInnen in den Primärschulen Sorge. Sie fürchten um die Zukunft ihres Fachs … und bangen um die eigene Existenzgrundlage.

Jesus und die Kinder, Relief an der Volksschule in Seitenstetten, Niederösterreich. Ob der Gründer des Christentums wohl auch die Methoden des Philosophierens mit Kindern angewendet hat? (RELIEF: KUNIBERT ZINNER / FOTO: ANTON-KURT / CC BY-SA 3.0)

Esau war der Erstgeborene, Jakob der Klügere der beiden Zwillingsbrüder. Dass Jakob am Ende den Segen des Vaters erhielt, war nicht ganz fair, doch Gott sah, dass es gut war. So ähnlich steht es in der Bibel. Vielleicht wird diese Geschichte Katholiken und Katholikinnen trösten, wenn der erstgeborene Religionsunterricht durch den Cours unique, den einheitlichen Werteunterricht, ersetzt wird. Derzeit scheint aber die luxemburgische katholische Kirche, wie der biblische Esau, bis zum Äußersten gehen zu wollen, um sich einer solchen Veränderung zu widersetzen.

Am Erstgeburtsrecht des Religionsunterrichts kann kein Zweifel bestehen. Bereits im Mittelalter war die christliche Religion Teil der Ausbildung. In einigen Ländern, wie den USA oder Frankreich, wurde der konfessionelle Religionsunterricht jedoch schon vor langer Zeit aus den öffentlichen Schulen verbannt, in anderen dagegen gibt es immer noch eine Staatsreligion, die ihr Monopol bei der ethischen Erziehung innerhalb der Schule aufrechterhält. In Luxemburg wurde 1968 in den Sekundarschulen die „Morale laïque“ als Alternative zum katholischen Religionsunterricht eingeführt. Erst seit 1998 besteht auch in der Primärschule die Möglichkeit, statt „Instruction religieuse et morale“ das Fach „Education morale et sociale“ zu wählen.

Alpträume für KatechetInnen

„Das Fach wurde im Primaire lange Zeit stiefmütterlich behandelt“, sagt Rita Jeanty, pensionierte Philosophielehrerin und eine der treibenden Kräfte bei der Modernisierung des Fachs. „Doch seit 2008 gibt es klare Richtlinien und eine solide Fortbildung.“ Bei einem Fach, das mit zwei Stunden pro Woche auf dem Lehrplan steht, sei das „kunterbunte Allerlei“, das geherrscht habe, nicht zu verantworten gewesen. Dabei ist man vom bereits überarbeiteten Lehrplan der „Formation morale et sociale“ im Secondaire ausgegangen: „Im 5. und 6. Schuljahr wird mit dem Band 1 des Buchs ?Praktische Philosophie` gearbeitet, Band 2 steht dann im Lycée auf dem Programm.“ Im 1. und 2. Schuljahr gehe es darum, das Zusammenleben in der Vielfalt gezielt zu lernen – „ein Beitrag zum Bildungsauftrag der Schule“, wie es Jeanty formuliert.

Nicht weniger überzeugt von ihrem Fach ist die Religionslehrerin Patricia Braun. „Ich lehre das Fach seit fast 30 Jahren, und tue das immer noch gerne.“ Was sich in dieser Zeit geändert habe? „Als ich anfing, war ich in meiner Gemeinde die erste Laiin, vorher gab es nur Ordenschwestern.“ Sie habe sich nie als ?Katechetin` betrachtet, man lehre ganz andere Dinge als den Katechismus: „Ich, du, wir, da geht es um soziale Kompetenzen, darum, wie man sich in einem Streit verhält.“ Natürlich lege sie dabei Beispiele aus der Bibel zu Grunde, aber nicht nur. Angesichts der Debatte um den Cours unique ärgert sie sich darüber, dass ihr Fach in einem schlechten Licht dasteht. Und macht sich Sorgen, ob sie ihren Job behalten wird.

Das ist einer der Unterschiede zwischen den Auswirkungen eines Cours unique im Secondaire und im Primaire. Die verbeamteten ReligionslehrerInnen im Lycée fühlen sich unabhängig von der Kirche, doch das Statut der ReligionslehrerInnen im Primaire ist viel unsicherer. Obwohl ihre Ausbildung zumindest formal aufgewertet wurde – das Institut für Religionspädagogik vergibt mittlerweile ein Bachelor-Diplom – könnten sie sich irgendwann als qualifizierte Arbeitslose wiederfinden. Andererseits herrscht bei beiden bestehenden Fächern ein chronischer Fachkräftemangel – noch immer werden zahlreiche Stunden von Lehrbeauftragten übernommen. Es ist unklar, woher die Lehrkräfte für einen flächendeckenden Cours unique kommen sollen, denn das neue Ausbildungsprogramm für EthiklehrerInnen gibt es erst seit ein paar Jahren. Man erzählt sich allerdings hinter vorgehaltener Hand, dass so mancheR ReligionslehrerIn diese Fortbildung besucht hat, um die eigene Zukunft abzusichern.

Statt der QuereinsteigerInnen und der LehrerInnen mit Basisausbildung wünscht sich Rita Jeanty, dass ihr Fach, das sie „Philosophieren mit Kindern“ nennt, von Personen unterrichtet wird, die eine Ausbildung oder Zusatzausbildung für dieses Fach haben. Klar ist, dass bisher die Qualität sowohl des Religions- als auch des Ethikkurses zu stark von der Persönlichkeit der Pädagogen abhängt. Und für beide Fächer scheint es Negativbeispiele zu geben, welche man hofft, durch eine gute Ausbildung zu beseitigen. Für Jeanty ist die Wissenschaftlichkeit der von ihr vertretenen Didaktik sehr wichtig: „Unsere Lehrmethoden gründen auf Erkenntnissen der Lernwissenschaft und der Neurobiologie“, sagt sie, „wobei wir auf Erfahrungen im Ausland zurückgreifen konnten.“

Über Werte diskutieren

Jeanty unterstreicht, dass dabei keine simple „Wertevermittlung“ stattfinde, sondern man lerne, über Werte kritisch nachzudenken und mit anderen zu diskutieren. „Wenn ein Kind sich für die Todesstrafe ausspricht, muss es das begründen können. Aber am Ende müsse man als Lehrer auch einen Dissens aushalten können.“ Die Religion hat im Kurs ebenfalls ihren Platz: „Kinder stellen sich metaphysische Fragen, deshalb werden auch die Antworten der Religionen dargelegt.“ In den Büchern finden sich Erklärungen zu Weihnachtskrippen und Nikolaus Cusanus, zu Hildegard von Bingen und Konfuzius. „Aber es wird nicht gebetet“, fügt Jeanty hinzu „und wir lehren die Evolutionstheorie – weil es einen Unterschied zwischen Wissen und Glauben gibt.“

Über für die Kirche unerfreuliche Themen wird im Religionsunterricht im Primaire – anders als im Secondaire (woxx 1250) – wenig geredet. Die Haltung der Kirche gegenüber Frauen stehe nicht auf dem Lehrplan, sagt Patricia Braun, aber: „Wir sind offen für solche Fragen seitens der Kinder.“ Sie habe nie das Gefühl gehabt, dass die Kirche ihr in solchen sensiblen Fragen einen Maulkorb aufgezwungen habe, so die Religionslehrerin. Auch beim Thema Homosexualität nicht? „Diese Menschen dürfen ihre Sexualität ausleben, es ist nicht an mir, darüber zu urteilen.“ Das vertrete ich auch vor der Schulklasse, wenn Kinder Dinge wie „Homosexuell, igitt!“ sagen. Was genau ihre Position zur Vereinbarkeit von katholischer Lehre und Homosexualität ist, will sie aber nicht zu Protokoll geben. „Das wird eher im Sekundarunterricht diskutiert, wenn die Kinder schon etwas reifer sind.“

Klar ist, dass sich der Religionsunterricht in den vergangenen Jahrzehnten in Richtung eines neutralen Werteunterrichts entwickelt hat. Sogar das „Philosophieren mit Kindern“-Buch könne laut Lehrplan genutzt werden, sagt Braun undnd wundert sich: „Im Ethikkurs gibt es Inhalte, die ich ganz schön religiös finde.“ Es bleibe der Unterschied, dass im Religionsunterricht bei allen Themen Gott und die Position/Stellung der Religionen eine Rolle spiele.

Wie viel Religion?

Fragt man Rita Jeanty nach den Unterschieden, so verweist sie auf die Règlements von 1991, in denen für die einen die Evangelien, für die anderen die Menschenrechte maßgeblich sind. Ansonsten redet sie am liebsten über das eigene Fach: Wie es zu einer emotionalen Stabilisierung der schwächsten Schüler beitrage, wie Lehrkräfte nach der Fortbildung die interaktiven Lehrmethoden auch in anderen Fächern nutzten. Man bekommt den Eindruck, sie habe mit der neuen Pädagogik für ein junges Fach den Stein der Weisen entdeckt. Was – angesichts der Misere von sozialer Selektion, Frontalunterricht und dem Fokus auf reiner Wissensvermittlung in Luxemburgs Schulen – vielleicht wirklich der Fall ist.

Ohne dass sie es offen sagt, ist für sie der neu organisierte Ethikunterricht, in der Primär- wie in der Sekundarschule, eigentlich die Basis für den geplanten Cours unique, ja, er wurde möglicherweise sogar im Hinblick darauf konzipiert. Ob man mehr Religion in dieses einheitliche Fach aufnehmen müsste? Den Vorschlag, ReligionslehrerInnen mehrerer Konfessionen nacheinander in die Klassen einzuladen, lehnt Jeanty jedenfalls ab: „In Berlin hat das zum Streit über die Stundenzahl und sogar zu Prozessen geführt.“ Außerdem seien die Religionen in den Ethik-Lehrbüchern nicht schlecht vertreten. Sie hält es für falsch, Religion grundsätzlich außen vor zu lassen: „Das ist auch eine Form von Fanatismus.“ Auch gegenüber den Lehrkräften des anderen Fachs gibt sich Jeanty – anders als viele LaizistInnen – betont tolerant: Religionslehrer seien im Prinzip fähig, das Fach Praktische Philosophie zu lehren. Aber: „Niemand sollte automatisch, also ohne Fortbildung, für dieses Fach zugelassen werden.“

Patricia Braun könnte sich durchaus vorstellen, den Cours unique zu übernehmen, „wenn dessen Werte mit meinem Gewissen vereinbar sind“. Auch einer Fortbildung verschließt sie sich nicht, betont aber, dass sie eine gute Ausbildung habe, und sich wohl schnell in den neuen Lehrplan einarbeiten könnte. Religion außerhalb der Schule zu lehren, wie in den amerikanischen Sonntagsschulen, stellt keine Option für sie dar: „Das ist Sache der Pfarreien, ich möchte im Rahmen schulischer Strukturen lehren.“ Ihrer Idealvorstellung entspricht der Cours unique allerdings nicht: „In anderen Ländern hat man sich dafür entschieden, mehrere Religionen und die Ethik parallel anzubieten, das gefällt mir besser.“ Deswegen wollten die Religionslehrer, auch wenn die meisten „offen für neue Wege“ seien, ihr Fach erst einmal verteidigen. „Wir glauben an das, was wir machen.“

In der Bibel kommt es zu einem Happy End. Jakob bittet Esau um Verzeihung und schenkt ihm 220 Ziegen, 220 Schafe, 30 Kamele et cetera. So versöhnen sich die beiden … Jahrzehnte später.

RICHTIGSTELLUNG:
(RK) – Missverständnisse rief die Formulierung „Statt der QuereinsteigerInnen und der LehrerInnen mit Basisausbildung wünscht sich Rita Jeanty als EthiklehrerInnen ausgebildetes Personal für ihr Fach“ hervor. Der Satz wurde abgeändert in: „… dass ihr Fach (…) von Personen unterrichtet wird, die eine Ausbildung oder Zusatzausbildung für dieses Fach haben.“ Rita Jeanty wollte keineswegs ausdrücken, dass nur spezielle EthiklehrerInnen – und nicht die „Generalisten“-LehrerInnen – das Fach unterrichten sollen. Aber Letztere sollten, ebenso wie andere hierfür eingestellte Personen, eine spezielle Ausbildung absolvieren.

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