Werteunterricht: Wer hat’s erfunden?

Ein neutraler „Werteunterricht“ soll ab dem Schuljahr 2016/17 den bislang getrennten Religions- und Ethikunterricht ersetzen. Bis dahin wartet noch ein hartes Stück Arbeit vor allem auf das Bildungsministerium.

Aus welchen Zutaten der Werteunterricht bestehen soll ist bisher unklar. (Marc Wathieu Flickr)

Bald schon läuten die Schulglocken zum letzten Mal für den Religions- und Ethikunterricht. Religiöse und weltoffene Lebensanschauungen sowie altersgerechte Diskussionen über die Lebensfragen der SchülerInnen sollen, laut Bildungsministerium, ab dann auf dem Unterrichtsplan stehen. Diverse Modelle standen für diesen neutralen „Werteunterricht“ Pate. Zunächst waren dies Pläne aus Québec, der Romandie, dem Schweizer Kanton Zürich und den deutschen Bundesländern Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Sie wurden jedoch vom federführenden Bildungssministerium für ungeeignet befunden. Es war wohl die der Schweiz nachgesagte Neutralität, welche die luxemburgischen Verantwortlichen nun dazu bewogen hat, mit dem noch unerprobten Lehrplan 21 (LP 21) ein weiteres Schweizer Modell zur endgültigen Vorlage zu wählen. 2007 hatten die Vorarbeiten zu dem Projekt begonnen, das den gesamten Lehrplan in den 21 deutschsprachigen Schweizer Kantonen harmonisieren sollte. Acht Jahre später ist das Unterrichtsmodell immer noch nicht in den Schulen umgesetzt. Trotzdem will Luxemburg sich die Vorarbeiten der Schweiz zunutze machen.

Im Fach „Ethik, Religionen, Gemeinschaft“ (ERG) kommt Religion als nicht-konfessioneller Untersuchungsgegenstand vor. Die Beschäftigung mit unterschiedlichen Religionen soll lediglich aus einem neutralen Blickwinkel geschehen. Im Fachbereich Ethik beschäftigen sich die SchülerInnen mit existentiellen Fragen, wie zum Beispiel dem Tod und werden mit gesellschaftlichen Werten vertraut gemacht.

Von Vordenkern lernen

Der ideengeschichtliche Aspekt ethischer Fragen wird allerdings fast gar nicht behandelt. Das ist deutlich anders als beim aktuellen luxemburgischen Ethikunterricht der Sekundarstufe, wo neben anderen Themen eine solche Auseinandersetzung durchaus stattfindet. Die SchülerInnen befassen sich dort mit unterschiedlichen Philosophen und lernen deren Stellung zu bestimmten Problemen kennen. Im Kompetenzheft des ERG dagegen ist eine solche Auseinandersetzung nicht vorgesehen. Zwar sollen die SchülerInnen anhand von „einfachen Texten aus verschiedenen Zeiten und Kulturen philosophische Fragen und Überlegungen entdecken“ lernen, doch sollen lediglich „Anektdoten, Erzählungen und Sinnsprüche“ für eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung genutzt werden. Der dritte Teilbereich „Gemeinschaft“ soll den SchülerInnen ihren Platz in der Gemeinschaft erklären und ihnen zeigen, wie ein respektvolles Miteinander in einer pluralistischen Gesellschaft möglich ist.

Die verschiedenen Lernziele des LP 21 werden durch von den SchülerInnen zu erwerbende Kompetenzen definiert. Eine dieser Fähigkeiten ist etwa die, in Alltagssituationen religiöse Symbole zu identifizieren. Wie dieses Ziel erreicht wird, ist allerdings nicht vorgegeben. Bei der Erstellung des Unterrichtsplans wird jedem Kanton ein gewisser Spielraum eingeräumt. Ein „Überwältigungsverbot“ untersagt dem Lehrpersonal, den SchülerInnen ihre eigene Meinung aufzuzwingen. Ob ein neutraler Blick auf die Religionen gewährleistet ist, lässt sich ohne konkretes Lehrmaterial nur schwer beurteilen. In der Schweiz wehren sich allerdings viele religiöse Gemeinschaften dagegen, dass sämtliche Religionen gleichberechtigt behandelt werden. Sicherlich nicht ohne Ursache spricht sich unter anderem die Schweizer Bischofskonferenz für eine gründliche Überarbeitung des Fachs aus. Eine Akzentuierung der judeo-christlichen Sichtweise sei notwendig, um den SchülerInnen ein Verständnis für die kulturelle Prägung der Schweiz zu vermitteln.

Der Lehrplan wurde 2014 freigegeben, sodass es nun an den einzelnen Kantonen liegt, ihn einzuführen. Der Kanton Bern entschloss sich 2015 als einer der ersten dazu und ist seitdem mit den Vorbereitungsarbeiten befasst. Unterrichtsmaterial gibt es noch nicht, auch muss das Lehrpersonal noch umgeschult werden. Die vollständige Einführung des Unterrichtsmodells an allen Schulen sieht der Kanton erst für 2022 vor. Verglichen hiermit ist das Zeitfenster, das die luxemburgische Regierung dem Bildungsministerium für die Einführung des neutralen „Werteunterrichts“ eingeräumt hat, also ziemlich eng. Minister Meisch muss nun einen Sprint einlegen, um damit bereits im Schuljahr 2016/17 die Ziellinie zu überschreiten.

Viel zu tun – wenig Zeit

Auf die Koordinatoren des Projekts im Bildungsministerium Jean-Marie Kieffer und Patrick Bichel, wartet somit ein hartes Stück Arbeit. Kieffer betont, dass das Schweizer Modell nicht einfach übernommen werden, sondern lediglich als Anhaltspunkt dienen soll. „Der Unterricht soll den luxemburgischen Bedürfnissen angepasst werden“, so der ehemalige Sekundarlehrer, der neben Religion auch Musik unterrichtete. Doch wie viel Eigenarbeit ist bis September 2016 möglich? Aus Zeitdruck wurde die FH-Zürich mit der Ausarbeitung der Lehrpläne beauftragt. Zwei Arbeitsgruppen von Religions- und Ethiklehrkräften sollen diese anschließend bewerten. Diese Regelung birgt das Risiko, dass der LP 21 nicht lediglich als Inspirationsquelle dienen wird und die Anpassung an die luxemburgischen Verhältnisse zu kurz kommt.

Die Aufteilung des LP 21 in drei Teilbereiche hat Ähnlichkeiten mit dem Unterrichtsmodell, das 1996 in Brandenburg eingeführt wurde. Das konfessionslose Schulfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER) umfasst wie der Name erkennen lässt ebenfalls drei Teilthematiken, wobei die „R-Dimension“ die Zielrichtung hat, eine sachliche und kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Religionen in der Schule zu gewährleisten.

Diese Dreiteilung führte in Brandenburg zu großen Umsetzungsproblemen. Der LER-Unterricht steht immer noch nicht an allen Schulen auf dem Lehrplan. Ursache dafür ist unter anderem ein Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal. Der Unterricht findet entweder erst gar nicht statt oder wird von anderen FachlehrerInnen übernommen. Die schwindenden Teilnehmerzahlen deuten darauf hin, dass der Unterricht dadurch in Misskredit geraten ist. Die Universität Potsdam bietet einen eigenen Studiengang an, um das Lehrpersonal für dieses Fach auszubilden. Obwohl es eines der meistbesuchten Lehramtsfächer der Universität ist, kommen nicht genug AbsolventInnen in den Schulen an. 19 Jahre nach der Einführung ist es daher noch immer nicht möglich, einen hochwertigen Unterricht an allen Schulen zu gewährleisten.

Die erwähnte Dreidimensionalität des Faches verlangt vom Lehrpersonal eine besondere Befähigung, Die dazu notwendige Ausbildung – beziehungswiese Umschulung – des betroffenen Lehrpersonals ist erst für die Zukunft geplant. Diese müsste allerdings jetzt im Vorfeld beginnen. Doch ist immer noch nicht klar, wie sie aussehen und wer sie durchführen soll.

Komplizierte Diskussionsbasis

Inhaltliche Diskussionen über den „Werteunterricht“ haben sich hierzulande in den letzten zwei Jahren als schwierig erwiesen. Eine anfänglich eingesetzte Arbeitsgruppe aus vier Religions- und Ethiklehrkräften, die über den Inhalt des „Werteunterrichts“ diskutieren sollte, brach konsenslos auseinander. Beide Seiten arbeiten voneinander getrennt an dem Projekt weiter. Beabsichtigt ist, dass auch laizistische und religiöse Organisationen bei der Erstellung des Lehrplans eine beratende Funktion einnehmen. Mit der Entscheidung, einen „Conseil des Cultes“, bestehend aus sechs vom Staat anerkannten und finanzierten Glaubensgemeinschaften, mit ins Boot zu holen, riskiert das Bildungsministerium allerdings, eine Art Selbstsabotage zu betreiben.

Besonders die Zukunft der GrundschulreligionslehrerInnen bleibt ungewiss. Sandra Lambert-Baciotti, Religionslehrerin in der Gemeinde Bettemburg, findet, dass im Vorfeld nicht genügend über das Schicksal ihres Berufsstandes nachgedacht worden ist.

„Man hat nicht genügend bedacht, dass wir Religionslehrer ganz unterschiedliche Ausbildungswege hinter uns haben“, meint Sandra Lambert-Baciotti. Eine einheitliche Umschulung sei deshalb nicht möglich. Auch könne nicht jeder es sich leisten, noch einmal eine neue Ausbildung zu beginnen.

Pacta sunt servanda

Die Regierung ist sich ihrer sozialen Verpflichtung gegenüber den rund 240 GrundschulreligionslehrerInnen bewusst. Alle bisher angestellten Lehrkräfte sollen übernommen werden und eine Stelle innerhalb des Bildungswesens bekommen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie alle auch weiter unterrichten werden können. Als mögliche Arbeitsplätze gelten auch Kindertagesstätten. Ein Großteil der Religionslehrer soll jedoch als Lehrkräfte für den neuen „Werteunterricht“ eingesetzt werden. Aber: Bei der Ergreifung des Berufs des Religionslehrers ist meist eine bestimmte Motivation und Überzeugung bestimmend, die nicht einfach durch eine Umschulung überwunden werden kann. Ob nun dieser Recyclingplan der Regierung einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, ist daher fraglich.

Ginge es nach Yves Brosius, Präsident der „Association luxembourgeoise d’enseignant(e)s d’éducation religieuse et morale dans l’enseignement fondamental“ (Alerf), wäre die Abschaffung des Religionsunterrichts nicht notwendig gewesen. Es habe keinen Anlass für die Regierung gegeben, einen ganzen Berufsstand abzuschaffen, geschweige denn ein Fach, das von „70 Prozent der SchülerInnen besucht wird“. Seit der Unterrichtsreform 2009 habe das Fach keine Zeit gehabt, sich neu zu beweisen. „Die Kommunikation von Seiten des Ministeriums schafft keine Klarheit, sondern hinterlässt nur Fragen“, so der 29-jährige Grundschulreligionslehrer. Er wünscht sich, dass die Unklarheiten über das Schicksal seines Berufstandes in naher Zukunft aus dem Weg geräumt werden können.

Sarah Panteghini, Präsidentin der „Association luxembourgeoise des professeurs d’éthique“ (Alpe), sieht die Abschaffung des Wahlpflichtmodells dagegen positiv. Das neue Fach müsse allerdings vermeiden, sich in Richtung eines Religionen-Unterrichts zu entwickeln. Das Vorbild müsse das Fach „praktische Philosophie“ sein. Unterrichtsmodelle, wie die in Québec, kommen für die Philosophie- und Ethikprofessorin nicht in Frage. Solche Modelle sähen ethische Probleme nur durch die christliche Brille an. Auch der zuletzt angeführte Lehrplan 21 wird von der Gewerkschaft abgelehnt, da der Inhalt des Unterrichts religionslastig sei und dadurch die Ethik vernachlässigt werde. „Die Religion darf nicht den Großteil des Programms ausmachen“, erklärt die Präsidentin der Alpe. Ethik und Religion könnten nicht ohne weiteres zu einem Fach verschmolzen werden. Die beiden Fächer bedienten sich unterschiedlicher Methoden. Ein zu sehr auf Religionen konzentrierter „Werteunterricht“ bedeutete einen Rückschritt. Unabdingbar sei für die Alpe, dass alle Themen kontrovers diskutiert werden, denn nur so werde das kritische Denken der SchülerInnen gefördert. Auch dürfe das Lehrmaterial der Lehrkraft keinen Spielraum für die Beeinflussung der SchülerInnen lassen. Dies sei eine wichtige Bedingung, um die Neutralität des Unterrichts sicherzustellen.

Der neutrale „Werteunterricht“ schafft aber auch Platz für eine neue Generation von LehrerInnen, die den Ansprüchen des neuen Fachs gerecht werden müssen. Interessant wäre es in diesem Zusammenhang die Meinung der Interessensvertreter der Studenten zu erfahren. Die „Union nationale des étudiant-e-s du Luxembourg“ (Unel) begrüßt grundsätzlich die Einführung des konfessionslosen Einheitsunterrichts. Die Schüler- und Studentenvereinigung verweist allerdings nur auf ein 2012 verfasstes Arbeitsdokument, das den Idealfall eines solchen Unterrichts schildert. Zur aktuellen Debatte hat die Unel bisher noch keine Stellung genommen.

Die Uhr tickt

Viele Dinge bleiben weiterhin ungeklärt. So steht zum Beispiel nicht fest, ob das Fach einen Koeffizienten haben und damit überhaupt versetzungsrelevant sein soll. Jean-Marie Kieffer räumt der Klärung dieser Frage allerdings keine oberste Priorität ein. Zuerst müsse man den Inhalt des Unterrichts aufbauen, erst dann könne über die Versetzungsrelevanz gesprochen werden.

Es handelt sich allerdings um eine wichtige Entscheidung. Selbst wenn die dort behandelten Themen essenziell sind, dürften weder SchülerInnen noch Lehrkräfte ein Fach ohne diese Eigenschaft ernst nehmen.

Bildungsminister Meisch verbleibt für die Schaffung eines neutralen „Werteunterrichts“ also nur wenig Zeit. Bereits 2008 wurden unter Bildungsminsterin Mady Delvaux (LSAP) erste Vorarbeiten für die Schaffung eines neutralen Einheitsfachs geleistet. Diese Bemühungen sind offenbar im Sande verlaufen. Das Bildungsministerium sieht sich nun gezwungen, mit der Adaptation des LP 21 alles auf eine Karte zu setzen.

Wie bereits erwähnt, stellt der LP 21 alles andere als ein Mustermodell dar. Der Fachbereich der Ethik wird vollkommen vernachlässigt. Das Schweizer Fach „Ethik, Religionen, Gemeinschaft“ erinnert an einen Religionenunterricht, der ethische Probleme lediglich oberflächlich behandelt. Der aktuelle luxemburgische Ethikunterricht der Sekundarstufe jedoch behandelt die Ethik als eine Teildisziplin der praktischen Philosophie und bietet eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit ethischen Fragen. Es bleibt zu hoffen, dass das Bildungsministerium nun nicht aus Zeitnot und falsch verstandener sozialer Verpflichtung einfach das Schweizer Unterrichtsmodell übernimmt. Denn eine solche „Light“-Version des „Werteunterrichts“ würde für den Luxemburger Unterricht alles andere als einen Fortschritt bedeuten.


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