Biodiversität: Wer Samen sät …

… erntet Wildpflanzen? Ja, denn: Landwirt*innen produzieren zusammen mit dem Naturschutzsyndikat Sicona und dem Nationalmuseum für Naturgeschichte Saatgut heimischer Wildpflanzen. Das Ziel? Artenreiche Wiesen wiederherzustellen.

Wilde Blüten wachsen auf dem Feld. Die im Herbst ausgesäten Samen einiger Arten können bis zu zweimal im Jahr ‒ im späten Frühling und Ende des Sommers ‒ geerntet werden. (Copyright: SICONA)

Max Stolz pflückt einen verwelkten runden Blütenkopf, zerdrückt und schüttelt ihn in seine offene Hand: Kleine Samen kullern heraus. Die Weiße Lichtnelke ist eine der vier Wildpflanzenarten, die der Produzent in seinem 45 Ar großen Feld im nördlich gelegenen Hoffelt aussät und deren Samen er ein bis zweimal im Jahr erntet.

Das vom Umweltministerium mit 2,67 Millionen Euro finanzierte Pionier-Projekt „Wëllplanzesom Lëtzebuerg“ betreuen das Naturschutzsyndikat Sicona und das Nationalmuseum für Naturgeschichte (MNHN) seit sechs Jahren; Stolz, der gerade ein Studium im Garten- und Landschaftsbau absolviert, ist erst seit letztem Jahr dabei. Der Landwirt erntet, trocknet und reinigt die Samen, die anschließend als regionale Saatgutmischungen an hiesige Betriebe und Privatpersonen verkauft werden. „Das Projekt entstand aus der Motivation heraus, mit dem Anbau von Wildpflanzen die heimische Artenvielfalt zu fördern und zu erhalten“, sagt die Projektkoordinatorin Vanessa Duprez, die Saatgutproduzent*innen wie Max Stolz bei der Diversifizierung ihres Betriebes unterstützt und im Syndikat unter anderem für die Sensibilisierungsarbeit zuständig ist.

Gebietseigene Samen

In die Wege geleitet wurde das Projekt im Jahr 2018 von Simone Schneider, der Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung des Sicona. Ähnliche Initiativen gibt es schon in Frankreich, Österreich oder auch Deutschland, zum Teil schon seit vierzig Jahren. Ein deutscher Anbieter von Saatgut ‒ die Firma Rieger-Hofmann ‒ inspirierte das Sicona hierzulande. „Unsere Projektleiterin Simone Schneider knüpfte diesen Kontakt. Sie gaben uns ihre Erfahrung weiter. Wir haben viel von ihnen gelernt“, sagt Duprez. Es begann eine Zusammenarbeit zwischen Sicona, MNHN und der baden-württembergischen Firma.

„Werden die angebauten und biologisch produzierten Samen, die erst mal von Botaniker*innen in hiesigen Naturschutzzonen gesammelt und in Gärtnereien aufgezogen werden, von den teilnehmenden Landwirt*innen als Jungpflanzen in die Felder gesetzt und anschließend geerntet, kommen sie vorgereinigt an Rieger-Hofmann. Die Firma kümmert sich um die Vergütung und die Zusammenstellung der auf Luxemburg angepassten Saatgutmischungen, die nur hierzulande verkauft werden. Eine genaue Verkaufszahl können weder das Sicona noch das Ministerium nennen, beide schätzen jedoch, dass bislang 1.000 Hektar mit den Mischungen angelegt worden sind. Noch wird diesen Mischungen regionales, deutsches Saatgut hinzugegeben, da nicht alle Arten im Anbau sind erklärt Thierry Helminger, Konservator der botanischen Abteilung des MNHN. Insgesamt sind 68 Arten und acht verschiedene Mischungen im Umlauf. Irgendwann sollen die Mischungen nur noch Samen aus Wildkräutern und -gräsern enthalten, die auch in Luxemburg gewachsen sind.

Ein erfreulicher Anblick: Die vom Produzenten Max Stolz gesäte Färber-Hundskamille blüht jetzt im August. (Foto: María Elorza Saralegui/woxx)

Die regionale Herkunft der Arten ist nämlich entscheidend: Herkünfte von weiter entfernten Standorten können unsere angepasste heimische Flora negativ beeinflussen, erklärt Helminger. Einige Pflanzen setzen sich etwa nur schwer gegen die eingeführte Konkurrenz durch. Deswegen müssen sich teilnehmende Landwirt*innen, die das Saatgut ernten, alle zwei Jahre einer Kontrolle vonseiten der deutschen Kontrollstelle ABCert unterziehen. Dabei wird vor allem der Ursprung und die Artzugehörigkeit überprüft, so Helminger. Zudem muss sich jeder Betrieb nach einem Regelwerk des „Wëllplanzesom Lëtzebuerg“, das 69 Kriterien umfasst, zertifizieren lassen.

Denn es darf nicht jede*r Samen sammeln und kommerzialisieren. In Luxemburg regulieren die Gesetze vom 18. März 2008 und vom 22. Januar 2021 das Saatgut von Nutz- und Futterpflanzen und setzen Bedingungen zu deren Kommerzialisierung fest „Das Gesetz betrifft alle Arten, die als Nahrungsmittel oder Futterpflanzen gelten, wie etwa der Mais. Darunter fallen aber auch Gräser und Kräuter, weil sie als Viehfutter dienen.“ Das Ergebnis: Es dürfen von diesen Arten ausschließlich zugelassene Kultursorten verkauft werden. Weil Gräser und Kräuterarten generell jedoch auch Bestandteil einer wilden Wiese sind, musste bis 2011 gewartet werden: Dann kam die sogenannte Erhaltungsmischungsverordnung: Die Vermarktung von Saatgutmischungen, die dem Erhalt der genetischen Artenvielfalt und natürlichen Lebensräume dienen, wurde zugelassen. Deshalb „darf aufgrund dieser Verordnung die Wildform von Pflanzenarten wie Klee in den Mischungen verkauft werden“, sagt Helminger.

Den EU-Zielen entgegen

Gerade Wildblumen und -kräuter sind eine wichtige Nahrungsquelle für Insekten, und bieten Bestäubern, Vögeln und Niederwild lebenswichtige Refugien. Bestäubende Insekten wiederum tragen zur Fortpflanzung der Wildpflanzen bei, indem sie deren Pollen verbreiten. Der Zustand sowohl der Wildpflanzenarten als auch der wildlebenden Tiere, ist jedoch alarmierend: Laut Angaben des Observatoire de l’environnement naturel befinden sich 80 Prozent der Arten hierzulande in einem prekären Erhaltungszustand. Die Folgen davon seien dabei „noch gar nicht absehbar“. Auf der im Jahr 2005 veröffentlichten Roten Liste der hiesigen Wildpflanzenarten werden 40,7 Prozent der Arten als mindestens „selten“ eingestuft (siehe Kasten).

Schuld am Biodiversitätsverlust sind neben der jahrzehntelangen dünger- und pestizidintensiven Landwirtschaft, die Urbanisierung und Zerschneidung der Landschaften sowie die Verschmutzung der Böden, Luft und Wasserkörper. Soll dem Verlust entgegengewirkt werden, müssen unter anderem „geeignete Maßnahmen auf mindestens 30 Prozent des Grünlandes zur Anwendung kommen“, so das Observatoire. Dazu zählen die Wiederherstellung von Lebensräumen ‒ zur Erinnerung: EU-weit sollen bis 2030 20 Prozent und bis 2050 alle sanierungsbedürftigen Land- und Wasserökosysteme renaturiert werden ‒ und das Einbringen von Samen. Beide gehen Hand in Hand: Laut einer Studie zum Erhalt des artenreichen Grünlandes in Luxemburg aus dem Jahr 2020 sind beide notwendig, um auch vor allem gefährdete Arten zu fördern.

(Foto: María Elorza Saralegui/woxx)

Das „Wëllplanzesom“-Projekt kommt den EU-Zielen etwas entgegen, indem nicht nur Wildpflanzen vermehrt, sondern auch Flächen durch die Aussaat der heimischen Saatgutmischungen wiederhergestellt werden. Genauer gesagt arbeitet das Projekt auf das Ziel des dritten nationalen Naturschutzplans hin, bis 2030 magere Flachlandmähwiesen zu renaturieren, so das Umweltministerium gegenüber der woxx. Gerade diese Biotope werden laut dem Observatoire „immer seltener“.

Auf eigenen Füßen

In den sechs Jahren, in denen das Projekt läuft, hat die Anzahl der Beteiligten geschwankt. Seit Anfang dieses Jahres bekommen beteiligte Betriebe nicht länger einen Stundenausgleich des Umweltministeriums, sondern werden über ein Biodiversitätsprogramm des Landwirtschaftsministeriums gefördert. Bis zu 67 Euro pro Ar bekommen Landwirt*innen wie Stolz. „Nach der Anfangsphase, während der jeder seine ersten Erfahrungen sammeln konnte, haben wir ein paar Betriebe verloren“, sagt Duprez. Die Bewirtschaftungsverträge der Programme stellen Bedingungen, wie etwa eine niedrige Anzahl an Vieh und dauern fünf Jahre lang. Insgesamt waren mal über 20 Betriebe an dem Projekt beteiligt, so die Koordinatorin. Das Interesse steige zwar weiterhin, doch der Anbau von Wildpflanzen sei eben auch aufwendig. „Am schwierigsten“, bestätigt auch Stolz „ist eigentlich der Zeitaufwand. Ohne die Unterstützung meiner Eltern wäre die Arbeit nicht zu meistern.“

Mittlerweile sind laut Angaben des Ministeriums 16 landwirtschaftliche Betriebe und zwei Privatpersonen am Projekt beteiligt. Alle sind ehrenamtlich Teil einer am 29. Januar dieses Jahres gegründeten Genossenschaft. Auch Stolz, der dort die Buchhaltung führt. Unterstützte das Sicona in der Vergangenheit Landwirt*innen etwa mit der Bereitstellung von Maschinen, kümmern sich nun die Genossenschaftsmitglieder darum, sagt Max Stolz. Es sei ein Schritt Richtung Unabhängigkeit ‒ auch wenn das Sicona den Mitgliedern weiterhin während des ganzen Prozesses mit Rat zur Seite steht.

Noch finanziert auch das Umweltministerium das Projekt und hat für die nächsten fünf Jahre ein Budget von insgesamt 1,09 Millionen Euro aufgestellt. In der Hoffnung, dass „Wëllplanzesom“ bald auf eigenen Beinen steht, sagt Duprez: „Es hängt natürlich von der Nachfrage der Saatgutmischungen ab. Wir werden weiterhin neue Betriebe motivieren und die Beteiligten dabei unterstützen, ihren Anbau von Wildpflanzen zu vergrößern.“ Samen von 100 Arten zu produzieren ist das nächste Ziel. Aber wäre das Projekt erfolgreich, wäre irgendwann der Verkauf von Samen nicht länger nötig, weil die Pflanzen sich selbst vermehren, oder? Der Botaniker Helminger lacht: „Da gibt es leider noch viel zu tun, bevor wir das Ziel des Nationalen Naturschutzplanes erreichen.“ Der Weg zur Wiederherstellung und zum Erhalten von artenreichem Grünland ist noch ein weiter.

 

Die rote Liste

In Luxemburg werden Wildpflanzen auf der sogenannten „Roten Liste“ evaluiert, die letzte Version ist aus dem Jahr 2005. Der MNHN-Konservator Thierry Helminger arbeitet mit Kolleg*innen des Museums an einem aktualisierten Atlas, der Ende dieses Jahres vorgestellt werden soll. Der woxx gewährt er dennoch schon einen Einblick: Begutachtete die Rote Liste im Jahr 2005 1.323 verschiedene Wildpflanzenarten, bewertet die neue Version über 1.400. Davon werden mehr als die Hälfte als nah bei „bedroht“ bis „ausgestorben“ eingestuft; fast ein Drittel befindet sich in den höchsten drei Kategorien, etwa die Arnika (bedroht), die gewöhnliche Kuhschelle (gefährdet) oder der Wiesen-Gelbstern (stark gefährdet und vom Aussterben bedroht). „Es ist nicht besser geworden. In den letzten zwanzig Jahren sind noch weitere Arten ausgestorben“, kommentiert Helminger die Lage in Luxemburg. Im Rahmen des Projekts „Wëllplanzesom“ sind bisher 68 Arten vermehrt worden, sieben davon stehen auf der Liste.


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