Christian Frosch: Anomalie eines Prozesses

„Murer – Anatomie eines Prozesses“ kommt auf ein sehr unangenehmes Kapitel der österreichischen Nachkriegszeit zurück, ohne dabei das Nazi-Regime wieder aufleben zu lassen

Auch für die Presse war der Murer Prozess schwer zu begreifen.

Eigentlich müsste von vorneherein klar sein, wie der Prozess um den „Schlächter von Wilna“ ausgehen wird: Franz Murer, gegen den die Sachlage und die Zeugenaussagen so erdrückend wie manifest sind, soll eine lebenslange Haftstrafe für seine Verbrechen als Befehlshaber über das Judenghetto in Vilnius während des Zweiten Weltkriegs absitzen müssen. Auch wenn führende ÖVP-Politiker den Prozess im Voraus verhindern wollten, war der Druck der internationalen Öffentlichkeit auf die noch junge Alpenrepublik zu groß. Hinzu kam, dass der Eichmann-Prozess erst Jahre vorher stattgefunden hatte, die Aufarbeitung des Holocausts also erst an Fahrt gewann.

Doch es kam ganz anders. Am Ende eines zehntägigen Prozesses sprachen die Geschworenen den Kriegsverbrecher frei. Wie dies möglich war, versucht Froschs Film aufzuklären, ohne dabei auf das eigentliche Kriegsgeschehen einzugehen. „Murer – Anatomie eines Prozesses“ ist ein „huis clos“, die Handlung spielt sich fast ausschließlich im Gerichtssaal ab, in dem Zeug*innen der Morde und sadistischen Vergehen, die der Stellvertreter des Gebietskommissars („zuständig für jüdische Angelegenheiten“) zwischen 1941 und 1943 in Vilnius begangen hat, eindrucksvoll schildern. Und doch gelingt es dem Anwalt Murers, diesen Zeug*innen die Glaubhaftigkeit abzusprechen, indem er sie beispielsweise mit Detailfragen – etwa nach der Farbe des Mantels des Befehlshabenden – derart traktiert, dass sie ins Straucheln kommen. Dabei gab es keinerlei Zweifel an der Identität des Schlächters, dem sogar ein Lied gewidmet worden war.

Froschs Entscheidung, auf jegliche geschichtliche Rekonstruktion der Verbrechen zu verzichten, ist genauso mutig wie passend. Es geht um die Wiederaufarbeitung der Wiederaufarbeitung und um deren Scheitern in der Gesellschaft der erst acht Jahre alten Republik Österreich. Ein Land das noch immer von alten Nazi-Netzwerken bestimmt wird, und in dem ein*e jede*r versucht, mit dieser politischen Realität klarzukommen – auch wenn dies bedeutet, Unsagbares gutzuheißen.

Abseits des Gerichtssaals geht Frosch den Protagonist*innen des Dramas nach: Einer Journalistin der New York Times, die sich mit einem österreichischen Kollegen der „Arbeiterzeitung“ verbrüdert oder Simon Wiesenthal, dem Nazi-Jäger, der versucht so viele Belastungszeug*innen wie möglich aufzutreiben, aber gleichzeitig alles unternimmt um dem Prozess fernzubleiben, um nicht als Beeinflusser zu gelten. Auch Murers Familie und Unterstützer*innen folgt die Kamera und filmt, wie wichtige Funktionäre versuchen hinter den Kulissen auf die Politik einzuwirken, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Am spannendsten sind aber sicher die inneren Konflikte des Staatsanwalts, der sich schlussendlich dem Druck der Wiener Elite beugen muss.

„Murer – Anatomie eines Prozesses“ ist ein oft schwer zu ertragender Film, etwa wenn die Zeug*innen, die ihr erlittenes Trauma noch einmal im Zeugenstand durchleben müssen, vom Publikum verhöhnt werden oder wenn nach dem Verkünden des Freispruchs ungehemmte Häme und Schadenfreude bei den Unterstützer*innen ausbrechen. Aber genau das macht ihn so sehenswert.

Murer wurde übrigens nie wieder angeklagt und starb 1994 unbehelligt als Bezirksbauernvertreter der ÖVP in Leoben in der Steiermark, einer seiner Söhne wurde FPÖ-Politiker. Während seiner Zeit in Vilnius ging die Anzahl der dort lebenden jüdischen Bevölkerung von 80.000 auf 600 zurück.

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