Coming-of-Age-Roman: Die innere Raserei

In seinem jüngsten Roman „Unter Wölfen“ lotet der österreichisch-US-amerikanische Autor John Wray die Grenzen der Solidarität unter heranwachsenden Außenseiter*innen aus. Frech webt er reale Figuren aus der Metalszene in seine Geschichte ein.

Trotz Nahaufnahmen aus der Welt dieses Musikstils kein Heavy-Metal-Roman: John Wrays „Gone to the Wolves“. (Foto: EPA-EFE/Helle Arensbak)

Weshalb werden Coming-of-age-Geschichten geschrieben? Gemeint sind Romane, in denen das individuelle Heranreifen der Protagonist*innen eine wichtige Rolle spielt. Es geht um die Phase, in der man versucht, das kindlich-jugendliche Ich abzustreifen, eine erwachsene Version davon zu finden – darum, sich einen Platz in jener fragwürdigen Welt zu erkämpfen, mit der man so vehement kollidiert. Wer eine solche Geschichte schreibe, so Goethe, der könne sich vornehmen, was er wolle, am Ende sei es immer auch „eine Art von Confession, und zwar auf eine Weise, von der er sich kaum selbst Rechenschaft zu geben versteht“.

Auch John Wray hat mit „Gone to the Wolves“ (in der deutschen Übersetzung: „Unter Wölfen“) eine solche Beichte vorgelegt. Der US-amerikanisch-österreichische Schriftsteller vollzieht sie anhand dreier Protagonist*innen und ihrer spannungsreichen Freundschaft.

Im Mittelpunkt steht Christopher Chanticleer Norvald, genannt „Kip“, und die Geschichte beginnt in Florida. Kurz vor dem High-School-Abschluss wird er im Oktober 1987 von den Jugendbehörden von Tallahassee in das am Golf von Mexiko gelegene Venice verfrachtet, wo ihn seine Großmutter in Obhut nimmt. Der Vater sitzt im Knast, weil er gegen Kips Mutter gewalttätig war; diese ist mit der Erziehung des Sohnes überfordert. Auch Kip nämlich brennen ab und zu die Sicherungen durch: Vor allem, wenn er sieht, wie andere tyrannisiert werden, betritt er, was er den „white room“ nennt, und haut den Bullys auf die Glocke. Leider verliert er während dieser Berserkerwut jedes Maß und kann sich nachher an nichts erinnern.

In einer solchen Situation lernt Kip auch Leslie Aaron Vogler kennen, einen schlaksigen Hänfling aus der selben Schule, der sich lieber „Z“ nennen lässt und den er aus den Fängen eines Dealers befreit. Z ist schwarz, bisexuell, wurde von einem jüdischen Ehepaar adoptiert und ist ein Metalfan durch und durch. Dank ihm lernt Kip den Musikstil kennen und sieht kaum fünf Monate, nachdem deren erstes Album „Scream Bloody Gore“ erschienen ist, ein Konzert der legendären Band „Death“ im lokalen Jugendklub.

Wenige Tage zuvor hatte Z die Platte aufgelegt. „Dann setzte das Kreischen ein. Es hörte sich an, als versuche jemand ein Kinderlied zu singen, während er auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Der Sänger klang wütend, oder ekstatisch, oder er hatte entsetzliche Schmerzen – wissen konnte man das nicht, weil der Text unmöglich zu verstehen war.“ Und vermutlich stimmte in Wahrheit alles drei. Kotzübel war Kip danach und doch war das Hörerlebnis für ihn eine Offenbarung: „Dass nichts im Leben gut werden würde. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Und das machte absolut Sinn für ihn.“*

Es ist vor allem die Musik, die die Außenseiter zusammenfinden lässt und ihre je eigenen Beschädigungen in eine gemeinsame Sprache übersetzt.

Es ist vor allem die Musik, die die beiden Außenseiter zusammenfinden lässt und ihre je eigenen Beschädigungen in eine gemeinsame Sprache übersetzt. Das gilt auch für die dritte im Bunde, Kira Carson. Ihre innere Raserei lässt sich allein durch deren musikalischen Ausdruck allerdings nicht besänftigen; zu machtvoll ist der selbstzerstörerische Sog, dem sie ausgesetzt ist und der von üblen Erfahrungen herrührt, deren Ausmaß man nie erfährt. Für sie wird die in Klang gegossene Radikalität zur Sucht nach immer extremeren Grenzerfahrungen.

(© Picador)

Von Florida nach Los Angeles und über Berlin nach Norwegen führt das Trio die Reise. Das skandinavische Land ist es auch, in dem die über mehrere Jahre hinweg sich erstreckende Geschichte ihrem Höhepunkt entgegentreibt. Kip ist mittlerweile Musikjournalist geworden und hat zwischenzeitig mit Kira in einer Beziehung gelebt. Leslie ist von Los Angeles nach Florida zurückgezogen, nicht zuletzt, weil für ihn als Schwarzen und queeren Mann letztlich kein Platz in der engstirnigen, teils reaktionären Metalszene war. Und Kira ist auf der Suche nach Authentizität, nach einem Lebensstil, der nicht hinter die radikale ästhetische Haltung des extremen Metal zurückfällt, schließlich in der norwegischen Black-Metal-Szene gelandet – genau zu der Zeit, als der Kult um die Band „Mayhem“ und den Osloer Plattenladen „Helvete“ ihrem Höhepunkt entgegensteuert und eine Serie von Brandanschlägen auf historische Kirchengebäude ihren Anfang nimmt. Dort verlieren sich Kiras Spuren. Als schließlich sogar das FBI deswegen ermittelt, schließen sich Kip und Leslie zusammen und machen sich auf die Suche nach ihrer vermissten Freundin.

Im Jahr 2017 hat John Wray mit einem Text aus dem Erzählband „Madrigal“ erfolgreich am Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teilgenommen. Sein vorangegangener Roman „Gotteskind“ (im englischen Original: Godsend) erzählte die Geschichte einer jungen Frau, die sich auf der Suche nach Sinn als Mann verkleidet in einer Koranschule in Afghanistan und schließlich gemeinsam mit anderen jihadistischen Kämpfern an der Front wiederfindet. Auch sie war einer Familienstruktur entflohen, die man heute gerne euphemistisch als „dysfunktional“ bezeichnet.

In seinem neuen Buch lässt der Autor drei solcher tief verletzten Protagonist*innen zueinanderfinden und zeigt zugleich, dass auch ihre Solidarität zueinander als Außenseiter*innen nahezu zwangsläufig Grenzen hat. Zu unterschiedlich ist ihr Erfahrungs- und Schmerzhorizont, zu groß der an ihre jeweiligen Traumata gebundene Wiederholungszwang, als dass sie einander ungeschoren lassen könnten. Doch in größter Gefahr finden sie wieder zueinander und erleben dies als kathartisch. Das macht zwar nicht alles wieder gut, lässt sie aber spüren, dass man auch in den tiefsten Abgrund, in den man gestarrt hat, nicht stürzen muss, sondern ihn überschreiten kann.

(© Rowohlt)

Der Autor lässt sein Buch an der Wiege des Death Metal beginnen: im Florida der 1980er-Jahre, mit Bands wie „Obituary“ und „Deicide“, deren Mitglieder er ebenso unbekümmert wie später jene der Band „Mayhem“ in Norwegen als Protagonisten in seinem Roman auftreten lässt. Er tut das mit Detailwissen, das in ihm einen Metalfan vermuten lässt. Ein Heavy-Metal-Roman ist „Gone to the Wolves“ aber trotzdem nicht. Wray versucht auch nicht, den Sound des Metal oder die ästhetische Haltung dahinter in eine literarische Form zu übertragen. Aber er beschreibt die Stimmung und die Gefühlswelt derer, die diesem Musikstil und der Bewegung dahinter verfallen sind. Er findet Worte, um zu beschreiben, wie sich die Aufregung anfühlt, die die Jugendlichen beim Entdecken neuer Bands und neuer Musik erfasst. Und er nähert sich der Wurzel des damit verbundenen selbstzerstörerischen Impulses an; den Wunsch nämlich, sich selbst und diese Musik jeder Brauchbarmachung durch eine Welt zu entziehen, die alles, aber auch restlos alles entzaubert und ihrer abstrakten Verwertungslogik unterwerfen will.

Leider hat man nach Abschluss der Lektüre nicht das Gefühl, viel über die gesellschaftlichen Gegebenheiten erfahren zu haben, in denen das Leben der drei Hauptpersonen sich abspielt. Auch ihre Charaktere gewinnen nur wenig an Kontur. Am Ende ist es dem Autor wichtiger, dem Spannungsbogen der von ihm erdachten Geschichte zu folgen als den Reifeprozess seiner Protagonist*innen zu beschreiben. Als Entwicklungsroman, mit dem das „Coming of age“-Genre bisweilen gleichgesetzt wird, lässt sich „Gone to the Wolves“ daher kaum bezeichnen. Stattdessen beruht der Roman auf einer Dramaturgie mit mehreren Höhepunkten, wie man es auch von einem gut durchkomponierten Metalalbum kennt. Auch das muss man erst einmal können, weshalb Wrays „Beichte“, die man ihres eigenen Sounds wegen vorzugsweise im englischen Original lesen sollte, zwar nicht große Literatur, aber sehr unterhaltsam ist.

John Wray: Gone to the Wolves. Picador, 400 Seiten. John Wray: Unter Wölfen. Ins Deutsche übersetzt von Bernhard Robben. Rowohlt, 480 Seiten. *Die Übersetzung der Zitate für diese Rezension ins Deutsche wurde durch den Autor des Artikels besorgt.

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