Demokratie: Mut zur Selbsthinterfragung

Bei einer von respect.lu organisierten Fachtagung war man sehr schnell bei einer Grundsatzdebatte. Wie ein roter Faden zog sich die Forderung nach einer radikalen Selbsthinterfragung angeblich demokratiefördernder Institutionen durch die Veranstaltung.

Zwei Tage lang konnten sich Interessierte über Radikalisierung, Demokratieförderung und Aktivismus informieren. (Foto: respect.lu)

„Vom Minus zum Plus – Recruiting for Democracy“, so der sperrige Titel der zweitägigen Fachtagung, zu der 
die Antiradikalisierungsstelle respect.lu am 29. und 30. November eingeladen hatte.

Der erste Teil hatte auf den ersten Blick herzlich wenig mit dem Thema zu tun: Gezeigt wurde „Recruiting for Djihad“, eine Doku über den in Norwegen lebenden Islamisten Ubaydullah Hussain. Sowohl der Film als auch die anschließende Diskussion mit dem Journalisten und Regisseur des Films, Adel Khan Farooq, sollten Einblicke darüber geben, wie islamistische Extremisten rekrutieren und welche Zielgruppen sie mit ihren Methoden erreichen.

Wie der Titel der Fachtagung, „Recruiting for Democracy“, aber andeutet, ging es den Organisator*innen mit dem Film noch um etwas anderes: Was können wir von extremistischen Rekrutierer*innen lernen? So war auch eine anschließende Intervention des Psychotherapeuten und respect.lu-Mitarbeiters Peter Kagerer betitelt. Zwar warf dieser zunächst die Frage auf, ob „wir uns überhaupt an denen orientieren dürfen“ und ob „‚rekrutieren‘ eigentlich der richtige Begriff“ sei, zog dann jedoch Parallelen: Er wolle darauf eingehen, was die Bedingungen zum Rekrutieren verbessere und dazu greife er auch „in die dunkle Kiste der Propaganda“.

Beim Rekrutieren, so wie es die Organisator*innen der Fachtagung verstünden, gehe es darum, andere Menschen dazu zu bringen, sich mehr oder weniger enthusiastisch für oder gegen etwas einzusetzen. Rekrutieren sei demnach nur unter Ausübung von Macht, Einfluss und Kontrolle möglich. In der Folge würde demjenigen, der rekrutiert werde, eine neue Lebensperspektive eröffnet. „Gute Rekrutierer benutzen eine hohe funktionelle Empathie, um andere mit geschickten Strategien in ihrem Interesse zu manipulieren“, so Kagerer. „Sie kennen ihre Zielgruppe und deren Bedürfnisse, sie identifizieren den richtigen Zeitpunkt und machen dann ein passendes Angebot.“ Wenn das nach einer Art Marketing klinge, so der Psychotherapeut weiter, dann deshalb, weil es das auch in gewisser Weise sei. Was Rekrutierer*innen jedweder Sparte vereine, sei, dass sie sich die Deutungshoheit über Sprache aneigneten. Wieso überhaupt die Frage aufgeworfen war, was man von Islamist*innen lernen kann, um demokratische Werte zu vermitteln, war am Ende des Vortrags leider nicht klar geworden.

Demokratische Schulkultur?

Weniger abstrakt ging es im restlichen Teil der Fachtagung zu. So etwa bei einem Rundtischgespräch zum Thema „Recruiting for Democracy“, an welchem insgesamt vier Gäste teilnahmen: die Demokratiepädagogin an der Universität Trier Christine Achenbach-Carret, der Direktor des Zentrum fir politesch Bildung, Marc Schoentgen, die Chefredakteurin des Internetportals Belltower.News von der deutschen Amadeu Antonio Stiftung, Simone Rafael, und der Generalsekretär des luxemburgischen Parlaments, Laurent Scheek. Unter Moderation des freien Journalisten Tom Haas gingen sie den Fragen nach, wie wir als Gesellschaft mit kontroversen Debatten umgehen sollen, wie Begeisterung für Demokratie vermittelt werden kann und welche Ressourcen demokratische Bildung benötigt.

Auch wenn diese vom Moderator gesetzten Themenblöcke von der Prämisse ausgingen, dass das demokratische System, wie es in Luxemburg besteht, an sich keiner Hinterfragung bedürfe, so klangen in der Diskussion doch immer wieder auch kritische Töne an. So betonte etwa Achenbach-Carret, dass die demokratischen Institutionen es aushalten müssten, unentwegt hinterfragt zu werden. In diesem Zusammenhang nannte sie das Schulsystem. Ihrer Meinung nach sei es noch ein langer Weg hin zu einer demokratischen Schulkultur. Es reiche nicht, demokratische Werte zu lehren, wenn diese nicht auch im tagtäglichen Schulbetrieb gelebt würden. Bevor sie Demokratiebildung betreiben könnten, müssten Schulen sich erst mal selbst fragen, wie diskussionsfreudig und ambiguitätstolerant sie seien.

In eine ähnliche Richtung argumentierte auch Schoentgen als er die Frage nach der Aufgabe der Schule aufwarf: Kritische Bürger*innen hervorbringen oder doch eher nur Wissensvermittlung? Dadurch, dass man in Luxemburg erst ab 18 Jahren wahlberechtigt sei, entwickelten viele die irrige Vorstellung, dass man auch erst mit 18 mündig sei und Demokratie verstehen könne. Dabei müsse Demokratiebildung schon sehr viel früher beginnen.

„Wir machen uns das Leben zu leicht, wenn wir alles nur auf die Kinder abschieben“, warf irgendwann Karin Weyer von respect.lu aus den Zuschauerreihen ein. Was ihr aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung in puncto Radikalisierung sehr viel größere Sorgen bereite, seien die älteren Bevölkerungsgruppen.

Dabei wurde nicht Kindern im Rahmen der Fachtagung die meiste Aufmerksamkeit gewidmet, sondern einem Paradox, das sowohl diese als auch den Rest der Gesellschaft betrifft: Organisationen und Institutionen, die es sich als Ziel gesetzt haben, demokratische Werte zu stärken oder zu verteidigen, funktionieren selbst nur bedingt nach demokratischen Prinzipien. Im Falle des Luxemburger Wahlsystems, das ebenfalls immer wieder zur Sprache kam, tragen sie sogar aktiv zu Ausgrenzung bei.

Wie es aussehen kann, wenn sogenannte demokratische Institutionen nicht zur nötigen Selbstkritik fähig sind, zeigte Laurent Scheek mit beinahe jeder seiner Wortmeldungen. Scheek äußerte sein Bedauern darüber, dass das Parlament von der Zivilbevölkerung nicht als offene Institution wahrgenommen werde, die auch zuhöre. Dem Parlament sei zunehmend daran gelegen, aufs „Terrain“ zu gehen und die Bürger*innen mitreden zu lassen. Leider seien Initiativen wie die regelmäßigen Bürgercafés nur wenig besucht. Als Möglichkeiten der politischen Partizipation nannte Scheek noch Petitionen, das Wort „Referendum“ nahm er interessanterweise nicht in den Mund. Die geringe Beteiligung an den Bürgercafés scheint bei Scheek jedenfalls kein Umdenken zu bewirken. Ganz nach dem Motto: Nicht die Partizipationsmöglichkeiten sind das Problem, sondern das geringe Interesse an diesen.

Konkurrenz statt Solidarität

Um Sinn und Unsinn von von oben herab diktierten Partizipationsmöglichkeiten ging es auch beim Workshop zum Thema Jugendarbeit. Die Teilnehmenden, vor allem Sozialpädagog*innen, berichteten von der Überforderung mancher Jugendlicher, wenn sie die Möglichkeit zur aktiven Mitsprache und -gestaltung erhalten.

An einem von den Workshop-
leiter*innen vorgestellten Tool wurde deutlich, inwiefern als partizipativ ausgelegte Aktivitäten dies oft nur in begrenztem Maße sind: Mit der App Actionbound ist es möglich, Schnitzeljagden zu organisieren, die auch „remote“ durchführbar sind. Zu Beginn des Workshops konnten die Teilnehmenden die App selbst ausprobieren und in kleinen Teams, die dort vorgegebenen Aufgaben erledigen: Treppen hoch- und runterspringen, Pétanque-Kugeln möglichst schnell mit dem Fuß ans Ziel rollen, aus Ästen eine Kugelbahn bauen. Auch wenn die Aktivität nach dem vielen Sitzen eine willkommene Abwechslung bot: Was an ihr genau partizipativ war, konnten die Leiter*innen auf Nachfrage hin nicht erklären.

Lehrreicher war dann schon die Aktivität, die im zweiten Teil des entsprechenden Workshops vorgestellt wurde: Die Leiterin, eine Sozialpädagogin namens Nadine Rodrigues aus dem Schengen Lyzeum, gab eine Choreografie vor, die von drei Teilnehmenden synchron nachgeahmt werden musste. Rodrigues forderte die zuschauenden Workshop-Teilnehmer*innen auf, „Stop“ zu rufen, sobald die Tanzbewegungen nicht übereinstimmten. Während letztere damit recht zurückhaltend waren, wurden die Interventionen von Rodrigues immer lauter und ungeduldiger. Irgendwann hatten die Teilnehmenden keine Lust mehr, sie teilten mit, sich wieder setzen zu wollen.

Um die Choreografie ging es bei der Aktivität nicht. Ziel war es vielmehr, zu schauen, wie sich die Gruppendynamik entwickelt: Wie viel Zeit vergeht, bis die Zuschauenden unterstützend eingreifen? Bis sie die Wutausbrüche der Leiterin nicht mehr hinnehmen? Bis die drei in der Mitte ihre weitere Teilnahme verweigern?

Am Montag fand Rodrigues die frühe Grenzziehung der Tanzenden eigenen Aussagen nach beeindruckend. Wenn sie die Aktivität mit Jugendlichen durchführe, dauere sie meist sehr viel länger. Die Zuschauenden würden sich normalerweise in zwei Lager spalten: Die, die sich an Rodrigues orientierten und die Tanzenden ebenfalls immer lautstärker tadelten, und diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen still blieben. „Die Aktivität endet nie gut“, so die Feststellung der Sozialpädagogin. Die Jugendlichen stritten eher untereinander, als dass sie die Aktivität beziehungsweise die anwesende Autoritätsperson in Frage stellten. Auch bei diesem Workshop war es wieder das Fazit, dass das Schulsystem eher Unterwerfung und Konkurrenzdenken als Mündigkeit und Solidarität fördert.

„Wie radikal dürfen demokratische Aktionsformen sein?“, lautete der Titel des am Dienstag stattfindenden letzten Rundtischgesprächs. Der Professor für Strafverfahren an der Universität Luxemburg Stefan Braum sowie Vertreter*innen vom Centre for Ecological Learning Luxembourg (Cell), von der feministischen Plattform Jif und dem Künstler*innenkollektiv Richtung22 diskutierten über die Fragen: Ist es legitim, mit Aktionsformen Gesetze zu brechen? Wie gehen aktivistische Organisationen vor, wenn sie über Methoden für eine Aktion entscheiden? Wessen Freiheit schützt das Strafrecht eigentlich?

Auch bei dieser Diskussionsrunde war man wieder schnell beim Grundsätzlichen. Dabei ging man weit über Kritik am Luxemburger Wahlsystem und die mangelnden Partizipationsmöglichkeiten hinaus. Auch Begrifflichkeiten, die im Strafgesetzbuch nicht vorkommen – man denke etwa an „Femizid“ – oder der Mangel an statistischen Daten seien Zeichen eines Demokratiedefizits, befand Jif-Mitglied Milena Steinmetzer. Es ging aber auch um die grundsätzliche Frage, wer aufgrund seiner Privilegien, vor allem bezüglich Bildungshintergrund und zeitlicher Ressourcen, überhaupt in der Lage sei, an einer Fachtagung wie der von respect.lu teilzunehmen.

Man kann sich jedenfalls fragen, ob das größtenteils aus pädagogischem Fachpersonal bestehende Pu
blikum die richtige Zielgruppe für eine Veranstaltung, die vor allem aufzeigte: Der dringendste Handlungsbedarf besteht bei der Selbsthinterfragung sogenannter demokratiefördernder Institutionen.


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