Der letzte linke Kleingärtner, Teil 51: Deutsche Vergesslichkeit

Der letzte linke Kleingärtner schaut von seinem Garten aus auf Deutschland – und das schaut eher fremd zurück.

Hier fühlt sich der Kleingärtner nicht Zuhaus: Sein Garten liegt in Deutschland, aber einen Deutschen Garten will er nicht. (Foto: Rabe!/Wikimedia/CC-BY-SA-3.0)

Der Jahrestag des Ukrainekrieges, der 24. Februar, ist da. Draußen in der Welt ist allerhand los. Manches dringt zu mir durch in meinen Hühnerstall und in meinen Gemüsegarten. Auch die von Menschenhand mitverursachten Kriege und Katastrophen überschlagen sich. Es führt kein Weg daran vorbei: Die Rettung der Welt muss endlich Chefsache werden, sonst funktioniert es nicht. Corona, Ukraine-Krieg, der kleine Mann in Moskau, die kleinen Leute mit ihren Verschwörungsphantasien und dann noch die Wetterkapriolen. Okay, wenn es nur Kapriolen wären, wäre auch der Spuk der Trockenheit bald vorbei. Aber glauben tu’ ich dieses hoffnungstriefende Gesülze nicht, selbst wenn es aus meinem eigenen Munde kommt.

Wo wir schon mal dabei sind: Sehen Hühner alle gleich aus oder ist diese Frage diskriminierend und eine Art von Hühner-Rassismus? Man neigt schnell dazu, „die anderen“ und die sonstigen Fremden als ununterscheidbar zu etikettieren. Damit verschafft man sich Orientierung im Dschungel des Alltags. Falsch ist es trotzdem und der belegbare Vorwurf des Hühner-Rassismus käme so sicher wie seit 2000 Jahren das berühmte Amen in der Kirche. Und das wäre schlecht für mein Kleingärtnerimage. Lieber stehe ich als Strahlemann auf dem Podest, als den intellektuellen Depp zu mimen, der sich für sein Gerede auch noch entschuldigen muss.

Irgendwie schaffen es die Deutschen nicht ohne Kaiser, König, Gott und Chef.

Davon ist der „große“ deutsche Sozialdemokrat Gerhard Schröder Lichtjahre entfernt. In seiner Blütezeit war er von 1998 bis 2005 Kanzler von Deutschland und hat mit einer prolligen „Basta“-Politik die Deutschen per Kommando geführt. Die brauch(t)en so was. Selbst als Ex-Kanzler hat er einfach weitergemacht, als sei er nie abgewählt worden. Er hat sich gut angefreundet mit dem kleinen Mann in Moskau, man besuchte sich gegenseitig, schenkte sich Rohstoff-Verträge und im Gegenzug Posten in Gremien russischer Firmen. Schwamm drüber.

Jetzt plötzlich sind „alle“ in Deutschland mächtig sauer auf den Gerhard. Und keiner will ihn jemals gekannt haben. Die SPD nicht, deren Vorsitzender er war, die Grünen nicht, deren Koalitionspartner er war, die CDU nicht, die seine Russlandpolitik einfach fortsetzte und die FDP nicht, die einfach mitmachte und kassierte. Niemand macht mehr Selfies mit ihm. Gerhard ist seit dem 24. Februar 2022 ganz allein auf der Welt. Auch viele Europäer sind sehr wandlungsfähig: Die, die ihm jahrelang den Hof machten, den roten Teppich ausrollten und sich in seiner Umgebung als freundliche Dienerinnen und Diener des Neoliberalismus mit devotem Gang austobten, meiden ihn und kommen mit dem Geifern und Stänkern gegen ihn gar nicht schnell genug hinterher.

Seine Männer-Dingsbums-Freundschaft mit dem kleinen Mann in Moskau gibt die Blaupause für die Empörung ab. Die Deutschen sind komisch. Das sagen auch meine Hühner. Es ist immer gut, wenn man die Verantwortung auf andere abwälzen kann. Ja, schon richtig, Schröder ist unsympathisch und ein autoritär gestrickter Kotzbrocken. Nur war er das schon immer. Aber diejenigen, die jetzt gegen ihn pöbeln, haben ihm jahrelang die Stange gehalten, ihn angehimmelt und zum Teil dank seiner Protektion Karriere gemacht, wie beispielsweise der derzeitige deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier.

Aber wo war denn der Protest der jetzigen Schröderkritiker, als er in Deutschland Anfang der 2000er-Jahre mit seiner SPD und mit den Grünen (!) die Agenda 2010 und damit den sozialen Kahlschlag einführte, was Millionen Menschen nachhaltig in Armut stürzte? Die Kritik kam damals von Linksaußen, aber nicht aus der sozialdemokratisch-grünen Mitte der Gesellschaft. Jetzt mit moralischen Argumenten auf ihn einzudreschen, ohne die eigene unrühmliche Rolle von damals – und von heute? – zu thematisieren heißt nur, dass man weiterhin offen ist für den nächsten parteipolitischen Heilsbringer. Irgendwie schaffen es die Deutschen nicht ohne Kaiser, König, Gott und Chef. Dann sollen sie doch mich als Chef nehmen. Ich ernähre schließlich die Menschheit, und ich kann gut mit Hühnern.

Der Ukraine-Krieg hat die nationalen Trommler des Guten in einem drastischen Ausmaß nach oben gespült. Sie reden von guten Flüchtlingen, vom guten Stopp der Energieimporte aus Russland, von guten Waffenlieferungen, von einer guten, kollektiven Reaktion des Westens, vom guten Staat, der das Richtige tut und von der guten NATO. So viel Gutes war nie auf Erden. Da ist es selbst für einen gestandenen Kleingärtner wie mich schwer, einen Platz unter all den Gutmenschen zu finden. Unmöglich ist es, diesen Chor der Millionen zur Ordnung zu rufen. Das Gros hat sich abgeschottet und gegen einfachste Fragen immunisiert – die Immunität gegen Corona ist leider noch nicht erreicht. Wer Fragen stellt –und ich meine damit nicht: „alternative Fakten“ herumposaunt – gehörte noch nie zur Gemeinschaft der Guten.

Drei Praxistipps:

1. Sei vorsichtig, wenn Millionen Deutsche etwas gut finden. Das lehrt die Geschichte.
2. Der kleine Mann in Moskau ist ein großer Diktator, den der Siegeszug des Kapitalismus nach oben gespült hat. Dumm gelaufen.
3. 
Bitte lasst mich als Kleingärtner nicht allein mit den Deutschen. Die sind so extrem vergesslich.


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