Deutsche Kriegsopferentschädigungen: „Am liebsten vermeiden“

Weltweit sollen 2.033 Personen eine „Kriegsopferentschädigung“ beziehen – davon sechs in Luxemburg. Christoph Brüll, Historiker an der Uni Luxemburg, interessiert vor allem die Frage, wie auch Ausländer*innen an die sogenannten „Nazi-Pensionen“ kommen konnten.

Erster Transport von zwangsrekrutierten Luxemburgern, 18. Oktober 1942. (Foto: Service de la mémoire de la Deuxième Guerre mondiale)

woxx: Herr Brüll, laut Bild-Zeitung werden sechs NS-Opferrenten von Deutschland nach Luxemburg überwiesen. Um welche Personen könnte es sich denn Ihrer Meinung nach bei den Empfänger*innen handeln?


Christoph Brüll: Ja, da kann man derzeit nur spekulieren. Das könnten theoretisch sogar sechs Deutsche sein, die ihren Wohnsitz in Luxemburg haben. Das müssen nicht unbedingt Luxemburger Staatsangehörige sein. Die Zahlen betreffen lediglich die Bewohner.

Gesetzlich sind diese Zahlungen im Bundesversorgungsgesetz (BVG) von 1950 verankert. Worum genau ging es denn damals?


Das Bundesversorgungsgesetz ist sehr weit gefasst. Das Gesetz ermöglicht es, ab einer Invalidität von 25 % Entschädigungsleistungen für Kriegsverletzungen zu beantragen, die in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Wichtig zu beachten ist dabei, dass es sich nicht um eine Rente oder eine Pension handelt – auch wenn die Presse das sehr oft geschrieben hat –, sondern um eine Entschädigung, für die man in Frage kommt, wenn man eine Kriegsverletzung erlitten hat. Theoretisch betrifft das sowohl Militärs als auch Zivilsten. Jetzt muss man sich natürlich die Frage stellen, wie es sein kann, dass auch Ausländer wussten, dass sie einen Antrag stellen konnten. Diese Frage kann man für viele Länder nur spekulativ beantworten.

„Das sind Sachen, 
die liegen vollkommen im Dunkeln.“

Wie kam es denn in Belgien dazu, wo diese ganze Diskussion ja gerade neu entfacht wurde – nicht ohne unterschwellige Anspielungen auf die flämische Kollaboration mit dem deutschen Besatzer?


Wenn man sich das belgische Beispiel vor Augen führt, so weiß man, dass sich dort in den 1970er-Jahren ein flämisch-nationaler Abgeordneter der Volksunie-Partei für flämische Kollaborateure eingesetzt hat. Also für Personen, die in der Wehrmacht und der Waffen-SS auf deutscher Seite gekämpft und dafür nach 1945 von belgischen Gerichten verurteilt worden sind. Eine bisher unbekannte Zahl, die physische Kriegsfolgen davongetragen haben, haben dann Entschädigungsanträge gestellt. Generell gilt aber, dass es ganz schwierig zu sagen ist, wann die Leute aus dem Ausland davon Kenntnis genommen haben und ob eventuell schon vor den 1970er-Jahren bestimmte Personen Anträge auf Entschädigung gestellt haben. Im Falle Polens wissen wir, dass der polnische Staat und die Bundesrepublik dies in den 1950er-Jahren gemeinsam organisiert haben – für die west- und nordeuropäischen Staaten ist das hingegen überhaupt nicht deutlich.

Stellenweise war ja auch von einem Hitler-Dekret zu lesen, über das ausländische NS-Kollaborateure automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben sollen. Was hat es denn damit auf sich?


Ja, das spielt aber für die im Rahmen des Bundesversorgungsgesetzes geleisteten Zahlungen absolut keine Rolle. Dort gibt es überhaupt keinen Passus, der etwas mit Staatsangehörigkeit zu tun hätte – was es ja Ausländern erst erlaubt, Anträge zu stellen. Und man würde sich schon gar nicht auf Dekrete von Hitler beziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat die zwischen 1938 und 1945 erfolgten Kollektiveinbürgerungen 1952 im Übrigen für nichtig erklärt. Dazu muss auch bemerkt werden, dass das Bundesversorgungsgesetz im November 1997 novelliert worden ist und sein Artikel 1a seitdem besagt, dass Personen, die Kriegsverbrechen begangen haben, kein Anrecht auf eine Entschädigung haben. Laut dem deutschen Botschafter in Belgien haben die deutschen Verwaltungen rückwirkend alle Akten überprüft. Wie diese Prüfung genau vorgenommen wurde, bleibt jedoch zu klären. Im Einzelfall ist eine Beteiligung an Kriegsverbrechen natürlich sehr schwer nachzuweisen. Aber es hat damals rund 99 Fälle gegeben, in denen man die Zahlung entweder nicht bewilligt oder eingestellt hat.

„Als Bürger teile ich die moralische Empörung.“

Nun fallen diese Zahlungen ja auch in den Bereich Sozialleistungen und lassen sich daher mit moralischen Argumenten nur schwer einstellen …


Ja, das kann man so sagen. Die Auszahlung der Entschädigungen ist Ländersache. Für Belgien ist beispielsweise Nordrhein-Westfalen zuständig. 2008 hat NRW dann die Bearbeitung an den Landschaftsverband Rheinland (LVR) in Köln abgegeben. Und das ist auch die einzige Institution, welche die Namen jener 18 Personen kennt, die heute noch in Belgien diese Entschädigungen erhalten. (Für Empfänger*innen von Entschädigungen auf Grundlage des Bundesversorgungsgesetzes in Luxemburg ist das Land Rheinland-Pfalz zuständig, namentlich das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie, wie ein Sprecher des BMAS in Berlin der woxx gegenüber mitteilte, Anm.d.R.)

Hat Sie das eigentlich gewundert, dass auch Gelder nach Luxemburg fließen?


Sagen wir mal so: Es hat mich nicht gewundert, da es ja in Luxemburg Soldaten in Wehrmacht und Waffen-SS gegeben hat. Für die Zwangsrekrutierten gab es bilaterale Verträge, die Zahlungen vorsahen: in Belgien 1962 und 1973. Gleiches geschah in Luxemburg erst relativ spät, in den 1980er-Jahren. 12 Millionen Mark waren das damals. Die Frage ist natürlich jetzt, erstens: Wie war das mit den Freiwilligen? Und zweitens: Gab es Personen, die schon vor diesen Verträgen Anträge gestellt hatten? Rechtlich ist das absolut möglich. Wie es wirklich gewesen ist, wissen wir derzeit nicht. Das wäre dann auch ein Punkt, der dafür spricht, dass man die Historikerkommission, die die belgische Kammer vorletzte Woche in einer Resolution angeregt hat, auch tatsächlich einrichtet. Natürlich muss man sich fragen, ob das nun eine deutsch-belgische Kommission sein soll oder ob man daraus nicht doch eine internationale Kommission macht. Da Belgien ja nicht das einzige betroffene Land ist. Aber das ist auch eine politische Frage.

Christoph Brüll forscht an der Uni Luxemburg. (Foto: Uni.lu)

Belgien verlangt eine Einstellung der Zahlungen. Frankreich hat angekündigt, die Namen der Entschädigten zu ermitteln, auch weil die Beträge steuerfrei ausgezahlt werden. Die deutschen Behörden hingegen mauern …


Das ist etwas, was in den Diskussionen immer wieder hochkommt. Entschädigungen, die auf der Grundlage des Bundesversorgungsgesetzes gezahlt wurden, sind tatsächlich von deutscher Besteuerung ausgenommen. Aufgrund des Doppelbesteuerungsabkommens ist Deutschland als Zahlungsland auch nicht verpflichtet, Belgien darüber zu informieren, wer diese Zahlung erhält. Wobei man sagen muss, dass es sich bei den heutigen Zahlungsempfängern durchaus um Hinterbliebene und andere Berechtigte handeln könnte. Zudem bezieht sich die deutsche Verwaltung auch auf den Datenschutz.

Wie realistisch ist denn nun Ihrer Meinung nach einer Einstellung der Entschädigungen?


Das ist eine politische Frage. Man darf schon festhalten, dass das belgische Parlament seit 2016 im Auswärtigen Ausschuss nicht wirklich schnell vorangekommen ist. Dazu kommt, dass sich auf Regierungsebene bisher niemand dazu geäußert hat. Zwischen beiden Regierungen erscheint es als ein Thema, das man am liebsten vermeiden würde. Als Bürger kann ich die moralische Empörung sehr gut verstehen – als Historiker würde ich sagen: Das ist sekundär. Erst gilt es zu klären, wie genau es zu den Zahlungen kam und welche Mechanismen dahintersteckten. Im Grunde wissen wir noch viel zu wenig. Wenn ich das richtig sehe, gibt es derzeit noch über 2000 Menschen in der Welt, davon 600 Polen, die diese Zahlungen bekommen. Natürlich könnte Belgien im Alleingang von Deutschland ein Ende der Überweisungen verlangen. Die internationale Dimension der Vorgänge würde das jedoch nicht auflösen.


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