Deutschland, Frankreich, Europa: Verpasste Chancen

Die anstehenden Wahlen dürften weder in Berlin noch in Paris wirklich fortschrittliche Regierungen an die Macht bringen. Damit stirbt auch jede Hoffnung für Brüssel.

(Bild: Europawahlen 2014)

Martin Schulz ist ein kluger Mann. Sein plötzliches Antreten als Kanzlerkandidat war verblüffend, sein Werben für eine gerechtere Politik fand sogleich viel Zustimmung.

Rote Parolen und große Reformversprechen, das ist mehr, als man in den vergangenen Jahren von der SPD zu hören bekam. Aber immer noch zu wenig und zu spät für einen wahren politischen Neuanfang in Deutschland. Vielleicht reicht Schulz‘ taktisches Geschick ja gerade noch für die Herbeiführung einer rot-rot-grünen Mehrheit. Doch ein entsprechendes politisches Projekt wird es nicht geben, eine Strategie dazu hätten die SPD und ihre Partner lange vorher entwickeln müssen. Wie auch immer die Bundestagswahl von 2017 ausgeht, sie ist eine verpasste Chance.

Genauso eine verpasste Chance ist die Präsidentschaftswahl in Frankreich. Hinzu kommt: Man ahnt schon jetzt, dass sie schlecht ausgehen wird. Gewiss, auch der PS hat mit der Wahl des linken Kandidaten Benoît Hamon durch die Basis einen symbolischen Linksruck vollzogen. Doch immer größere Teile der Parteielite unterstützen mittlerweile den zentristischen Ex-Sozialisten Emmanuel Macron. Derweil hat Hamon zwar die Unterstützung der Grünen gewonnen, nicht aber die der Bewegung um Jean-Luc Mélenchon. Am Ende könnte der Außenseiter Macron zum Sieger werden und der PS für ihn in den Legislativwahlkampf ziehen – ein Desaster für alle politischen Kräfte links von der Mitte. Auch hier hätten die Parteilinke und ihre potenziellen Partner frühzeitig über ein gemeinsames Projekt beraten müssen.

Dass es ein solches Projekt nirgends gibt, liegt allerdings nicht nur an der Rechtslastigkeit der sozialdemokratischen Parteien. Insbesondere in Deutschland wird über die falschen Fragen diskutiert. Die Linke wirft der SPD vor, zu wenig für soziale Unterstützungsleistungen aufwenden zu wollen und zu viel Flexibilität am Arbeitsmarkt zu erlauben. Doch über die aus humanen Gründen erforderlichen Nachbesserungen hinaus müsste linke Politik Grundlegenderes in Angriff nehmen: die Arbeit neu verteilen, die Gewinne durch Flexibilisierung für mehr Sicherheit statt mehr Profit nutzen, die Sozialversicherungen in diesem Sinne umstrukturieren. Dazu gehören Vorschläge wie das von Hamon aufgegriffen Grundeinkommen, aber auch eine andere Steuer- und Geldpolitik, ein neuer Rahmen für Finanz- und Realwirtschaft.

Ein Neubeginn scheitert nicht nur an den sozialdemokratischen Parteien, es wird auch über die falschen Fragen diskutiert.

Ebenfalls passé sein sollte die Idee, die Wirtschaft mit einer Kaufkraftsteigerung anzukurbeln. Lohnerhöhungen können der Gerechtigkeit dienen, doch sinnvolles Wachstum ergibt sich in erster Linie aus öffentlichen Investitionen in die ökologische Umgestaltung. Das, was man den Green New Deal nennt, dient nicht in erster Linie dazu, einen Kompromiss zwischen traditionneller Linke und neuen grünen Bewegungen zu finden. Angesichts der sozialen und ökologischen Herausforderungen bedarf es für ein zukunftsfähiges politisches Projekt genau dieser Ausrichtung.

In Deutschland und Frankreich bietet sich nach der jetzt verpassten Chance in vier, fünf Jahren eine neue. Nicht so in Europa. Für die Union dürften die Wahlen in den beiden großen Mitgliedstaaten und die derzeit in Brüssel stattfindende Umgewichtung die letzte Chance darstellen. Nach der Wahl des Konservativen Antonio Tajani zum Präsidenten hat die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament die große Koalition endlich aufgekündigt – allerdings mit großem Zögern.

Dabei wäre, um das Projekt EU zu retten, ein klarer Gegenentwurf der linken Kräfte nötig, mit dem sich diese den von den Rechten dominierten Institutionen entgegenstellen könnten. Dieser aber müsste, über die oben skizzierten Ansätze hinaus, ein glaubwürdiges Modell kontinentaler Solidarität und Umverteilung beinhalten, das auch den Ländern Ost- und Südeuropas Perspektiven eröffnet. Doch dafür ist es, mehr noch als für linke Wahlsiege in Deutschland und Frankreich, zu spät.


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