
(© Kampa)
September 1913. Am Vorabend des ersten Weltkrieges erreicht ein junger Student aus Lemberg eine Heilanstalt in Görbersdorf. In den niederschlesischen Bergen, so hofft Mieczysław Wojniczs Vater, soll sein Kind im Sanatorium für Lungenkrankheiten geheilt werden. Bei der täglichen Kur und den Spaziergängen an der frischen, herbstlichen Luft erinnert sich Mieczysław an seine strenge Kindheit und Erziehung. Abends isst er im Gasthaus in Gesellschaft der männlichen Patienten, die bei etlichen Trinkgelagen Diskussionen über Krieg, Staatsformen, Rationalismus führen und sich nur bei einem Thema eins sind: dem ihrer klaren Überlegenheit gegenüber Frauen. Was wie ein historischer Roman beginnt, wird langsam zu einer fesselnden, märchenhaften Schauergeschichte. Es häufen sich die unheilvollen Andeutungen und mysteriösen Erlebnisse des Protagonisten. Meisterhaft erzeugt Olga Tokarczuk Spannung und schafft eine düstere Atmosphäre mit ihren Beschreibungen des unscheinbaren Dorfs und der umgebenden Natur. Obschon fast keine Frauen auftauchen, sind diese dennoch in Form einer pluralistischen Erzähler*innenstimme anwesend: Genüsslich entlarvt die Literaturnobelpreisträgerin die Misogynie der männlichen Figuren und erforscht die Themen der Selbstermächtigung, der Naturkräfte und des Volksglaubens. Wenn auch die langen Dialoge etwas ermüdend sein können, ist „Empusion“ ein brillant geschriebenes und vielschichtiges Lesevergnügen.
„Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“, von Olga Tokarczuk, 2023. Verlag Kampa. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein.