Ende des Zweiten Weltkrieg: Kein Zurück in die Welt von gestern

Das offizielle Kriegsende vor 75 Jahren war eine wichtige Etappe auf dem Weg der ideologischen Neuorientierung in Luxemburg. Wenig bekannt: Mit der Wochenzeitung „D’Hêmecht“ wurde auf originelle Weise versucht, noch seit der Vorkriegszeit bestehende gesellschaftliche und ideologische Gräben zu überwinden und die politische Auseinandersetzung pluralistischer zu gestalten.

Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945: 
Eine von mehreren Etappen, die das Kriegsende in Luxemburg markierten. (Quelle: e-luxemburgensia)

Der 8. Mai 1945, Tag der deutschen Kapitulation, steht in den Luxemburger Geschichtsdarstellungen zum Zweiten Weltkrieg nicht allein. Er muss sich seinen Platz mit mehreren anderen Daten teilen, die das Ende des Zweiten Weltkriegs weit konkreter fassbar machten: die Befreiung Luxemburgs durch die amerikanischen Truppen am 10. September 1944; die Befreiung von Vianden am 22. Februar 1945, die das Ende der Rundstedt-Offensive bedeutete, und schließlich die Rückkehr der Großherzogin Charlotte aus dem Exil am 14. April 1945. So problematisch, wie der Begriff der „Stunde Null“ für Deutschland ist, mit dem man dort einen angeblich vollständigen Bruch mit dem Nationalsozialismus suggerieren wollte, so unpräzise benennt das Datum des 8. Mai also das Kriegsende in Luxemburg.

Das Jahr 1945 war in Luxemburg ein Jahr politischer Krisen, in dem die aus dem Exil zurückgekehrte Regierung sich ihren Platz gegenüber der selbstbewusst auftretenden „Unio’n fun de Lötzeburjer Freihêtsorganisatio’nen“ („Unio’n“), dem bereits seit März 1944 existierenden Zusammenschluss von Widerstandsorganisationen, erst erstreiten musste: Im Vordergrund der Debatten standen die Zusammensetzung der Regierung (ohne Mitglieder der Unio’n), ihre zögerliche Epurationspolitik, die schleppende Repatriierung der Deportierten, Umgesiedelten, Zwangsrekrutierten und Flüchtlinge sowie das weiter bestehende strenge Kriegsrecht. Auch Mangelwirtschaft und Schwarzmarkthandel prägten weiter den Alltag. Am 1. Mai 1945 hatte sich die Situation soweit zugespitzt, dass Staatsminister Pierre Dupong die Großherzogin über seinen geplanten Rücktritt informierte, ein Schritt, den ihm Außenminister Bech jedoch wieder ausredete. [1] Im Herbst 1945 fanden erste Wahlen statt, bei denen die Unio’n zwar als Oppositionspartei – zunehmend liberaler Ausrichtung – ins Parlament einzog, die Christlich-Sozialen jedoch fast die absolute Mehrheit erreichten. In einer Regierung der nationalen Einheit gab es eine starke personelle Kontinuität mit der Vorkriegszeit.

Weniger Autorität, 
mehr Freiheit

Dennoch knüpfte die parlamentarische Politik nicht nahtlos an die Zeit vor 1940 an. Sofort nach dem Krieg waren ideologische Neuorientierungen in den politischen Strömungen festzustellen. Die Präsenz der Unio’n war ein Zeichen für die starke gesellschaftliche Rolle der Widerstandsorganisationen, die sich in Luxemburg bereits während des Krieges sowohl auf rechter wie auf linker Seite als Ideologieproduzentinnen betätigt hatten. Aber die Parteien wurden nicht nur von deren Gesellschaftsmodellen beeinflusst; auch durch die Erfahrungen von Krieg und Exil, die in Frankreich, Großbritannien, den USA und der Sowjetunion gemacht worden waren, gab es Inspiration für die Modernisierung von christlich-sozialem, liberalem, sozialistischem oder kommunistischem Gedankengut. Deutlich wird dieser Einfluss zum Beispiel bei Arbeitsminister Pierre Krier, der sich in seinen Nachkriegsvisionen für ein „neues Luxemburg in einer neuen Welt“ auf das Wohlfahrtsstaatsprogramm der britischen „Labour Party“ stützte.

Auch im konservativen Spektrum interessierte man sich nun stärker für eine Modernisierung von Staat und Gesellschaft. Während rechte Widerstandsorganisationen zum Teil weiter dem Antiparlamentarismus der Vorkriegszeit anhingen, hatten die Minister der Rechtspartei durch ihre Vernetzung mit anderen christlichen Exil-Politikern während der Kriegszeit neue Impulse erhalten. Zunächst gab es auch in diesen Milieus noch ein starkes Interesse an Modellen korporatistischer und autoritärer Staaten – besonders nach dem Vorbild Portugals und Spaniens. Es gab auch Versuche, die Nachkriegsgesellschaft in Europa im christlichen Sinn zu beeinflussen. Ein Beispiel ist die Rolle des Rundfunks: Wie fast alle Exilregierungen hatte auch die luxemburgische die Möglichkeit, sich über BBC an ihre Bevölkerung zu richten. Manche der belgischen und luxemburgischen Sendungen wurden über den Sender Leopoldville im von Belgien kolonisierten Kongo ausgestrahlt. Wie die Archive verraten, war dabei auch die Schaffung eines „Centre radiophonique d’éducation nationale et sociale, basée sur les principes chrétiens“ sowie eines europäischen christlichen Radiosenders angedacht. [2]

Pierre Frieden, Mitbegründer der Wochenzeitung „D’Hêmecht – La patrie“, hatte im Krieg Gefängnis und KZ erlebt. Er war stark von humanistischem Ideengut geprägt. (Quelle: Wikipedia)

Doch dürfte – neben der Einbindung in die westliche Allianz – das Modell der parlamentarischen Demokratie, das die christlichen Exilpolitiker während des Exils in Großbritannien und Nordamerika erlebten, ihre Überlegungen zum Wiederaufbau Luxemburgs stark beeinflusst und den Vorkriegsvorstellungen über die Verwirklichung eines christlichen Staates einen Riegel vorgeschoben haben. So beteiligten sie sich auch an den Aktivitäten christlicher Gruppierungen wie der „International Christian Democratic Union“, die eine demokratischere Linie vertraten. Der Historiker Wolfram Kaiser hält fest: „[T]hus, the experience of fascism and national socialism led to a marked shift in Catholic democratic thinking towards less authority and more liberty and also towards a new emphasis on participation, including that of workers, in economic decision-making, independent of the exact form this would take.“ [3]

Pluralismus und Versöhnung

Die Kriegserfahrung sorgte zumindest während einer kurzen Zeitspanne auch für Bestrebungen einer Aufweichung der in der Vorkriegszeit verhärteten innenpolitischen Fronten. Dies wird besonders sichtbar bei den Heimkehrer*innen aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern, deren kollektive Leidenserfahrungen sowohl politische als auch nationale Barrieren sprengten. Zu ihnen gehörte der Sekundarschullehrer und Leiter der Nationalbibliothek Pierre Frieden, der mehrere Monate im Gefängnis in Stadtgrund und im KZ Hinzert inhaftiert gewesen war. Frieden, der Ende 1944 für kurze Zeit Erziehungsminister wurde (er kehrte erst 1948 auf diesen Posten zurück), war stark von humanistischem Ideengut geprägt und setzte sich für eine europäische Einigung ein. [4] Er wehrte sich auch gegen die politische Polarisierung, die die Luxemburger Vorkriegsgesellschaft bestimmt hatte. Zugleich nahm er am Versuch einer offenen, aber an humanistischen und demokratischen Idealen ausgerichteten Debatte teil. Dies drückte sich nicht zuletzt in der Gründung der allerdings kurzlebigen Wochenzeitung „D’Hêmecht – La Patrie“ aus. Der Anspruch der von der „Unio’n“ als Beilage ihres eigenen Blattes lancierten Zeitung war der der Versöhnung und der nationalen Einheit aller ideologischen Lager, aber zugleich auch einer transnationalen Öffnung. Unter den Werten, die diese nationale Einheit ausmachen sollten, wurde auch die Freiheit der Überzeugungen genannt.

Frieden plädierte aufgrund seiner Erfahrungen im Konzentrationslager für eine Überwindung der Konflikte, die nach Kriegsende zwischen Deportierten und Widerständler*innen einerseits, Kollaborateur*innen und Mitläufer*innen andererseits offensichtlich wurden, und warb dafür, das Augenmerk auf einen „moralischen“ Wiederaufbau zu richten. Wie stark der Krieg auch als Einschnitt im intellektuellen Leben empfunden wurde, zeigte sich in der Frage an die Leser und Leserinnen, die in der ersten Ausgabe am 30. September 1944 gestellt wurde: „Êtes-vous sortis de la grande épreuve du pays tels que vous y êtes entrés, indemnes et inchangés, avec l’intégral bagage de vos idées et convictions, de vos habitudes de juger, de sentir, d’agir et de réagir? Êtes-vous restés attachés sans réserve au monde d’hier, à son esprit et son organisation, êtes-vous partisans du retour au passé? Alors adieu, dès le premier pas! Ceci n’est pas pour vous. Si par contre la tempête vous a trouvés hors des abris commodes, si elle vous a secoués et bouleversés, si votre esprit et votre cœur sont profondément affectés, révoltés et meurtris par l’effroyable aventure humaine dont nous sommes à peine sortis. Si vous êtes prêts à en tirer les conclusions théoriques et pratiques, alors entrez dans l’équipe du redressement. Nous serons frères d’armes.“

Ab Herbst 1944 gab es mit „D’Hêmecht – La patrie“ das Experiment einer pluralistischen Zeitung, in der alle demokratischen Strömungen zu Wort kommen sollten. (Quelle: BNL)

Jazz und Russischkurse

Diese Haltung bestimmte den Inhalt der viersprachigen Zeitung: Religiöse, monarchistisch-nationalistische und internationalistisch geprägte Texte standen nebeneinander, die Frage der Sprachen in Luxemburg wurde diskutiert. Neben der Bewunderung für die US-amerikanischen Befreier (und ihre Musik, den Jazz) unterstrich ein Arthur Useldinger die „kulturelle Leistung der Sowjetunion“, bestritt ein Emil Marx, dass die Kirche dort verfolgt werde. Die linke Studentenzeitschrift „Voix des jeunes“ wurde genauso beworben wie russische Sprachkurse, die vom „Comité Luxembourg-URSS“ organisiert wurden. Zugleich distanzierte man sich vom „Ungeist“ eines Pierre Grégoire, was auf eine gewisse Distanz zu den Kreisen des „Luxemburger Wort“ hindeutet und auch zeigt, dass es innerhalb der „Chrëschtlech-Sozial Vollekspartei (CSV) Kritik am Führungsmodell Pierre Grégoires gab, der eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau der Partei spielte.

Der neue Pluralismus zeigte sich in der Zeitung durch die unterschiedliche politische Provenienz ihrer Autor*innen, unter denen etwa Alphonse Arend, Albert Borschette, Alphonse Sprunck, Lucien Koenig, Albert Hoefler, Arthur Useldinger, Emil Marx, Albert Calmes, Marcel Noppeney, Carmen Ennesch, Madeleine Kinnen oder Ry Boisseaux zu finden waren. Unter den weiblichen Namen fand sich auch jener der jungen Jüdin Milly Cahen. Die Themenwahl unterschied sich ebenfalls von jenem anderer katholischer Medien: So wurde, wenn auch in meist paternalistischem Ton, die Emanzipation der Frau diskutiert. Ein Zeichen für die weltoffene und pluralistische Haltung, die man an den Tag legte, war auch die Darstellung des Judentums. 1945 feierte man zum Beispiel den 100. Geburtstag von Gabriel Lippmann, dem französischen Nobelpreisträger Luxemburger Herkunft. 1946 schrieb Frieden über die Lage der jüdischen Deportierten im „Ghetto“ Theresienstadt. Ein literarischer Text ging auf die Judenverfolgung in Österreich nach dem „Anschluss“ ein. Rassismus und Kolonialismus wurden hingegen nicht kritisch betrachtet.

Im Herbst 1945 gab es die ersten Wahlen nach dem Krieg. Pierre Frieden beschrieb in einem Leitartikel, dass die „compétitions inévitables des partis politiques“ wiederbegonnen hätten und die nationale Einheit bedrohten. Spätestens im Frühling 1946 wurden aber die Streitfragen, die die Unio’n auf politischer Ebene ausfocht, besonders in den Fragen der Epuration, auch in die Zeitung hineingetragen. Der sich ankündigende gesellschaftliche Antikommunismus wird das pluralistische Projekt verstärkt in Frage gestellt haben. Dass die „Hêmecht“ ihr Erscheinen im Herbst 1946 mangels Abonnements einstellte, stellte Frieden jedoch in einer kurzen Erklärung nicht als Scheitern dar. Die „Hêmecht“ sei die erste Verwirklichung der nationalen Einheit nach dem Krieg gewesen: „Plus de 120 noms d’écrivains, de poètes, de publicistes et d’amateurs figurent dans les pages de „Hêmecht“, provenant de toutes les directions de la vie intellectuelle.“

Der Artikel basiert zum Teil auf Auszügen aus: Wagener, Renée, Die jüdische Minderheit in Luxemburg und das Gleichheitsprinzip. Staatsbürgerliche Emanzipation vs. staatliche und gesellschaftliche Praxis, vom 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, Dissertation, Luxembourg 2017.



[1] Trausch, Gilbert: Un passé resté vivant. Mélanges d’histoire luxembourgeoise, Luxembourg 1995, S. 289–314.
[2] ANLUX, AE-GtEx-319.
[3] Kaiser, Wolfram: Co-operation of European Catholic politicians in exile in Britain and the USA during the Second World War, in: Journal of Contemporary History 35 (2000) 3, S. 439–465, hier S. 456.
[4] Vgl. Schoentgen, Marc: Von der Rechtspartei zur CSV. Gründung, Konsolidierung und Generationswechsel (1940-1959), in: Gilbert Trausch (Hrsg.), CSV Spiegelbild eines Landes und seiner Politik? Geschichte der Christlich-Sozialen Volkspartei Luxemburgs im 20. Jahrhundert, Luxembourg 2008, S. 241–328, hier S. 303; Majerus, Jean-Marie: Die europäische Rolle der CSV, in: CSV Spiegelbild eines Landes und seiner Politik?, S. 715–740, hier S. 718–721.
[5] D’Hêmecht = La patrie, besonders Ausgaben vom 30.9.1944, 20.1., 27.1., 3.2., 24.2., 9.3., 5.5., 29.9. und 6.10.1945, 12.1. 8.6., und 21.9.1946.

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