EU-Asyl- und Migrationspakt: Politik folgt Praxis

von | 11.04.2024

Das EU-Parlament hat einer Reform des Asyl- und Migrationssystems zugestimmt, die den Abschied von Grundrechten in demokratische Formen zu gießen versucht.

„This pact kills – vote no“: Protest während der Abstimmung über den Asylpakt im Europaparlament. (Foto: EPA-EFE/OLIVIER HOSLET)

Die gute Nachricht zu Beginn: Erst in zwei Jahren tritt die vergangenen Mittwoch im EU-Parlament verabschiedete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in Kraft, die eine massive Einschränkung des Asylrechts bedeutet und es beispielsweise ermöglicht, Menschen ganz legal in Lagern festzuhalten.

Die schlechte Nachricht: Wenn die Reform rechtsgültig wird, ist sie wohl bereits wieder veraltet, weil die Praxis den Regeln einmal mehr vorausgeeilt sein wird. Diese ist längst darauf ausgerichtet, Menschen, die sich aus unsäglichen Lebensbedingungen befreien wollen, um jeden Preis daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Sie wird sich weiter verschärfen und weiter Fakten schaffen, wie sie der Asyl- und Migrationspakt jetzt in rechtliche Formeln zu gießen versucht. Man kann das „Abschottung“, „Bekämpfung von Migration“ oder ähnliches nennen. Das Problem ist, dass die Kritik an einer seit Jahren konsequent unmenschlicher werdenden Politik formelhaft zu werden droht und dann selbst dazu beiträgt, den Blick auf das zu verstellen, was Flüchtlingen im Mittelmeer, in den Lagern Libyens, der Wüste Tunesiens und anderswo widerfährt.

Es ist kaum anzunehmen, dass die EU-Abgeordneten tatsächlich glauben, eine der nun beschlossenen Abschreckungsmaßnahmen könnte verzweifelte Menschen dazu bringen, von dem Versuch, dem Elend zu entrinnen, abzulassen. Obwohl im Jahr 2023 mindestens 3.500 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, obwohl die Überquerung des Darién Gap in Lateinamerika als der absolute Horror gilt, nehmen jahrein, jahraus Hunderttausende weltweit auf der Flucht lebensgefährliche Routen in Kauf.

Der Migrationspakt liefert die Fiktion der Rechtsstaatlichkeit einer Praxis, die mit demokratischen Normen und Werten längst nicht mehr vereinbar ist.

Die nun beschlossene Verschärfung des Asylrechts wird daran nichts ändern. Alle wissen das. Doch sie ziehen es vor zu behaupten, eine EU-weit einheitliche Regelung bringe mehr Rechtssicherheit für die Asylsuchenden. Dabei wird es gerade die in dem Pakt enthaltene „Krisenverordnung“ sein, die den EU-Mitgliedstaaten die Umgehung der eigentlich gültigen Regeln gestattet.

Auch Abkommen mit Ländern wie Tunesien und Ägypten, über die sich zuletzt ein Teil der Abgeordneten echauffierte, weil die EU-Kommission zu den bereits getroffenen „Cash gegen Migrationskontrolle“-Vereinbarungen das Parlament gar nicht erst um seine Meinung befragte, sind ein wichtiger Bestandteil des Pakts. Was mit den Flüchtlingen dort geschieht, spielt eine immer geringere Rolle, denn die Anforderungen an die Sicherheit in einem Drittstaat werden mit dem GEAS stark heruntergeschraubt und so der gängigen Praxis angepasst.

So liefert der Asyl- und Migrationspakt vor allem eines: Die Fiktion der Rechtsstaatlichkeit einer Praxis, die mit demokratischen Normen und Werten längst nicht mehr vereinbar ist. Die Fiktion besteht erstens darin, dass Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU ohnehin nur „als ob“ gelten kann, weil sie nicht auf der zwingenden Geltungskraft eines Souveräns, sondern nur auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen souveränen Staaten beruht. Deshalb halten sich schon jetzt viele Staaten nicht an bestehende Asylregeln, deren Einhaltung der Pakt künftig auf wundersame Weise garantieren soll. Die Fiktion besteht zweitens darin, das Aussetzen von Grundrechten wie dem Asylrecht sei auf demokratische Weise legitim. Das folgt der Logik des autoritären Konstitutionalismus, wie sie in den vergangenen Jahren beispielsweise in Ungarn und Polen zu beobachten war. Längst ist es zur Strategie der europäischen Rechten geworden, den Rechtsstaat unter vermeintlicher Einhaltung verfassungsmäßiger Prinzipien um- und schließlich abzubauen. Die GEAS wird ihnen als EU-politischer Präzedenzfall gelten, mit dem sich das Spiel nun weitertreiben lässt.

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