In den Zentren der EU wird der Brüsseler Sondergipfel als Durchbruch für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik propagiert. An ihrem südöstlichen Rand bilden derweil Chauvinismus und drastische Symbole ein immer verhängnisvolleres Geflecht um die Migrationspolitik.
Wer sich an der Grenzanlage Drávaszabolc den mit Stacheldraht bewehrten, auch nachts durch Scheinwerfer hell erleuchteten Zaun von der ungarischen Seite aus ansehen will, muss erst an Rita Hirsch vorbei. Ob das gelingen wird, ist allerdings die Frage, denn der Durchgang durch das Ungetüm, das englische Medien schlicht als „hungarian wall“ bezeichnen, wird von einer eifrigen Grenzschützerin in dunkelblauer Uniform bewacht. Ihr Namensschild weist sie als Rita Hirsch aus, und der Pass, den sie jetzt zu sehen bekommt, macht ihr keine Freude. Zu alt, zu abgenutzt, zu zerfleddert. „ID“, herrscht sie mich an.
Ich bin an diesem Abend der einzige Passagier in einem gelben kroatischen Minibus. Zwei Rucksäcke, zwei Laptops und eine Plastiktüte voller Zeitungen sind mein Gepäck, das sich Rita Hirsch nun mit professionellem Misstrauen vornimmt. Nicht die beste Ausrüstung, wenn man in ein Land reisen will, dessen Regierung der Pressefreiheit seit Jahren aus vollster Überzeugung immer neue Schranken setzt. Es dauert dann auch, bis Rita Hirsch sich beruhigt hat. Scheinbar. Denn bevor er den Bus verlässt, dreht der Zerberus Orbánistans sich noch einmal um und kläfft, bezogen auf den Zustand meines Reisepasses: „Passport Scheiße!“ Auch eine Begrüßung.
Vermutlich ohne seinen Pass zeigen zu müssen, passiert einen Tag später Ministerpräsident Viktor Orbán die Grenze, die an immer mehr Stellen durch Zäune umfasst wird. Ein ambivalenter Tag steht ihm bevor: Zuerst wird er in Bamberg auf einer Versammlung der bayrischen Christsozialen (CSU) wie ein Held empfangen. Endlich einmal trifft er auch außerhalb Ungarns auf Dankbarkeit für seine selbstgewählte Rolle als Vorkämpfer des christlichen Abendlands. Dann geht es weiter nach Brüssel, zum Flüchtlings-Sondergipfel der EU. Dort sehen die meisten Regierungschefs Orbán als populistischen Scharfmacher und daher als Gefahr für die Werte Europas. Gegen seinen und den Widerstand einiger weniger Kollegen beschließt man einen Plan für das, was einmal die gemeinsame Flüchtlingspolitik werden soll.
Der erste EU-Vertreter, der sich danach auf die Balkanroute begibt, ist Johannes Hahn. Nicht nach Ungarn kommt er, sondern nach Serbien, in das Land, das mit dem Bau der „hungarian wall“ unmittelbar in den Blickpunkt rückte. Die Mission des österreichischen Erweiterungskommissar ist auch das Wort der Stunde: „hot spots“. Es bezeichnet den Grundpfeiler des neuen Konzepts, Aufnahmezentren für Flüchtlinge an neuralgischen Punkten zu errichten, betrieben von lokalen Autoritäten, finanziert aus Brüssel. Pufferzonen, wenn man so will, um ankommende Migranten an den Rändern der EU zu kanalisieren. Italien und Griechenland sind vorgesehene Standorte, möglicherweise auch Bulgarien und Serbien. In Belgrad hat Hahn also Gesprächsbedarf.
In Zagreb wittert man Verschwörung: die Nachbarn Ungarn und Serbien arbeiten zusammen, um Kroatien zu schaden.
Selbstverständlich reist der EU-Kommissar per Flugzeug an. Wäre Hahn mit dem Auto gekommen, er hätte womöglich seine Definition von Stau ändern müssen. Während der Tage vor seinem Besuch bilden sich an der serbisch-kroatischen Grenze enorme Schlangen. Erst verweigert Kroatien serbischem Güterverkehr die Einfahrt. Serbien, seit 2012 offiziell EU-Beitrittskandidat, protestiert in Brüssel schriftlich gegen die „beträchtliche Schädigung der serbischen Wirtschaft.“ Nach zwischenzeitlicher Entspannung werden die Grenzen erneut geschlossen – diesmal auch für serbische PKW und Bürger. Worauf Serbien seinerseits kroatische Güter und LKW nicht mehr ins Land lässt. Erst als der EU-Kommissar Druck auf beide Regierungen ausübt, werden die Maßnahmen aufgehoben.
Was dies mit Flüchtlingen und ihren Routen nach Nord- und Westeuropa zu tun hat? Alles! Während sich Brüssel auf den Sondergipfel vorbereitet und die essenzielle Frage nach festen Aufnahmequoten zu beantworten hofft, zitiert die kroatische Zeitung „Večernji list“ Innenminister Ranko Ostojic: Die Grenzen blieben exakt so lange geschlossen, so der Sozialdemokrat, bis Serbien Migranten wieder über Ungarn weiterleite statt über Kroatien. Dass Belgrad jeden Einfluss auf die Routen der Flüchtlinge zurückweist, die seit Mitte September zu Zehntausenden den Weg über Kroatien wählen, fällt in Zagreb nicht ins Gewicht. Zumindest wiegt es nicht gegen die Annahme einer Verschwörung auf: Die Nachbarn Ungarn und Serbien hätten sich zusammengetan, um Kroatien zu schaden.
Vielleicht muss man, um diese Dynamik zu verstehen, den Ort aufsuchen, an dem das Domino-Spiel der sich schließenden Grenzen seinen Ausgang nahm. Der Übergang Röszke-Horgoš, bis Mitte September das letzte Schlupfloch für Migranten, um, von Serbien kommend, ins Schengen-Gebiet zu gelangen, bevor Budapest seinen vier Meter hohen Zaun fertigstellte. Die Grenze liegt jetzt still und verwaist da, die Schranken sind halb geöffnet, nichts regt sich dahinter beim Gitter-Tor, das tagelang in den Nachrichten- Sendungen der Welt auftauchte. Hundert Meter vor der Grenze ist die Straße gesperrt. Zwei junge Polizisten tun hier Dienst. „Migranten?“, wiederholt der eine meine Frage. „Nein, die sind hier nicht mehr.“
Mit einem zufälligen Bekannten aus dem nahen Städtchen Mórahalom unternehme ich einen Ausflug zur Grenze. Der Mann hat einen Jeep, was die Fortbewegung auf den holprigen Feldwegen erleichtert. Und: Er ist ein bekanntes Gesicht hier, sodass Militärs und Polizisten, die immer wieder hinter dem Zaun auftauchen, uns durchwinken. Auf dem Weg haben wir eine Ansammlung schwarzer Zelte am Wegrand passiert, dort wo noch vor kurzem Migranten aufgefangen wurden, und eine Biegung später eine provisorische Militär-Baracke, vor der zwei Soldaten stehen. In Sichtweite des Zauns ziehen sich sandige Trampelpfade durch die flache Landschaft, an deren Rand einem Fasane, Hasen oder ein Reh begegnen können, oder ein Haufen hastig zurückgelassener Kleidungsstücke. Röszke, das ist wie ein Museum für allerneueste Geschichte: die Geschichte der Balkanroute im Spätsommer 2015.
Die Bilder der September-Wochen haben sich ins Gedächtnis gebrannt: Migranten bewarfen die ungarischen Polizisten mit allem, was sie finden konnten, und durchbrachen eine Absperrung. Auf Video- Aufnahmen ist auch zu hören, wie manche „allahu akhbar“ schreien. Einheiten in schwarzer Kampfmontur griffen zu Wasserwerfern und Tränengas, um sie zurückzudrängen. Hat man hier etwa auch die finsteren Konturen künftiger Auseinandersetzungen gesehen, deren Protagonisten sich spinnefeind sind, in einer bizarren Kooperation aber jeder libertären Strömung in Europa die Luft abdrücken könnten? Was, wenn rabiater Orbánscher Identitarismus und reaktionärer Islamismus Schule machen?
Die Lehre von Röszke ist auch die: Wenn ein Ort aus dem Fokus gerät, rücken dafür andere in den Mittelpunkt. Šid, ein Städtchen in Serbien etwa, kurz vor der kroatischen Grenze. Zunächst dringt ein gellender Hilferuf durch die sozialen Netzwerke, über die sich die meist freiwilligen Helfer koordinieren. Er kommt direkt aus den Feldern, die sich zwischen Šid und der Grenze erstrecken. Weil diese auf Geheiß Zagrebs geschlossen ist, spielt sich dort nun das folgende Szenario ab: „Tausende von Menschen sitzen auf der serbischen Seite fest, 6 km von Šid“, teilt eine kroatische Aktivistin auf Facebook mit. „Die Maisfelder haben sich in Müllfelder verwandelt, ganz ohne sanitäre Einrichtungen, mit Ausnahme von ein paar Toiletten.“
In den gleichen Kanälen kursiert in diesen Tagen eine Karte. In verschiedenen Farben sind dort die kritischen Punkte entlang der Migrationsrouten nah Europa verzeichnet. Je dunkler, desto nötiger wird Hilfe gebraucht. Zwei Orte sind dort knallrot markiert: Izmir und Šid. „Die Freiwilligen brauchen alles hier, Essen, Wasser, warme Kleidung, Schlafsäcke, Decken, Zelte“, geht der Aufruf weiter. „Es gibt im Moment nur drei Ärzte. Die letzte Nacht war kalt, unter 10 Grad, und wenn sich die Situation vor Donnerstag nicht ändert, wenn Regen vorausgesagt ist, könnte das wirklich gefährlich werden.“ Besonders problematisch ist, dass das Notstands-Gebiet keinerlei Adresse hat, sondern „in the middle of nowhere“ liegt. Später wird im nahen Bapska die Grenze geöffnet, und die Flüchtlinge können passieren. Manche von ihnen haben zwei Tage in den Feldern ausgeharrt.
Es ist nicht so, dass solche Zustände nach der Vermittlung von EU-Kommissar Hahn der Vergangenheit angehören. Im Gegenteil: Kroatien will sich die Option offen halten, die Übergänge erneut zu sperren, wann immer man das für angebracht halte. Und Ungarn? In diesen Tagen soll der Zaun an der Grenze zu Kroatien fertig sein. Bislang wurden Zehntausende Flüchtlinge über einen Korridor an die österreichische Grenze gebracht. Ein Gerücht hält sich, wonach Budapest diesen Korridor demnächst dichtmachen will. Welche Auswirkungen wird das auf die Migrationsrouten haben? Wird nun Rumänien in den Blickpunkt rücken, oder doch eher die Gegend an der östlichen Adriaküste: Kroatien, Montenegro und Albanien, aber auch Bosnien-Herzegovina und das Kosovo.
Auf einmal scheint utopisch, was bis vor kurzem Alltag war: ein Europa der offenen Grenzen.
László Toroczkai dürfte es egal sein, solange nur Ungarn, solange sein Dorf verschont bleibt. Die 4.000-Seelen-Gemeinde Ásotthalom liegt westlich von Röszke, ein paar Kilometer nur von der serbischen Grenze bei Subotica. László Toroczkai ist der Bürgermeister des Orts. Er gilt als geistiger Vater des Grenzzauns, seit er Anfang des Jahres als erster lautstark dafür plädierte. Toroczkai, 37, ist einer der führenden Köpfe der ultranationalistischen „Bewegung der 64 Grafschaften“ mit guten Beziehungen zu Jobbik. Die Liste seiner Beteiligung bei rechtsextremen Gruppen und Aktionen ist lang. Gut 70 Prozent der Bewohner haben ihn gewählt.
„Ungarn ist eine schlechte Wahl für Illegale. Und Ásotthalom ist die Schlechteste.“ Das sagt László Toroczkai in einem selbst montierten Video, das er just an dem Tag auf Youtube veröffentlichte, als die Orbán-Regierung in Röszke das letzte Schlupfloch dichtmachte und illegalen Grenzübertritt per Gesetz zur Straftat erklärte. „Botschaft an illegale Einwanderer“, heißt der zweieinhalbminütige Film. Darin sieht man Mitglieder der lokalen Hilfseinheiten, die in Ásotthalom die Polizei unterstützen, die zu Lande, zu Pferde und in der Luft Jagd auf potenzielle Migranten machen, die es doch irgendwie geschafft haben, nach Ungarn zu kommen. Man sieht knapp zwei Dutzend wild entschlossen blickende Männer, meist in Tarnhosen, die sich am Ende des Films um den Bürgermeister scharen. Mit Zuschüssen des Landwirtschaftsministeriums finanziert Toroczkai diese Hilfs-Sheriffs, von denen bis auf drei alle unbewaffnet sind.
Ásotthalom wirkt auf den ersten Blick nicht unfreundlich. Das Dorf liegt zwischen Wiesen, Laubwald und Obstgärten, eingeschossige Häuser hinter flachen Zäunen säumen die Straßen, auf denen man mehr Fahrräder als Autos sieht. Selbst ein Pferdefuhrwerk zieht vorbei. Das Zentrum besteht aus der Kirche, einem Besen-Geschäft, einer Pizzeria und einer Bar. Eine Informationstafel lädt zum Radwandern, zur Babykleidungs-Börse und zu Massagen ein. Das Gemeindehaus, erklärt eine verblichene Tafel, wurde mit 40 Millionen Forint von der EU bezuschusst. An der Bushaltestelle fahren einige Milizionäre in einer weißen Streife vorbei. Polgárörség steht darauf, was soviel wie Bürgerwehr bedeutet. Seit es keine Migranten mehr gibt in Ásotthalom, werden die Trupps von anderen Problemen geplagt. Einer der Hilfs-Sheriffs ist auf der Suche nach einer Apotheke. Jemand an der Bushaltestelle weist ihm den Weg.
Schräg gegenüber liegt der Amtssitz des Bürgermeisters. Lászlo Toroczkai ist verreist. Ein Mitarbeiter ruft die Vertreterin an, Veronika Dobó, die Englisch spricht. Auch sie ist auswärtig beschäftigt. Fragen will sie aber gerne beantworten, per E-Mail. Von der parteilosen Vize-Bürgermeisterin gibt es ein paar Zeitungs-Zitate zum Thema Flüchtlinge, datierend aus der Zeit, als die Bewohner sie beständig in Ásotthalom antrafen. Die Motive, die daraus sprechen, sind deutlich: Angst, Unkenntnis und ein Gefühl der Ohnmacht. „Was wir befürchten, ist Terrorismus. Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn man jeden Tag Kolonnen unbekannter Menschen durch sein Dorf ziehen sieht.“ Oder: „Sie haben keinen Respekt für andere Kulturen, und wir können nicht unterscheiden, wer ein Terrorist ist und wer nicht.“ Das Fazit: „Es wäre besser, wenn niemand von ihnen gekommen wäre.“ Was Veronika Dobó von dem Video ihres Vorgesetzten hält, will sie nicht sagen. „Es tut mir leid, ich kann keine Fragen an Stelle unseres Bürgermeisters beantworten“, mailt sie am nächsten Tag zurück.
Unterdessen scheint die Idee des Zauns nicht nur in Ungarn Zustimmung zu finden. In Bulgarien wurde an der Grenze zur Türkei bereits ein kurzer Abschnitt errichtet, der bald erweitert werden soll. Und wenn es nach Manfred Weber geht, der für die bayrische CSU im Europaparlament sitzt und dort die christdemokratische Fraktion leitet, ist es an der Zeit, dass andere Länder Ungarns Beispiel folgen. Pünktlich zum Besuch Viktor Orbáns bei der CSU sagt Weber in einem Interview, es werde in Europa mehr Zäune geben müssen, wenn die Außengrenzen nicht wirkungsvoller geschützt würden. Seltsam ist, dass auf einmal antiquiert erscheint, utopisch gar, was bis vor kurzem Alltag war: das Europa der offenen Grenzen.
Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, als der Zug über die nord-ungarische Ebene rast. Österreich ist nicht mehr weit. Mehreren Tweets von Helfern ist zu entnehmen, dass in der vergangenen Nacht mehrere Tausend Menschen hier angekommen und zu Fuß zum Übergang in Nickelsdorf gelaufen sind. Nun, an einem nasskalten Morgen, liegt der Grenzbahnhof Hegyeshalom wie verlassen da. Kurz befürchte ich, dass mit einem Mal Rita Hirsch zusteigen könnte, wie eine Fata Morgana aus dem Reich der Zäune. Sie wird wohl Wichtigeres zu tun haben.