Ein weiteres Kollektiv soll den „tiers-lieu culturel“ Bâtiment 4 verlassen. Diesmal trifft es die wohl größten Kritiker*innen von Esch (2022): Richtung22 soll bis Ende Mai ausziehen, will aber bleiben.
Seit Esch-Alzette 2022 Kulturhauptstadt Europas war, dient das „Bâtiment 4“, ein ehemaliges Verwaltungsgebäude von Arcelormittal als sogenannter „tiers-lieu culturel“: Ein Ort, an dem Künstler*innen ihre Ateliers haben, sich vernetzen und niederschwellig Ausstellungen und Veranstaltungen organisieren können. Eine der lautstärksten Gruppen die dort angesiedelt ist, ist Richtung22, bekannt für ihre Theaterstücke und Filme, die sich kritisch mit den Luxemburger Institutionen und Medien beschäftigen. Das Kollektiv wurde nun vom Verein frEsch aufgefordert, das Gebäude bis Ende Mai zu verlassen. 2023 waren bereits den Kollektiven Bunker und Cell die Nutzung des Gebäudes untersagt worden (siehe woxx 1739).
Richtung22 hat diesen Rauswurf öffentlich gemacht. Auf sozialen Medien veröffentlichten die Künstler*innen Posts, in denen sie sich wütend zeigen. Aber auch an den Verwaltungsrat der frEsch asbl und die Mitglieder des Gemeinderats haben sie sich gewandt. In einem ausführlichen Dossier stellt das Kollektiv sich und seine Arbeit vor, allen voran die Aktionen zu Esch 2022 und die diesjährigen Projekte – Website, Theaterstück und Film – zu RTL (siehe woxx 1773). Trotz mehrmaliger Nachfrage wurden den Künstler*innen von frEsch bisher keine Gründe genannt, warum sie gehen müssen.
Von einem Mitglied des Verwaltungsrats von frEsch hat die woxx die offiziellen Kündigungsgründe erfahren. Der Vertrag mit Richtung22 sei nicht verlängert worden, weil das Kollektiv gegen die internen Verhaltensregeln verstoßen habe, nicht oft anwesend sei und Schlösser ausgewechselt habe. Richtung22 widerspricht: Es existiere überhaupt kein internes Regelwerk – außer jenes, das die Künstler*innen im Bâtiment 4 unter sich ausgemacht hatten und das Anfang letzten Jahres von frEsch außer Kraft gesetzt worden sei. Die Schlösser habe man ausgetauscht, weil die vorhandenen geklemmt hätten und man befürchtete, kurz vor der Premiere des neusten Theaterstücks aus den eigenen Räumen ausgesperrt zu werden.
„Halbwahrheiten und Horrorgeschichten“
Auch bei anderen Künstler*innen ist die geringe Anwesenheit ein Grund, der von frEsch genannt wird, um deren Verträge nicht zu verlängern. Das wirkt logisch – besser ein Raum wird genutzt als dass er leer steht. Doch Richtung22 sei oft anwesend gewesen, heißt es von den Künstler*innen: „Für Esch 2022 hatten wir ein großes Budget und konnten durchgängig mit vier Leuten anwesend sein. Da unsere Finanzierung sich seitdem verringert hat, sind wir weniger regelmäßig da: Im Januar ungefähr zwei Tage in der Woche, von Februar bis Mitte März täglich, danach sporadischer, demnächst wieder mehr.“ Laut der Einschätzung des Kollektivs seien „Halbwahrheiten und Horrorgeschichten“ verbreitet worden, um einen Grund zu haben, es aus dem Gebäude zu werfen.
Noch im November 2023 hatten Richtung22 und frEsch ein gemeinsames Treffen – es stellt sich die Frage, warum die Kritikpunkte zu diesem Zeitpunkt nicht angesprochen wurden. Transparenz scheint frEsch ohnehin nicht sehr wichtig zu nehmen: Während die Website des Bâtiment 4 immer noch im Zustand von 2022 ist, wurde jene des Vereins von einem Online-Casino gekapert.
Die woxx hat eine Stellungnahme des Escher Kulturschöffen Pim Knaff (DP) angefragt, die aber bis Redaktionsschluss leider unbeantwortet blieb. Richtung22 hat bereits angedeutet, das Gebäude nicht kampflos verlassen zu wollen. Möglicherweise steht Esch also ein weiteres Mal eine Besetzung – wie bis 1996 die des Schlachthofs – ins Haus.
Update, 25.04.2024 16h45: Nach Redaktionsschluss der Printausgabe erreichte uns eine Pressemitteilung von FrEsch. Darin betonte der Verein, Richtung 22 sei nicht „rausgeworfen“ worden, sondern der Vertrag sei lediglich nicht verlängert worden. Diese Entscheidung sei nach einer im März 2024 durchgeführten „Analyse“ entschieden worden. Die Kriterien hierfür seien Frequenz und Benutzung der Räumlichkeiten, Beiträge zum Beitrag zum Leben des „tiers-lieu culturel“, Teilnahme am kulturellen Leben von Esch, Teilnahme an der Veränderung des Stadtbildes, Respekt der Sicherheit, Sauberkeit und Aufräumen der Küche sowie der Gemeinschaftsräume nach deren Nutzung. FrEsch betont auch, die Entscheidungen über die (Nicht-)Verlängerung der Nutzungsverträge mit den einzelnen Akteur*innen des Bâtiment 4 sei einstimmig im Verwaltungsrat getätigt worden. Laut Informationen, die der woxx vorliegen, waren drei Mitglieder abwesend, wovon sich eins mittels Vollmacht vertreten ließ.