Geschichte: Mai 68: Das Persönliche ist politisch

Im letzten von drei Radio-Rundtischgesprächen zum Mai 68, die in Zusammenarbeit mit dem Radio 100komma7 entstanden sind, haben wir mit Berthe Lutgen und Flo Weimerskirch über die Frauenbewegung und Wohngemeinschaften gesprochen.

Beim Radio-Rundtischgespräch am 1. Juli erzählten Berthe Lutgen und Flo Weimerskirch von ihrem Engagement im MLF. (Foto: 100,7)

Berthe Lutgen, Sie waren 1971 an der Gründung des Mouvement de Libération des Femmes (MLF) beteiligt. Was hat Sie damals zu diesem Schritt bewegt und wie haben Sie die Anfänge des MLF erlebt?


Berthe Lutgen: Ich habe damals ein paar Frauen gefragt, ob sie Interesse daran hätten, eine Bewegung ins Leben zu rufen, um für Frauenrechte zu kämpfen. Viele Menschen wollten helfen, die Welt zum Besseren zu verändern und das hat den Mai 1968 letztlich auch so interessant und hoffnungsvoll gemacht. Heutzutage ist das nicht mehr der Fall. Heute gibt es Großkonzerne und Lobbys und es ist einfach nicht mehr möglich, in dieser Weise Einfluss zu nehmen. Jetzt bestimmen Lobbys über Abgase, Pestizide oder, zum Beispiel in den USA, über Waffengesetze. Selbst Politiker haben jetzt weniger Macht.

Gab es in dieser Zeit ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass etwas verändert werden müsste oder war es vielmehr so, dass die Menschen idealistischer waren?


Flo Weimerskirch: Ich störe mich an dem Begriff Idealismus. Veränderungen enstehen nicht dadurch, dass sich ein paar Idealisten zusammentun und sich engagieren. Klar waren wir damals idealistisch, aber das reicht nicht. Ein derart leichtes Rezept, um die Welt zu ändern, gibt es leider nicht. Es waren ganz bestimmte Rahmenbedingungen nötig, damit die Frauenfrage damals wieder zum Thema wurde. Immerhin war sie nichts Neues, es gab sie bereits im Mittelalter. Dass sie damals wieder aufkam, lag an den gesellschaftlichen Widersprüchen. Aufgrund technischer Errungenschaften wurde die Hausarbeit mechanisiert und plötzlich konnten auch Frauen als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Eine weitere Veränderung: Mit dem Aufkommen der Pille konnten Frauen ab den 1960er-Jahren ihre Reproduktionsfähigkeit erstmals steuern. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Verhütungsmethode allen gleichermaßen zugänglich war. Was meine persönliche Situation betrifft: Ich habe mit 13 Jahren erfahren, dass der Ehemann meiner Mutter nicht mein Vater ist. Sie war mit 22 Jahren ungewollt schwanger geworden. Ich wurde also schon sehr früh mit der Frage der Reproduktionsrechte konfrontiert. Solche Gesellschaftsbedingungen haben die Betroffenen zum Widerstand bewegt. In der strukturellen Gewalt des Patriarchats in Verbindung mit dem Kapitalismus wird gerne so getan, als sei Sexualität Privatsache – dabei ist sie de facto durch Gesetze geregelt. Aus diesem Grund ist in jener Zeit auch die Homosexuellenbewegung entstanden.

Welches waren damals die Hauptforderungen des MLF?


B.L.: Eine der Hauptforderungen, wie Flo bereits sagte, war die freie Verfügung über den eigenen Körper. Wir haben uns für eine Änderung des Eherechts stark gemacht, die 1974 dann auch umgesetzt wurde. Damit wurden Frauen ihrem Ehepartner gesetzlich gleichgestellt. Eine weitere wichtige Forderung bestand darin, den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch zu entfernen. Sie wurde allerdings erst 2014 umgesetzt. Kurz darauf wurde die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Ich habe aber die Befürchtung, dass die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und der gleichgeschlechtlichen Ehe durch die nächste Regierung wieder rückgängig gemacht werden könnten.

„Die Frauenbewegung arbeitet nicht gegen Männer, sondern setzt sich für die schwächsten Glieder der Gesellschaft ein.“ (Flo Weimerskirch)

F.W.: Was die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe angeht, begrüße ich zwar die so entstandene Gleichstellung, stehe einer derart konservativen Beziehungsform aber insgesamt skeptisch gegenüber. Der Frauen- und Homosexuellenbewegung ging es nämlich gerade um ein subversiveres Verständnis von Zusammenleben. In der Gesetzgebung wird stattdessen nur auf Paarbeziehungen Rücksicht genommen. Unserer Forderung nach freier Sexualität, wurde keine Beachtung geschenkt. Dabei sollte jeder das Recht haben, so zu leben, wie er will.

Das Persönliche ist politisch: Gab es denn in Ihren Leben ausschlaggebende Ereignisse, die Sie dazu motiviert haben, sich zu politisieren?


F.W.: Neben meiner bereits erwähnten familiären Situation spielte in meinem Fall auch der Umstand eine Rolle, dass ich in eine Generation hineingeboren wurde, für die der Frauenbefreiungskampf einfach dazugehörte. Ich hatte zum Beispiel linke Lehrer und bewegte mich in einem trotzkistischen Umfeld.

B.L.: Bei einer meiner ersten Kunstausstellungen ging es mir darum, den Objektcharakter der Frau in der Werbung zu hinterfragen. In einem Zeitungsartikel wurde eines meiner Werke damals als feministisches Manifest bezeichnet. Das Ganze blieb allerdings ohne Folgen. Das war der Moment, in dem ich mir sagte: „Es muss eine Vereinigung gegründet werden, sonst wird sich nie etwas ändern“.

F.W.: Ich wollte noch ergänzen, dass mir besonders eine theoretische Auseinandersetzung die Augen dafür geöffnet hat, dass das Persönliche politisch ist. Als ich Milletts „Sexus und Herrschaft“ las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Dieses Buch, sowie später auch die Werke von Bourdieu, haben mein Bewusstsein für strukturelle Gewalt wesentlich geschärft.

Haben Sie den Eindruck, dass es um 1968 ein stärkeres Bewusstsein dafür gab, dass das Private politisch ist, als das heute der Fall ist?


F.W.: Also 68 gab es noch ein sehr geringes Bewusstsein dafür. Die Frauenbewegung wurde ja gerade deshalb gegründet, weil Frauen im öffentlichen Raum wenig Beachtung erfuhren. Ein allgemeines Bewusstsein für die Frauenfrage kam erst viel später auf.

B.L.: Heutzutage sind Frauen den Männern zwar gesetzlich gleichgestellt, doch neben Arbeit, Haushalt und Kindererziehung bleibt ihnen oft keine Zeit, sich politisch zu bilden und zu engagieren. Früher durften sie nicht arbeiten und heute sind sie überlastet; im Gegensatz zu den Männern sind ihre Möglichkeiten eingeschränkt. Was Beziehungen betrifft, sind Frauen und Männer also immer noch nicht gleichgestellt.

F.W.: Ich bin der Meinung, dass wir als Frauenbewegung die Sache nicht zu Ende geführt haben. Was unbedingt nötig wäre und was wir immer gefordert haben, ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Es würde völlig ausreichen, wenn wir 20 Stunden die Woche arbeiten. Das würde sehr viel dazu beitragen, dass sich Männer und Frauen gleichermaßen um den Haushalt kümmern und sich einmischen könnten. Man braucht nun mal ein gewisses Zeitkonto, um sich engagieren zu können. Dafür müssen wir mit Männern und Gewerkschaften zusammenkämpfen. Die Frauenbewegung arbeitet nicht gegen Männer, sondern setzt sich für die schwächsten Glieder der Gesellschaft ein.

B.L.: Ich teile Flos Meinung, dass eine Arbeitszeitverkürzung sowohl für Frauen als auch für Männer absolut notwendig ist. Bei langen Arbeitszeiten geht es schließlich auch darum, die Bevölkerung davon abzuhalten, sich zu engagieren. Ich denke schon, dass das so gewollt ist. Solange das so ist, sollten sich Paare wenigstens die Hausarbeit gleichmäßig untereinander aufteilen.

Bei jungen Frauen, die ja von den Errungenschaften der Frauenbewegung profitieren, ist der Begriff Feminismus oft negativ konnotiert. Wie ist das zu erklären?


B.L.: Feminismus war eine Zeit lang verpönt, aber ich habe den Eindruck, dass er jetzt wieder einen Aufschwung erlebt. Sehr viele junge Menschen beziehen wieder Position zu feministischen Belangen; nicht zuletzt durch die MeToo-Bewegung hat der Feminismus wieder einen gewissen Glanz bekommen. Aber wie ich vorhin schon sagte, wenn heute nicht mehr so viele Frauen in Organisationen tätig sind, dann deshalb, weil ihnen dazu die Zeit fehlt. Ich bin auch nicht der Ansicht, dass junge Frauen sich bei älteren Generationen für deren Engagement bedanken müssen. Sie sollen ruhig ihre Vorteile genießen und, wenn sie Zeit haben, weiterkämpfen.

„Bei langen Arbeitszeiten geht es schließlich auch darum, die Bevölkerung davon abzuhalten, sich zu engagieren.“ (Berthe Lutgen)

F.W.: Jede Forderung nach Gleichheit ist verpönt. Es gibt immer Kräfte, die sich dagegen stellen. Was Berthe gerade gesagt hat, finde ich sehr schön. Und es sind nicht nur die Frauen, die von feministischen Errungenschaften profitieren, sondern auch die Männer. Ich persönlich kenne keine jungen Menschen, die ein Problem mit Feminismus haben. Ich wohne momentan mit jungen Leuten in einer Wohngemeinschaft: Wenn es um die Aufteilung der Hausarbeit geht, fällt mir ein viel ungezwungenerer Umgang auf, als noch zu unserer Zeit.

Stichwort Wohngemeinschaften: Der Mai 68 hat auch neue Lebensformen mit sich gebracht. Haben Sie beide in WGs gewohnt?


B.L.: Ich selbst nicht, ich fand das aber immer eine gute Sache. Die erste Wohngemeinschaft damals war die Kommune 1 in Berlin. Das war zugleich auch eine politische Protestaktion gegen die Kleinfamilie. Heute ist es so, dass die meisten WGs aus einer finanziellen Notsituation heraus entstehen. Die wenigsten jungen Menschen können sich hierzulande noch eine eigene Wohnung leisten.

F.W.: Ich habe damals in einer politisch ausgerichteten Kommune gelebt. Im Gegensatz zur Wohngemeinschaft wird bei der Kommune die Wohnform an sich zum Politikum. Ich habe damals zusammen mit meinen zehn Mitbewohnern ein Konzept entwickelt, das darin bestand, dass wir unser gesamtes Einkommen zusammengelegt haben. Das hatte nicht nur eine gemeinsame Kasse zur Folge, sondern war auch eine klare Absage an Privatbesitz. Es war der Versuch, ein solidarischeres Leben zu führen.

Moderation: Valerija Berdi (100,7); 
Tessie Jakobs (woxx)

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Das Rundtischgespräch wurde am 1. Juli auf Radio 100komma7 gesendet.
Shortlink zum MP3: woxx.eu/mlf68

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