Im Kino: La Llorona

In „La Llorona“ greift der guatemaltekische Regisseur und Drehbuchautor Jayro Bustamante 
auf Horrorkonventionen zurück, um von den Nachwirkungen des Genozids an Teilen der indigenen Maya-Bevölkerung zu erzählen.

Carmen und Natalia zweifeln zunehmend an Enriques Unschuld. (© www.silence-action.com)

Es bedarf ein wenig Zeit und Geduld, um sich in „La Llorona“ zurechtzufinden. Auf eine lange Szene von betenden Frauen folgt eine noch viel längere, die einen älteren Mann zeigt, der wach in seinem Bett liegt. Immer wieder ist ein Weinen zu hören, der Mann scheint hin- und hergerissen, ob und wie er darauf reagieren soll. Als er schlussendlich aufsteht, um dem Geräusch nachzugehen, entpuppt es sich als Hirngespinst. Ob der Mann wohl an Alzheimer leidet? Oder es in dem Anwesen etwa spukt?

Weder der Kontext dieser Szenen ist klar, noch ist eine eindeutige Interpretation möglich. Wie noch in zahlreichen Szenen danach verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Auf diese Weise macht der Regisseur und Drehbuchautor des Films, Jayro Bustamante, von Anfang an klar, dass es in seinem Film mehr um das Innenleben seiner Figuren als um äußere Geschehnisse geht.

Ein wenig Kontext gibt Bustamante dem Publikum dann doch: Der pensionierte General Enrique Monteverde (Julio Diaz) steht vor Gericht. Anlass ist der Genozid an Teilen der indigenen Maya-Bevölkerung während des Bürgerkriegs in Guatemala. Aufgrund einer Zeug*innenaussage wird er am Ende verurteilt, das Urteil jedoch anschließend für ungültig erklärt. Bei Monteverde handelt es sich um eine fiktionale Version des früheren Präsidenten Guatemalas, Efraín Ríos Montt, dem vorgeworfen wird, zwischen 1982 und 1983 tausende Tode befehligt zu haben. Ríos Montt wurde 2013 wegen Völkermordes verurteilt, nur um wenige Tage später vom guatemaltekischen Verfassungsgericht wieder freigesprochen zu werden.

In Folge des Gerichtsprozesses brechen in Bustamentes Film Proteste aus, tagelang belagern Demonstrant*innen Monteverdes Familienanwesen. Ebenso wie dieses zu einer Art Gefängnis wird, wird der Ex-Diktator zunehmend von seinem schlechten Gewissen geplagt. Doch nicht nur Monteverde wird von seiner Vergangenheit verfolgt – seine Familienmitglieder, allen voran seine Ehefrau Carmen (Margarita Kenefic) und seine Tochter Natalia (Sabrina De La Hoz) zweifeln zunehmend an seiner Unschuld.

Bei der titelgebenden „Llorona“ (auf Deutsch: die Weinende) handelt es sich laut einer lateinamerikanischen Legende um eine Frau, die ihre Kinder ertränkte, sich anschließend selbst umbrachte und in der Folge als Geist um ihre Kinder weinte. Bustamante durchzieht seinen Film mit Motiven dieser Erzählung: Neben dem zu hörenden Weinen spielen auch Wasser sowie der Tod im Film eine große Rolle.

All dies macht „La Llorona“ weniger zu einer historischen Erzählung als zu einem Psychothriller. Um den bedrückenden und desorientierenden Effekt zu erhöhen, wird der Film von streng gerahmten, statischen Nahaufnahmen dominiert. Oft wird uns ein idealer Zuschauer*innenstandpunkt verwehrt, Establishing-Shots sucht man im Film vergebens. Bustamante verzichtet zudem auf einen konventionellen Soundtrack. Im Hintergrund sind jedoch beständig die Menschenmassen vor dem Haus zu hören – ihre wütenden Rufe, ihr Sprechgesang und Trommeln. Mit zahlreichen weiteren Elementen wird das Publikum direkt ins Erleben der Familienmitglieder und ihrer Angestellten versetzt, deren Leben sich zunehmend zu einem Albtraum entwickelt.

„La Llorona“ feierte 2019 bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere und wurde dort mit dem Venice Days Director Award“ ausgezeichnet.

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Bewertung der woxx : XXX

Richtigstellung: In der Printversion des Artikels steht fälschlicherweise, „La Llorona“ sei in Venedig zum besten Film gekürt worden.


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