Islamistischer Terror
: Das Management 
der Barbarei


Die Anschläge von Paris und Brüssel sind Teil einer bereits 2004 ausgearbeiteten Strategie. Anders als in der Vergangenheit al-Qaida will der Islamische Staat auf symbolträchtige Aktionen in Europa weitgehend verzichten – was zählt sind Effizienz und Grausamkeit.

Am Ende kommt nach ihrer Überzeugung die apokalyptische Schlacht: Kämpfer des Islamischen Staats.(FOTO: INTERNET)

Am Ende kommt nach ihrer Überzeugung die apokalyptische Schlacht: Kämpfer des Islamischen Staats.(Foto: Internet)

„Europe’s new normal“ titelte das Nachrichtenmagazin The Economist wenige Tage nach den Brüsseler Terrorattacken. Was mancherorts noch als dunkles Orakel verstanden werden mag, gilt in Brüssel als nüchterne Charakterisierung der Realität. Denn in vielerlei Hinsicht haben sich die Bewohner der Stadt bereits seit langem an eine neue Situation gewöhnt. Etwa an die schwer bewaffneten Soldaten vor wichtigen Gebäuden und auf den zentralen Plätzen der Stadt.

Hicham Chaib, einst Aktivist der inzwischen aufgelösten salafistischen Gruppe „Sharia4Belgium“, die Belgien in einen islamischen Staat umwandeln wollte, drohte Ende März jedoch nicht nur der Regierung seines Herkunftslands. Chaib, der inzwischen zum blutrünstigen Henker beim „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien und dem Irak avanciert ist, sagte in einem Video, die Brüsseler Anschläge seien lediglich ein Vorgeschmack auf das gewesen, was noch auf Europa zukommen werde, würde die Bombardierung der Stellungen des IS nicht eingestellt.

In der Tat sehen verschiedene Experten die militärischen Rückschläge, die der IS in den vergangenen Monaten hinnehmen musste, wie auch den damit verbundenen Geländeverlust als Grund dafür, dass Europa in den vergangenen Monaten so bedrohlich ins Visier des IS gerückt ist. Denn das „Kalifat“ musste sich längst nicht nur vom symbolträchtigen Palmyra trennen. Rund 40 Prozent des einstigen Territoriums im Irak soll der IS nach Angaben des US-Militärs inzwischen wieder eingebüßt haben. Auch in Syrien sind es mittlerweile annähernd 20 Prozent. Durch kurdische, syrische, iranische Truppen und ergänzt durch westliche und russische Luftschläge unter Druck gesetzt, werde der Kampf des IS „immer verzweifelter“, analysierte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Extremisten könnten deshalb vermehrt dazu verleitet werden, „in Europa mit Angriffen auf ‚weiche Ziele‘ Terror zu verbreiten“.

Doch sowohl bezüglich Chaibs Erklärung, man reagiere nur auf die westliche Bombardierung der eigenen Stellungen, als auch hinsichtlich der Geländeverluste sind Zweifel angebracht, ob dies die allein maßgeblichen Gründe für die europäische Terroroffensive des IS sind. Denn obwohl der IS sich „Staat“ nennt, und einen solchen mit seinem Verwaltungsapparat auch zu imitieren versucht, gehört nicht allein die Verteidigung einmal eingenommenen Territoriums, sondern auch die Entfachung eines globalen islamischen Aufstandes zum Selbstverständnis der Organisation.

Den Kampf ins Herz 
des Feindes tragen

So berichtete etwa der britische „Guardian“ Ende März unter Berufung auf zwei IS-Mitglieder, dass sich eine Gruppe von 200 führenden Militanten der Organisation neun Tage vor den Anschlägen von Paris in der syrischen Stadt Tabqah getroffen habe. Dort sei man sich einig gewesen, dass es unmöglich sein werde, die Gesamtfläche des eigenen Herrschaftsbereichs dauerhaft gegen die geballte militärische Gewalt der Anti-IS-Mächte zu verteidigen. Doch die territoriale Behauptung sei ohnehin nur eines von mehreren Mitteln, den eigenen Einfluss global auszuweiten. Man habe daher beschlossen, den Kampf nunmehr „ins Herz des Feindes“ zu tragen. Mithilfe heimkehrender Kämpfer aus Syrien und dem Irak, die in ihren Herkunftsländern Schläfer-Zellen bilden, wolle man Europa ins Chaos stürzen. „Sie haben darüber gesprochen, welches Land wohl zuerst kollabiert“, so die IS-Informanten. Vor allem habe man Italien, Frankeich Deutschland, Belgien und das Vereinigte Königreich ins Fadenkreuz genommen. „Belgien ist kein Problem“, sei man sich einig gewesen, Großbritannien beurteile man dagegen als harte Nuss.

Das bisherige Vorgehen des IS im Nahen Osten und das nun forcierte Agieren in Europa sind zwei Ausformungen ein und derselben Strategie. Sie geht auf ein Buch des 1961 geborenen ägyptischen Jihadisten Abu Bakr Naji zurück, das dieser im Jahr 2004 unter dem Titel „The Management of Savagery“ (Management der Barbarei) auf Arabisch verfasst hat und das auch in englischer Sprache im Internet frei abrufbar ist. Lange Zeit blieb das Werk in der jihadistischen Szene ohne Einfluss. Das änderte sich, als es die Führungsriege des IS in die Finger bekam.

Die in Najis Buch skizzierte Strategie besteht aus drei Phasen. Am Anfang steht Schaffung von Chaos und die Förderung von Staatszerfall. Am Ende steht der Aufbau der Herrschaft des Islam. Ist in Phase eins das Chaos einmal groß genug und das Faustrecht die einzige Ordnung, schreibt Naji, so ist die in dieser Situation befindliche Bevölkerung bereit für Phase zwei. Sie wird nun jedwede Bandenherrschaft akzeptieren, sofern diese nur irgendeine strukturierte Ordnung schafft, also das „Management der vorherrschenden Barbarei“ effektiv betreibt. Laut William McCants vom Washingtoner Brookings-Institut, der das Buch ins Englische übersetzt hat, wurde die knapp 120-seitige Schrift an sämtliche Kommandeure des IS verteilt. Sie fungiert als Praxishandbuch für nahezu jeden Bereich. Man findet dort Hinweise zur Medienstrategie ebenso wie zum Aufbau von Spitzeldiensten und zur Organisation von Wohlfahrt und Verwaltung. Das empfohlene Vorgehen entspricht exakt der Strategie und Taktik des IS im Nahen Osten.

Phase der Grausamkeit

Syrien war für die Jihadisten ein Glücksfall, denn das Land war von Assads brutalem Vorgehen gegen die Bevölkerung und vom Zerfall jeglicher Ordnung geprägt, befand sich also, wie derzeit auch Libyen, mitten in „Phase eins“. Im Irak machte sich die Organisation den Konflikt zwischen Schiiten und den machtpolitisch an den Rand gedrängten Sunniten zu Nutze, denn auch die Polarisierung der Bevölkerung ist ein zentraler Bestandteil der von Naji vorgeschlagenen Strategie.

Nicht nur an diesem Punkt unterscheidet sich der IS deutlich von al-Qaida, für die die Ausrufung des Kalifats voreilig und der Kampf gegen die Schiiten von nachrangiger Bedeutung war. Zentral für das Vorgehen des IS ist die von Naji empfohlene und selbst in Jihadistenkreisen umstrittene Anwendung und Zurschaustellung von Gewalt und Brutalität. Anders als al-Qaida, schreibt Peter R. Neumann vom Londoner King’s College, habe der IS keinerlei Interesse, die „Herzen der Muslime“ zu erobern, sondern wolle diese mit allen Mitteln der neuen Ordnung unterwerfen. Der Übergang vom Chaos zur Ordnung erfordert laut Naji daher eine Phase der Grausamkeit. Deshalb hat man auch kein prinzipielles Problem damit, dass Muslime Anschlägen zum Opfer fallen. Ohnehin beklagt Naji die Friedfertigkeit vieler Muslime, die vergessen hätten, dass der Verzicht auf Gewalt die Stärke und damit einen Hauptpfeiler der Botschaft der religiösen Gemeinschaft, der Umma untergrabe. Je exzessiver die Brutalität, desto schneller werde der Wille von Gegnern wie Bevölkerung gebrochen und desto rascher erfolge daher der Übergang in die Stabilität.

William McCants warnt, die Bedeutung von Najis Strategiehandbuch werde im Westen unterschätzt: „Alle glauben, da sind Verrückte am Werk. Aber in Wirklichkeit folgt der Islamische Staat einem Plan – einer Strategie –, mit der selbst die absurdesten Gewaltakte als logisch und rational zu rechtfertigen sind“, so McCants, der von Neumann für dessen Buch „Die neuen Dschihadisten“ interviewt worden ist.

Auch in Europa folgt der IS diesem Plan. Genüsslich führt Naji aus, dass ein einziger Anschlag auf ein Urlaubsressort, eine Bank – oder eben auf einen Flughafen wie den von Brüssel – ausreichend sei, um den Feind allerorten zum Ausbau der Sicherheitsmaßnahmen zu nötigen, was die ökonomische Krise verschärfe und die Verunsicherung der Bevölkerung fördere. Schritt für Schritt müsse sich der Gegner als verletzlich und umzingelt erleben. Auf diese Weise werde schließlich die gesamte Bevölkerung mobilisiert. Der Bezug auf den Islam ist bei dieser Eskalation für Naji zentral: „Gesellschaften müssen in zwei einander gegenüberstehende Gruppen transformiert werden, um einen brutalen Kampf zwischen ihnen zu entfachen, der mit Sieg oder Märtyrertum zu Ende geht. (…) Eine der beiden Gruppen findet sich im Paradies wieder, die andere in der Hölle.“

Wie sehr dieser Gedanke die Europa-Strategie des IS bestimmt, geht auch aus der im Februar 2015 erschienenen Ausgabe des englischsprachigen IS-Magazins Dabiq hervor. Unter dem Titel „Von der Scheinheiligkeit zur Abtrünnigkeit – Wie man die Grauzone auslöscht“ finden sich dort weitere Tipps, die beschriebene Polarisierung herbeizuführen und zu erreichen, dass sich die muslimische Bevölkerung in den Ländern der „Ungläubigen“ angefeindet und unwillkommen fühlt. Kein Muslim, heißt es dort, soll sich schließlich noch vor dem Kampf drücken und eine „neutrale“ oder „unabhängige“ Haltung erlauben können. Wenn sich Gut und Böse formiert haben und im Kampf um Leben und Tod gegenüberstehen, ist die „Grauzone“ aufgelöst.

Die Grauzone auslöschen

„Management of Savagery“ lässt sich auf irre Weise komplementär zu Anders Breiviks 1.500-seitigem Aufruf zur „konservativen Revolution“ lesen. Entscheidend sei, wie Naji betont, dass nicht nur die eigenen Reihen, sondern auch der Gegner zur radikalen und kompromisslosen Feindbestimmung gezwungen wird. Daher passen die Bilder von den über 400 Hooligans, die sich am Ostersonntag auf dem Platz vor der Brüsseler Börse durch die Masse trauernder Menschen prügelten, den Strategen des IS hervorragend ins Kalkül. Das gilt auch für die derzeitige EU-Flüchtlingspolitik. „Syrische Flüchtlinge willkommen zu heißen, die dem Chaos entkommen wollen, wäre sicher eine kluge westliche Antwort auf diese Strategie der Spaltung“, schrieb etwa Scott Atran im englischen Online-Magazin „Daily Beast“.

Dass Brüssel von den IS-Leuten ausgesucht wurde, weil man Belgien tatsächlich als failed state begreift und die Produktion des Chaos daher dort für besonders erfolgsversprechend hält, ist durchaus möglich. Jedenfalls verfügen die Jihadisten hier mit Orten, wie Molenbeek, Anneessens, St. Josse und anderen Stadtteilen getreu ihrer Strategie mitten im Zentrum über ein Rückzugsgebiet. Für den IS ist das von größerer Bedeutung als für al-Oaida, denn er möchte auch in Europa als Guerilla agieren. Die Strategen des „Kalifats“ konzentrieren sich nicht auf die großen spektakulären Aktionen, wie sie bin Ladens Organisation vornehmlich anvisierte. In einem Interview, das im März 2015 im französischsprachigen Online-Magazin des IS, „Dar al-Islam“, veröffentlicht wurde, riet der hochrangige IS-Kader Boubaker al-Hakim seinen Anhängern, auf jegliche Symbolkraft zu verzichten: „Mein Rat ist, aufzuhören, nach spezifischen Zielen zu suchen. Schlagt überall und gegen jeden zu.“

Führerloser Jihad

Damit einher geht eine Dezentralisierung des Jihad, die beinhaltet, dass auf vertikale Kommandostrukturen wie bei al-Qaida weitgehend verzichtet wird. Verschiedene Zellen agieren unabhängig voneinander und schlagen nach eigenem Ermessen zu. Dieser Gedanke geht auf den 1958 im syrischen Aleppo geborenen Abu Musab al-Suri zurück. Al-Suri wurde früh mit Osama bin Laden bekannt und war Teil von dessen Netzwerk. Militärische Erfahrung hat er in Afghanistan gesammelt. Laut dem Islamwissenschaftler Behnam T. Said hat al-Suri die globale jihadistische Bewegung maßgeblich mitgeprägt, und steht „beispielhaft für die weitere Radikalisierung und Internationalisierung der syrischen Jihadisten“. Seinem Ruhm liegt unter anderem ein 1.600-seitiges Werk zugrunde, in dem er unter dem Titel „Ruf zum globalen islamischen Widerstand“ seine strategischen Überlegungen präsentiert.

Al-Suris Leitmotiv lautet „Nizam, la tanzim“ – es geht nicht um die Schaffung einer Organisation, sondern um ein System des Terrors, das schließlich zur Befreiung der Gemeinschaft des Islam führen soll – auch er argumentiert, dass zu diesem Zweck eine radikale Polarisierung der Gesellschaft erzwungen werden muss. Obwohl al-Suri, dessen Verbleib derzeit unbekannt ist, nicht nur bei al-Qaida als Querdenker galt, sondern auch den IS in der Vergangenheit mehrmals kritisierte, hat er großen Einfluss auf dessen Strategie.

Fraglich bleibt, ob der Islamische Staat mit seiner europäischen Kampagne al-Qaida und dessen syrische Stellvertreter von der al-Nusra-Front endgültig verdrängen und ihnen die Anhängerschaft entziehen kann. In der Vergangenheit, so Behnam T. Said, hätten die Anhänger des „Kalifat“ al-Qaida immer offener herausgefordert, um zu demonstrieren, dass dessen Anführer sich „fernab der wirklichen Geschehnisse aufhielten und keinen tatsächlichen Einfluss mehr ausüben konnten“.

Laut Peter R. Neumann kann al-Qaida aber durchaus noch eine lokale Verankerung für sich reklamieren. Diese sei auch der Grund, weshalb die Organisation den Aufstieg des Islamischen Staates in Ländern wie Somalia überlebt hat. Gleichwohl stehe deren Rolle als Vorreiterin und Anführerin des globalen Jihad zur Disposition, denn es sei offenkundig, „dass al-Qaida an vielen Orten an Unterstützung verloren hat und selbst in Hochburgen wie dem Jemen vom Islamischen Staat herausgefordert wird“.

Auch deshalb rechnet Neumann damit, dass Anschläge wie der in Brüssel nur erste „dramatische Hinweise“ auf den Konflikt sind, „der sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten“ in ganz Europa abspielen wird und der einen blutigen Konkurrenzkampf mit sich bringt: Die Netzwerke von al-Qaida würden nun versuchen, zu beweisen, dass sie noch zu spektakulären Aktionen im Westen in der Lage sind. Brüssel, so ist zu befürchten, steht tatsächlich für Europas neue Normalität.

Zum Thema IS hat die woxx im vergangenen Sommer eine Serie von Buchbesprechungen veröffentlicht (Nr 1333, 1336 und 1339).

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