Kunst als Prozess: „Wir nehmen das Spielen ernst“

Die Künstler*innen-Residenz „Antropical“ in Steinfort lotet in diesem Jahr das kreative und gesellschaftliche Potenzial des Spielens aus. Vom 2. August an bis zum Kolla-Festival am Wochenende des 16. August wird das Gelände des Mirador in Steinfort in einen gigantischen kreativen Spielplatz verwandelt. Eine Begegnung mit 
Co-Organisatorin Clio Van Aerde.

Was passiert, wenn mehr als nur eine Person in ein Spiel involviert ist? Für Clio Van Aerde spielen das Bewusstsein für das Gegenüber und Konsens eine große Rolle. (Foto: CC BY Simpleinsomnia 2)

Wo beginnt ein Spiel? Wann hört es auf? Wo kann oder muss es hinführen? Solche und ähnliche Fragen werden seit dem heutigen Freitag bei der Künster*innen-Residenz „Antropical“ auf dem Mirador-Gelände in Steinfort zum Thema, unter dem programmatischen Titel „Play Until United“. Einen gigantischen Kreativ-Spielplatz hat ein Team von Künstler*innen dort geschaffen, um die Möglichkeiten und Bedeutungen des Spielens zu ergründen. Aus zahlreichen Ländern sind Teilnehmer*innen angereist, die sich zwar in unterschiedlichen Kunstsparten bewegen, welche letztlich aber die Bereitschaft vereint, sich auf ein gemeinsames Spiel einzulassen.

Dabei geht es weniger darum, prêt à jouer-Spielzeug zu schaffen, als vielmehr um Recherche, Diskussionen und Reflexionen rund um das Spielen als menschlicher Akt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sollen sich in der siebten Ausgabe des Kolla-Festivals wiederspiegeln, das vom 16. bis zum 18. August auf dem Mirador-Gelände stattfinden wird. Neben Live-Acts und DJ-Sets werden auch interaktive Workshops und dergleichen vertreten sein. Alles wird im Zeichen eines sich der Umwelt bewussten Verhaltens stehen – und natürlich im Zeichen des Spielens.

Mitorganisatorin Clio Van Aerde hält sich eher bedeckt, wenn es um die Definition des Spielens an sich geht. Sie möchte den Begriff nicht zu eng fassen: „Es gibt tausende von Arten zu spielen.“ Die sozialen Effekte stünden bei dieser Residenz im Vordergrund, erklärt die junge Künstlerin weiter und erzählt von Johan Huizinga, einem niederländischen Kulturhistoriker, der in seinem Werk „Homo Ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ diverse Spieltheorien und Fähigkeiten beleuchtet, die durch das Spielen erlangt können. Wenn mehr als nur eine Person spiele, müsse ein Bewusstsein für das Gegenüber da sein, der Konsens spiele eine essenzielle Rolle, betont Van Aerde. Allein schon dieses Geschehen im sozialen Gefüge zu beobachten, stelle einen wichtigen Mehrwert dar. Dem folgend gehe das Team nicht mit Thesen, sondern mit zahlreichen Fragen an eine Sache heran, die man dann gemeinsam im Kollektiv zu beantworten versuche.

„Bei Spielen mit vorgegebenen Strukturen ist der Anteil an dem, was man selbst in einem kreativen Sinne beitragen kann, recht bescheiden. Das ist meiner Auffassung nach nicht sonderlich stimulierend“, gesteht die luxemburgische Künstlerin und fasst damit auch die Haltung des restlichen Teams zusammen. Das Ziel von Antropical ist es daher nicht, formvollendete Kunstwerke zu erschaffen, sondern sich selbst Denk- und Spielräume zu geben. „Wir sehen das Kolla-Festival selbst als Gesamtkunstwerk“. Dieses werde alljährlich ergänzt, erweitert und verändert. Dass etwas Neues erschaffen werden soll, bedeute jedoch nicht, dass nicht auf bereits vorhandene klassische Spiele zurückgegriffen wird. Es gehe jedoch darum, diese umzufunktionieren und eventuell anders zum Einsatz zu bringen.

Was im Mirador auf zwischenmenschlicher Ebene passiert und passieren kann, ist alles andere als eine Spielerei. Auf die Gefahr angesprochen, das Thema „Spiel“ könne dazu führen, nicht ernst genommen zu werden, erwidert Clio Van Aerde prompt: „Wir sind da durchaus radikal: Wir nehmen das Spielen tatsächlich sehr ernst.“ Sich als Erwachsener zeitweilig wieder auf eine kindliche Ebene zu begeben, stelle zudem kein Fehlverhalten dar. „Es ist nicht zu unterschätzen, was wir noch von Kindern lernen können in dem Kontext“, sagt die studierte Bühnenbildnerin. Bedauerlicherweise hätten viele Erwachsene ihre Spielkompetenz verlernt, oder sie sei ihnen förmlich ausgetrieben worden. Genau darüber wolle man nachdenken und Lösungsansätze finden. „Hier kann das Spiel oder die Fähigkeit zu spielen zum Werkzeug für andere Lebenssituationen werden“, so Clio Van Aerde.

„Hier kann das Spiel oder die Fähigkeit zu spielen zum Werkzeug für andere Lebenssituationen werden.“

Wie genau sich der kreative Prozess praktisch niederschlagen und auf dem Kolla-Festival wiederfinden wird, ist noch nicht klar. Dies ist jedoch nicht etwa als Schwäche zu deuten. Es ist vielmehr eine Grundvoraussetzung für die Residenz: „Eins unserer Hauptkriterien besteht darin, dass nichts bereits Bestehendes mitgebracht wird. Ideen und Ambitionen hingegen sind natürlich willkommen. Es geht nicht darum, Druck aufzubauen. Wir wollen weg von dieser Vorstellung, dass Kunst nur Kunst ist, wenn am Ende des Prozesses ein fertiges Produkts steht.“

Falls dennoch Werke entstehen sollten, sind diese nicht am Ende der Residenz als vollendet zu betrachten; sie werden später, bei Workshops mit Publikum von außen sowie durch die Festivalbesucher*innen, weitere, neue Formen annehmen. „Im Idealfall kommt es zu einer intensiven, eindrücklichen Erfahrung und zu einem Schneeballeffekt, der weit mehr als nur Kinder ansteckt. Das ‚united‘ im Titel impliziert, dass sich das Spielen auf alle Generation ausweitet“, sagt Van Aerde.

Foto: CC BY Mike SA 2.0

Die Residenz dauert zwei Wochen und beinhaltet Workshops, gemeinsame Besuche von Ausstellungen sowie eine Stadtführung der etwas anderen Art. Hinzu kommt natürlich die Arbeit direkt vor Ort in Steinfort. Mögen die Teilnehmenden in den ersten Jahren vielleicht noch vermehrt befreundete Künstler*innen und Kunststudent*innen gewesen sein, so profitiert die mittlerweile vierte Auflage der Antropical-Residenz von einem inzwischen erweiterten Netzwerk und Mundpropaganda. Die Bewerbungen für den inzwischen beendeten „Open Call“ hielten daher manche Überraschung bereit. Bevor Anwärter*innen zu einem Vorstellungsgespräch per Skype eingeladen wurden, mussten sie ein Formular ausfüllen, in dem sie sich bereits zum Konzept äußern und ihren Ideen Ausdruck verleihen konnten.

Bei den Gesprächen habe man sich dann auch ein Stück weit auf das eigene Bauchgefühl verlassen. Diesem habe man durch die über die Jahre hinweg gewonnene Erfahrung zu vertrauen gelernt. „In der Regel entwickelt sich das Ganze dann relativ organisch.“ Die Bewerber*innen sähen sich keinem Kreuzverhör ausgesetzt, sondern man befinde sich bestenfalls schon im Brainstorming-Prozess, taste sich aneinander heran und versuche, zu erspüren, ob ähnliche Sensibilitäten vorlägen. Wichtig sei ebenso, ob ein vergleichbares politisches Bewusstsein für die Themen vorherrsche, die eine wichtige Rolle beim Festival spielen. Dazu zählten zum Beispiel ein Sinn für Nachhaltigkeit und Gender-Fragen.

Clio Van Aerde gesteht, dass sie bei diesen Gesprächen immer wieder gerne den Versuch wage, potenzielle negative Effekte des Festivals anzusprechen und schaue, wie die Künstler*innen gedenken, diese kreativ und passend zum Thema spielerisch zu lösen.

Obwohl das Hauptthema „play until united“ lautet, sehen Clio Van Aerde und die anderen Organisator*innen sich nicht als Schiedsrichter*innen in diesem Prozess. Zwar fielen kuratorische Aufgaben an, um die Fülle an Gedanken zu orchestrieren und einen roten Faden zu finden. Das jedoch gestaltete sich eher begleitend als eingreifend, unterstreicht die junge Künstlerin. „Vor allem geht es auch darum, dass jede und jeder spielt. Daher sind wir davon nicht ausgeschlossen. Von uns wie von den Teilnehmenden erwarten wir, sich einzumischen. Mindestens so wichtig ist es für alle, auch mal auszusteigen, um zu beobachten und dann wieder Teil des Spiels zu werden.“

Eine solche zeitweilige Distanz wie auch das Wahrnehmen verschiedener Rollen und Positionen bergen wichtige Lernetappen, meint Clio Van Aerde. Was im kleineren Kreis eingeübt werde, könne dann auch auf einer größeren Ebene ausgetestet werden. „Dass wir das auf dem Festival mit Hunderten, vielleicht sogar mehr als tausend Menschen ausprobieren können, hat meiner Auffassung nach etwas magisches.“ Da das Festival mehrere Tage dauere, bestünde, falls am ersten Tag etwas nicht klappt, im wahrsten Sinne des Wortes „Spielraum“, um daraus zu lernen.

In Bezug auf Regelwerke ist klar, dass diese nicht vorgegeben, sondern erarbeitet werden – wenn sie denn überhaupt nötig sein sollten. Zuvörderst solle es darum gehen, „Regeln zu brechen und Grenzen zu überschreiten“ so Van Aerde. Damit seien nicht etwa Grenzüberschreitungen in einem negativen Sinne gemeint, bei denen andere Spieler*innen zu Schaden kommen könnten. Vielmehr soll Stereotypen eine Absage erteilt, Normen sollen kritisch hinterfragt werden. „Das Spiel als solches hat die Qualität, ebendies provozieren zu können.“

Das könne sich dann unter anderem in der Kostümierung niederschlagen. „Das Ziel dieser Grenzüberschreitung wäre ein Zugewinn an Freiheitsgefühl, das beispielsweise ein Mann verspüren kann, wenn er zum ersten in seinem Leben ein Kleid trägt. Für uns ist einfach klar, dass der Raum dafür gegeben sein muss, dass sowas entstehen darf.“

Man habe in diesem Jahr bewusst noch drei Tage nach dem Festival eingeplant, um im Rahmen von Feedback-Runden über das Erlebte diskutieren zu können, sagt Clio Van Aerde. Sie erinnert an eine Aussage ihrer Kollegin Aurélie Incau, welche die Künstler*innen-Residenz gegründet hat. Letztere betont, dass Spielen an sich schon sehr viele Qualitäten aufweist, aber umso mehr wert ist, wenn man es auch im Nachhinein reflektiert.

Das Kolla-Festival findet vom 16. bis zum 18. August auf dem Mirador-Gelände in Steinfort statt. Interessierte jeden Alters können jedoch auch vorher schon Workshops besuchen. Aktuelle Informationen hierzu auf der Facebook-Seite „Antropical Residency“.

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