Lebensrealitäten Anderer
: Jugendkultur im Iran


Mit „Last Scene Underground“ legt die Kulturanthropologin Roxanne Varzi einen einfühlsamen Roman über die iranische Jugend vor. Zugleich liefert sie einen Beitrag zur Debatte um die – nötigen? – Grenzen von literarischer und wissenschaftlicher Form.

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Sich verhalten, als ob man frei wäre: In ihrem neuen Buch macht die Autorin und Kulturanthropologin Roxanne Varzi die erzwungene Schizophrenie Heranwachsender unter den Bedingungen des theokratischen Regimes im Iran zum Thema. (Foto: Internet)

Wissenschaftliche Erkenntnis in Romanform präsentieren – darf das sein? Können Sozialwissenschaftler mit den Grenzen ihrer Disziplin spielen und kreativere Arbeitsweisen verfolgen, sollen sie Feldforschungsnotizen in fiktive Erzählungen einbetten, experimentelle Dokumentarfilme drehen oder durch Theateraufführungen vermitteln? Solche Fragen beschäftigen die im Iran geborene Kulturanthropologin Roxanne Varzi.

Vor rund zwei Monaten wurde ihr Buch „Last Scene Underground“ publiziert, das den vielversprechenden Untertitel „An Ethnographic Novel of Iran“ trägt. Die Geschichte handelt von einer Gruppe SchülerInnen, die eine Untergrund-Theateraufführung planen. Wir begleiten die Gruppe durch Teheran – durch die Cafés der wohlhabenden Viertel, an den Märtyrerdenkmälern vorbei, auf die geschäftigen Märkte, in die endlos anmutenden Straßenstaus und durch Bücherläden, die auf der Theke und unter der Hand verkaufen.

Varzis Buch erzählt vom Schnee, der gelegentlich die politisierte Stadt bedeckt und beruhigt, sie führt uns zu den Imamzadeh, den Heiligen Schreinen, an den Stadtrand. Das Buch nimmt uns aber auch mit in die innere Welt von jungen Iranern, zu dem was sie antreibt, beschäftigt und wogegen sie sich wehren. „Come to Café Naderi Monday afternoon. We’ll read banned books and practice pretending“, verspricht etwa ein Schüler einer Mitschülerin.

Diskutiert wird über den Krieg zwischen dem Iran und Irak (1980-1988) und wie ihn ältere Familienangehörige an der Front erlebt haben. Auch Drogenprobleme werden angesprochen, die im Iran nicht selten sind. Das Land an der Seidenstraße weist einen hohen Heroinkonsum auf; eine Schauspielerin der Theatertruppe ist seit mehreren Jahren abhängig.

Roxanne Varzi selbst ist kurz nach dem Ausbruch der iranischen Revolution 1979 mit ihrer Familie in die USA auswandert. Damals war sie acht Jahre alt. Heute ist sie Professorin für Kulturanthropologie und visuelle Medien an der Universität von Kalifornien. Obwohl Roxanne Varzi ihre Jugend in den USA verbrachte, kennt sie den Iran. 1994 entschied sie sich dafür, vier Jahre lang mit der Familie ihres Onkels in Teheran zu leben und dort zu forschen. Seitdem lebt und forscht sie in regelmäßigen Abständen im Iran. 2006 erschien ihre erste Monographie „Warring Souls: Media, Martyrdom and Youth in Post-Revolution Iran“ und 2009 ihr Dokumentarfilm „Plastic Flowers Never Die“. Thematisch überschneiden sich beide Werke mit „Last Scene Underground“.

Die Scheinangepasstheit der Protagonisten, soweit sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, ist ein wiederkehrendes Element der Geschichte.

Gelungen ist vor allem, wie Varzi Auszüge aus dem Notizbuch verarbeitet, das die Regisseurin des eingangs erwähnten Theaterstücks führt: Diese Notizen gliedern das Buch und bringen immer wieder eine zweite Perspektive in die Erzählung ein. Sie enthalten Gedankenspiele über Theatertheorien, den politischen Kontext des Stücks, die Theatergruppe und die gesellschaftlichen Entwicklungen. So findet sich an einer Stelle des Buches die gleichermaßen religiös wie politisch auslegbare Notiz: „Possession: a state where a person is alienated from her normal self and is spoken through by another.“

Andernorts lessen wir: „Acting is its own kind of extraction. It reminds me of Stanislavskis‘ idea of ‘acting as if’. Acting as if we are free. We extract the real or the false, depending on our intentions, and we can then experience drink without drinking, freedom without democracy, love without touching, live without fail.“ In der Einführung zum Buch erfahren die LeserInnen, dass sich vor allem in diesen Auszügen auch die Feldforschungsnotizen der Autorin wiederfinden. Varzi hat über einen längeren Zeitraum hinweg zum Underground-Theater in Teheran geforscht. Abgesehen von diesen Notizen sind die Geschichte und die darin auftretenden Charaktere frei erfunden.

Sollte das Buch dennoch das Prädikat „ethnographisch“ auf dem Buchdeckel aufführen? „Eine ethnographische Fiktion zu schreiben, bedeutet, dass ich die Charaktere Handlungen vollziehen lasse, von denen ich durch meine Feldforschungsnotizen weiß, dass sie sich so ereignen oder ereignen können“, erläutert die Kulturanthropologin ihren – eben nicht nur literarischen – Stil auf Nachfrage der woxx.

Auch seien die Ortsbeschreibungen an die Realität gebunden. „Im Grunde stelle ich klassische ethnologische Werke auf den Kopf: Während in diesen theoretische Abhandlungen die meisten Seiten füllen und die Beschreibung von Ereignissen nur am Rande behandelt werden, verhält es sich in Last Scene Underground umgekehrt“, erläutert sie.

Als sie sich aufmachte, diese neuen, experimentellen Pfade an der Schnittstelle zwischen Literatur und Ethnographie zu beschreiten, fühlte sie sich innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft relativ isoliert. Dabei ging es ihr ähnlich wie EthnologInnen, die sich für sogenannte engagierte (engaged) Ethnographien einsetzen, wie etwa Nancy Scheper-Hughes, die zu Organhandelsringen forscht und klare politische Positionen bezieht. „Dennoch möchte ich andere Geisteswissenschaftler dazu ermutigen, im gleichen Feld zu experimentieren. Die wissenschaftliche Disziplin kann durch solche Werke die 
Debatte rund um Subjektivität innerhalb der Ethnologie neu aufrollen“, meint Varzi.

Die Scheinangepasstheit der Protagonisten, soweit sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, sind ebenso wie das Umgehen von Vorschriften wiederkehrende Elemente der Geschichte. Tatsächlich kontrollieren geistliche Führer über eine Sittenpolizei das alltägliche Leben der Bürger dieses theokratischen Staates. Doch erleben viele Jugendliche im Iran ihre Jugend, wie im Buch beschrieben, oder ist dies die Perspektive der urbanen Mittelklasse? „Unabhängig von Klassenzugehörigkeit und Bildungshintergrund spüren Menschen einen Druck, wenn ihnen ein strikter Verhaltenskodex auferlegt wird. Studenten von mir, die in einer christlich-konservativen Familie aufgewachsen sind, erkannten sich ebenfalls im Buch wieder. Nur, dass sie sich im öffentlichen Raum freier fühlen als daheim mit ihrer Familie. Im Buch ist es umgekehrt“, erläutert Varzi.

Das Buch bietet einen Einblick in die Jugendkultur Teherans und enthält viele interessante theoretische Anmerkungen. Hervorzuheben ist, auf welch gelungene Weise den LeserInnen eine Stimmung, eine Welt eröffnet wird und diese sich somit eine fremde Lebensrealität erschließen können. Das Buch lässt jedoch auch einiges vermissen. So bietet es keinen Überblick über die politische und wirtschaftliche Lage Irans sowie die Spannungen zwischen den unterschiedlichen iranischen Ethnien und der Mehrheitskultur. Der Leser erfährt nicht, wie es sich für einen der 300.000 Bahai anfühlt, im Verborgenen, ständig von Verhaftung bedroht, seinen Glauben zu praktizieren. Auch erfahren wir wenig über die Geschichte der armenischen Christen, die im Iran leben, obwohl eine der ProtagonistInnen armenische Christin ist.

Roxanne Varzi ist nicht die erste Kulturanthropologin, die sich für die Schnittstellen zwischen ethnographischer Aufarbeitung und literarischen Schaffensprozessen interessiert. In den Achtzigerjahren popularisierte der Anthropologe James Clifford das „Writing Culture“-Konzept. Dieses befürwortet einen Schreibstil, der subjektive Einschätzungen nicht ausblendet und sich von dem klassischen, positivistischen Wissenschaftsideal distanziert.

Clifford befürwortet daher experimentelle Schreibformen, bei denen die Trennschärfe zwischen Fakt und Fiktion aufgelöst ist, da ihm zufolge vermeintliche Fakten auch innerhalb der Sozialwissenschaften viel subjektiver geprägt sind als zu Beginn des 20. Jahrhunderts angenommen. Die Arbeit nicht weniger SchriftstellerInnen hat zudem einen anthropologisch informierten Hintergrund, wie Amitav Ghosh, Saul Bellow und die Science-Fiction-Autorin Ursula K. LeGuin. Anders als bislang Roxanne Varzi haben sie jedoch der Universität den Rücken gekehrt.

Roxanne Varzi: Last Scene Underground. 
An Ethnographic Novel of Iran. 
Stanford University Press, 288 p.

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