Lisa Bryant: Überflug eines Prädators

Die vierteilige Netflix-Doku „Filthy Rich“ rollt den gesamten Skandal um den Multimilliardär und Pädophilen Jeffrey Epstein noch einmal auf – ohne alle Spuren zu verfolgen und bleibt so oft frustrierend oberflächig.

Annie Farmer, eines der ersten bekannten Opfer von Epstein.  © 2020 Netflix

„Eat the Rich“ – die Reichen aufessen – ist ein Songtitel für Hardrock-Legenden wie Aerosmith und Mötorhead, an Jeffrey Epstein würden sich aber wohl auch die Härtesten verschlucken, so massiv ist die Aura des puren Bösen, die dieser mythischen, schwer fassbaren und offenbar auch schwer gestörten Person anhaftete. Regisseurin Lisa Bryant hatte die Arbeit an der Dokumentation schon vor 2019 aufgenommen, also vor dem erneuten Prozess, der Inhaftierung und dem Selbstmord des Investors in einem New Yorker Gefängnis. So ist der Vorwurf der Sensationsgeilheit nach dem spektakulären Ende der Epstein-Saga im Voraus entkräftet. Als die Recherchen anfingen, lag der letzte Auftritt Epsteins vor einem Gericht bereits zehn Jahre zurück.

Doch gelingt es der Regisseurin nicht wirklich, den Menschen, dessen Leben sie erzählen will, richtig fassbar zu machen. Auch weil so wenig über seine Herkunft, seine Familie und seine Erziehung gewusst ist. Mittelstandskind aus Coney Island, das sich mit erschwindelten Diplomen eine Stelle an einem College erarbeitete, um dann an die Wall Street zu wechseln – wie geht das? Und warum konnte er nicht bereits nachdem seine ersten Tricksereien aufgeflogen waren aus dem Verkehr gezogen werden? Damals wäre noch Zeit gewesen, denn Epstein war weder überreich, noch verfügte er über genügend Kontakte, um sich unverwundbar zu machen. Dieser Frage geht der Film aber kaum nach, sondern schwenkt schnell zur ersten Missetat: die Towers Financial Corporation. Deren CEO Steven Hoffenberg engagierte Epstein 1987, um mit ihm ein Schneeballsystem – auch Ponzi-Schema – genanntes Betrugssystem aufzusetzen, mit dem schlussendlich 475 Millionen Dollar ergaunert wurden. Hoffenberg wanderte in den Knast, Epstein blieb verschont und konnte weiter aufsteigen. Unter anderem dank seiner Nähe zum Kleidermogul Leslie Wexner (Besitzer der Unterwäschemarke Victoria’s Secret) konnte er Milliarden scheffeln. Dann aber reißt die Erzählung über Epsteins geschäftliche Tätigkeiten abrupt ab und konzentriert sich auf den Aufbau seines pädophilen Rings anhand vieler Zeug*innen-Aussagen, Opfern, Journalist*innen, Polizist*innen und Anwält*innen.

Viele Spuren bleiben kalt

Opferanwalt Brad Edwards mit einem Organigramm über den pädophilen Sexring.     © 2020 Netflix

Minutiös erörtert „Filthy Rich“, wie eine Journalistin der Vanity Fair an einer Geschichte über Epstein scheiterte, weil dieser ihren Verleger unter Druck setzte: Vicky Ward hatte die Aussagen zweier Schwestern, die bereits Mitte der 1990er von Epstein und seiner Freundin Ghislaine Maxwell missbraucht worden waren, in den Artikel einfließen lassen wollen. Doch die beiden Schwestern waren nur die Spitze des Eisbergs. Besonders in der Nähe seiner Domäne in Palm Beach, Florida häuften sich die Fälle von Zeug*innenaussagen, die minderjährige Mädchen bei Epstein ein und aus gehen sahen. Die polizeilichen Ermittlungen offenbarten nach einiger Zeit eine perverse Methodik: Epstein holte sich „seine“ Mädchen aus West Palm Beach, einer Mittelklasse- und Arbeiter*innengegend. Er bevorzugte dabei anfällige, verletzliche Mädchen. Solche, die bereits Missbrauch erlebt hatten, von zu Hause weggelaufen waren und Drogen nahmen, waren ihm offenbar am liebsten. Unter dem Vorwand einer mit 200 Dollar entlohnten Massage wurden sie in sein Haus gelockt. Wenn sie nicht auf seine Avancen eingingen, schlug Epstein ihnen vor, gegen Bezahlung weitere Mädchen zu rekrutieren. Auch auf seiner Privatinsel auf den Virgin Islands kam es Zeug*innen zufolge zu Orgien und Vergewaltigungen. Auf der „Saint Jeff“ genannten Insel wurden auch hochrangige Persönlichkeiten wie Bill Clinton oder Prinz Andrew von Großbritannien gesichtet. Aber diesen Spuren geht „Filthy Rich“ nur zaghaft nach. Zwar verweist die Doku auf das katastrophale BBC-Interview mit dem britischen Royal, aber der Spur der Clintons geht Bryant nicht nach. Genauso wenig wie der Donald Trumps, dessen berühmtes Mar-A-Lago-Ressort nur einen Steinwurf weit von Epsteins Palm Beach Villa liegt. Trump und Epstein waren des weiteren öfters Gäste auf den gleichen Partys. Auch hatte der Präsident den ehemaligen Staatsanwalt Floridas, Alex Acosta, der Epstein in einem ersten Prozess verschont hatte zum Staatssekretär befördert – Acosta musste wegen den neu eröffneten Gerichtsverhandlungen 2019 zurücktreten.

So bleibt nach fast vier Stunden Dokumentation ein schaler Geschmack – der Vorhang über die Epstein Affäre ist noch lange nicht ganz gelüftet und auch ohne Verschwörungstheorien um seinen Tod zu spinnen, kann man sicher sein, dass einige hochgestellte Persönlichkeiten nicht nur traurig über sein Ableben waren.

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