Mediales Schönheitsdiktat: Spieglein, Spieglein in der Hand

Die Graphic Novels der Schwedin Liv Strömquist gehören zu den meistverkauften weltweit. In ihrer neuesten Veröffentlichung „Im Spiegelsaal“ widmet sie sich dem Thema der weiblichen Schönheit.

Neulich in einer großen Samstagabend-Show des deutschen Fernsehens: Zu Gast sind die Sängerin Viktoria Swarovski und der Schauspieler Jürgen Vogel. Während Vogel bei seinem Auftritt eine ausgebeulte, verwaschene Jeans trägt und einen ebenso schlabbrigen Pulli, hat sich Swarovski für den Anlass ein blau-glitzerndes Kleid ausgesucht, das ein wenig aussieht, wie ein Bonbonpapier. Ein sehr kleines Bonbonpapier. Als komplizierteste Aufgabe erweist es sich für sie an dem Abend, auf dem Stuhl hinter dem Ratepult Platz zu nehmen. Überhaupt müssen alle Bewegungsabläufe vor Ausführung erst sorgfältig geplant werden, notfalls reicht Moderator Kai Pflaume eine helfende Hand.

Die Zuschauenden ertappen sich bei diesem Anblick womöglich bei ihrer eigenen Verwunderung: Warum nur darf der Mann zur besten Sendezeit aussehen, als habe er gerade den Keller entrümpelt, während die Frau noch immer das Klischee des schmückenden Beiwerks erfüllt? Und sogleich drängt sich der nächste Gedanke auf: Warum eigentlich sollte uns das stören? Weshalb irritiert es uns so sehr, obwohl im 21. Jahrhundert doch eigentlich alle das Recht haben sollten, sich so zu kleiden, wie es ihnen gefällt?

Liv Strömquist liefert die Antwort auf diese Frage in einem der ersten Kapitel ihrer Graphic Novel „Im Spiegelsaal“. Sie schildert, wie für Frauen in der Neuzeit schwerer Schmuck, lange Fingernägel und Kleider, die die Luft abschnürten, zu Statussymbolen wurden. Mittels dieser Attribute vermittelten sie, dass ihre Familie sich Diener*innen oder Sklav*innen leisten konnte, um die Hausarbeit zu verrichten und die Frau nicht selbst arbeiten musste. Auf männliche Verehrer wirkte dies durchaus anziehend, da sie sich erhofften, durch die Allianz mit einer wohlhabenden Frau ebenfalls in den Genuss eines luxuriösen und arbeitsfreien Lebens zu kommen.

„Das ist der Grund, weswegen Sachen wie unpraktisch lange Haare, Schuhe, auf denen man kaum laufen kann, hinderlich lange Nägel etc. noch heute bei Frauen als äußerst attraktive Attribute gelten“, schreibt Strömquist. Und erklärt so indirekt, warum Viktoria Swarovskis Quizshow-Auftritt gleichermaßen als unemanzipiert wie auch als Zeichen der Selbstermächtigung gewertet werden kann. Dem war nicht immer so. Im weströmischen Reich zum Beispiel ging es bei der Heirat vorwiegend darum, politische Allianzen zu schmieden. Karl der Große betrieb eine expansive Heiratspolitik – oder wie Strömquist es ausdrückt: „Er erschlief sich sein Imperium“. Das Aussehen der Angetrauten oder andere individuelle Aspekte waren in Ehefragen zweitrangig. Es dominierten strategische Interessen.

Strömquists Illustrationen sind bewusst dilettantisch, manchmal sogar fast kindlich, aber ähnlich wie in den klassischen Märchen verbindet sich das Düstere und Abgründige mit poetischen Elementen.

„Im Spiegelsaal“ besteht aus fünf illustrierten Essays, in denen Strömquist das Verhältnis zwischen Weiblichkeit, Schönheit und deren Abbildung aus historischen und soziologischen Blickwinkeln analysiert. Das Besondere an dem Buch ist, dass es der studierten Politologin gelingt, auf überaus unterhaltsame Weise komplexe Zusammenhänge zu erläutern. In ihrer Bibliografie führt sie die Soziologin Eva Illouz oder die Schriftstellerin Susan Sontag an, zitiert aber auch mal die Bibel oder die Unternehmerin und Celebrity-Ikone Kim Kardashian.

Strömquists Illustrationen sind bewusst dilettantisch, manchmal sogar fast kindlich, aber ähnlich wie in den klassischen Märchen verbindet sich das Düstere und Abgründige mit poetischen Elementen. „Im Spiegelsaal“ ist somit nicht nur aufschlussreich, sondern auch sehr lustig. Die Zeichnerin betont selbst, dass es ihr in erster Linie darum gehe, Wissen zu vermitteln; den Humor nutze sie, um auch jene zu erreichen, die sich sonst für die von ihr behandelten Themen eher nicht interessieren. Sie beobachtet klar aus einer feministischen Perspektive, ist aber vor allem darauf bedacht, die gängigen Vorurteile auf Widersprüche abzuklopfen.

Dabei hielt die 1978 geborene Strömquist den Feminismus als Jugendliche eigentlich für überholt. Der deutschen Zeitschrift „Brigitte Woman“ erzählte sie, dass der Feminismus in den 1980er-Jahren als „vollzogen und erledigt“ galt, nur „hässliche, übersensible Frauen“ interessierten sich noch dafür. Doch dann hörte sie in einem Stockholmer Café den Vortrag einer Soziologin, die über die Ungleichheit in heterosexuellen Beziehungen sprach, und darauf hinwies, dass viele Frauen ihre Hobbies oder ihren Musikgeschmack wie selbstverständlich dem ihres Freundes unterordnen. Strömquist war „im Mark erschüttert“, denn genau dieses Phänomen hatte sie immer wieder in ihrem Freundeskreis beobachtet, ohne es jedoch in Worte fassen zu können. Auf einen Schlag wurde sie zur Feministin.

Seither beschäftigt sie das Thema in ihrer Arbeit, und sie nutzt auch gerne die provokante Wirkung der Bilder. 2017 waren in der Stockholmer U-Bahn zahlreiche Zeichnungen von Strömquist zu sehen, unter anderem auch Auszüge aus ihrem ersten Buch, „Der Ursprung der Welt“, in dem es um die weiblichen Geschlechtsorgane und die Regelblutung geht. Die Illustration einer menstruierenden Eiskunstläuferin sorgte für Aufsehen, zahlreiche Beschwerden gingen bei der Stockholmer Nahverkehrsgesellschaft ein, und die rechtspopulistische Partei „Die Schwedendemokraten“ versuchte, die Ausstellung vorzeitig zu beenden.

Über die Frage, ob eine U-Bahn-Station der richtige Ort sei, um Tabus zu brechen, wurde leidenschaftlich diskutiert, auch über die Grenzen Schwedens hinweg. Bringt es die Gesellschaft voran, wenn Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen auf ihrem Weg zur Arbeit mit Bildern konfrontiert werden, die sie womöglich verstören können? Das Komitee, welches Strömquists Werke ausgesucht hatte, hielt dagegen: „Art is a form of tradition were the human body has always been subject for interpretation. By showing art of Liv Strömquist, we wanted to celebrate the human body in all of its shapes and forms.“ An weiblicher Nacktheit in der Kunst störte sich lange niemand, solange sie den gängigen Schönheitsidealen entsprach.

Ausschlaggebend ist eben nicht nur, was ein Bild darstellt, sondern auch wessen Perspektive die Darstellung prägt. Als Beispiel führt Strömquist in ihrem Buch Marilyn Monroe an, die zeitlebens dem Blick der männlichen Fotografen ausgeliefert war, und kaum Einfluss darauf hatte, welches Bild von ihr der Öffentlichkeit gezeigt wurde. Im Gegensatz dazu entscheidet heute Kim Kardashian eigenmächtig darüber, wie sie sich präsentiert. Sie braucht keinen „Lustmolch“ mehr, der ihr seinen „male gaze“ aufzwingt. Ist das aber wirklich die erhoffte Selbstermächtigung? Oder hat Kardashian einfach nur gelernt, „sich selbst mit dem gleichen, geilen Blick zu betrachten“, den männliche Fotografen Jahrzehnte zuvor auf Marilyn richteten, wie Strömquist nahelegt?

Bloß weil die Ikonen von heute scheinbar selbst über ihre Inszenierung in den sozialen und medialen Netzwerken entscheiden, wird dadurch nicht ein System legitimiert, welches an sich fragwürdig ist. Sicherlich könnte man argumentieren, dass Kardashian und Co. wenigstens gut an ihrer Selbstausbeutung verdienen – leider bereichern sich aber auch die milliardenschweren, meist männlichen, Besitzer der dahinterstehenden Industrie daran. Ebenso bedeutsam ist die Frage, was all das mit den Frauen macht, die unablässig von idealisierten Bildern umgeben sind, aber nicht zu jenen zählen, die ihr Aussehen zum Werkzeug des sozialen Aufstiegs machen können oder wollen. Für Frauen, die sich von solchen Schönheitsdiktaten lossagen, wird im Gegenzug schnell die vermeintliche Authentizität zur Ware. Welches Bild auch immer man von sich produziert: als Teil der Öffentlichkeit bleibt man zwangsläufig auch Teil einer Inszenierung. Strömquist schafft es, auf wenigen Seiten die ganze Komplexität des Themas darzustellen und Denkanstöße zu liefern, ohne zu vereinfachen oder sich zu verheddern. Damit wiederholt sie das Kunststück, das schon in ihr Buch „Der Ursprung der Liebe“ so lesenswert machte.

Insbesondere für Frauen ab einem gewissen Alter ist es nicht mehr so leicht, mittels vermeintlicher Attraktivität der Glitzerwelt ihre eigenen Spielregeln aufzuzwingen, wie Strömquist zeigt. Als Beispiel führt sie eine Frau an, die an den Anforderungen zerbrach, die sie an sich stellte, und zwar lange ehe das Internet erfunden wurde: die Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sisi. Besessen von ihrem Aussehen, quälte sie sich mit Hungerkuren und kasteite sich täglich in einem eigens eingerichteten Trainingsraum. Da sie schlechte Zähne hatte, sprach sie sehr undeutlich, und in den letzten Jahren ihres Lebens verschleierte sie sich freiwillig, um niemandem ihr gealtertes Äußeres zuzumuten.

Letztlich geht es um Kontrolle: da-
rum, dass wir alle uns in jenem „Spiegelsaal“ befinden, der Strömquists Graphic Novel ihren Titel gibt. Vor allem Frauen sind ständig mit ihrem eigenen Bild konfrontiert, werden dazu gedrängt, Einfluss darauf zu nehmen – um nahezu jeden Preis. So wie Viktoria Swarovski: Das eigentlich Irritierende an ihrem TV-Auftritt war, dass weder ihre Kleidung noch ihre Frisur oder ihr Make-up Spontaneität erlaubten. Wie viel Energie kostet es wohl, spontane Gefühlsregungen oder Bewegungsimpulse in Schach halten zu müssen? Natürlich war auch Jürgen Vogels Auftritt Teil einer wohl überlegten Inszenierung. Wie jede öffentliche Person ist er sich seiner Wirkung bewusst. Nur schien seine Interpretation des Dauerentspanntseins ihn deutlich weniger Kraft zu kosten.

Um die Außenwelt vor ihrem vermeintlichen körperlichen Verfall zu schützen und sich selbst vor der Wahrnehmung der Außenwelt, ging Kaiserin Sisi am liebsten nachts spazieren. Ja, die Frauen haben sich mittlerweile die Kontrolle über ihr Auftreten erkämpft. Aber welchen Preis bezahlen sie dafür?

Liv Strömquist: Im Spiegelsaal. Aus dem Schwedischen übersetzt von Katharina Erben. Arena Verlag, 168 Seiten.

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