Modernismus in der Ukraine
: Eine überfällige Korrektur


Über Jahrzehnte hinweg wurden künstlerische Bewegungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im russischen Zarenreich und danach in der Sowjetunion eine radikal neue ästhetische Formsprache entwickeln wollten, umstandslos unter eine „russische Avantgarde“ subsumiert. Eine Ausstellung in Brüssel versucht das nun zu korrigieren – nicht nur, weil der russische Angriffskrieg mit dem Ziel der kulturellen Auslöschung der Ukraine verbunden ist.

Anatol Petrytskyi, Am Tisch (1926), Nationales Kunstmuseum 
der Ukraine. (Foto: Pressemappe Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique)

Eine der beeindruckendsten Ausstellungen, die der Brüsseler „Palais des Beaux-Arts“ (Bozar) seit der Jahrtausendwende präsentiert hat, war die zum Jahreswechsel 2005/2006 sehr gefeierte Schau „La Russie à l’avant-garde“. Es handelte sich um eine Reise durch die künstlerische Moderne der Jahre 1900-1930, in jenem geographischen Raum, den einst die Sowjetunion und davor das russische Zarenreich umfasste. Anschaulich, in einem quantitativ wie qualitativ atemberaubenden Überblick und auch für Laien gut nachvollziehbar, wurde die Entwicklung der radikalen Kunststile nachgezeichnet, die sich in dieser katalysatorischen Zeit dort entfalteten. Dabei wurde erlebbar, wie sehr das Ringen um eine revolutionäre künstlerische Formsprache auch dem Ringen um eine neue Gesellschaftsform, ja um die Schaffung eines „neuen Menschen“ entsprach, ein Ringen, das nationale Grenzen transzendierte.

Alle damals im Rahmen des „Europalia-Russia Festival 2005“ präsentierten Werke waren durchweg als „russisch“ deklariert, ungeachtet des Geburtsorts, der Biografie und des kulturellen Selbstverständnisses ihrer Urheber*innen. Der begleitende Katalog war mit einem Geleitwort von Präsident Wladimir Putin versehen, der schrieb, dank der Ausstellung würden die Europäer „unser Land“ – Russland – hoffentlich besser verstehen und diese trage „zur Schaffung eines einzigen kulturellen und humanitären Raums Europa“ bei.

Heute erscheinen Titel und Konzept der Ausstellung in einem anderen Licht. Rückblickend war das auch ein Coup für Putins Regime und dessen immer schärfer hervortretende, oft als „neoimperial“ bezeichnete geopolitische Ambitionen: Denn was im Westen jahrzehntelang umstandslos als „russisch“ präsentiert wurde, war tatsächlich in verschiedene national bestimmte Kulturräume aufgefächert, die sich gleichwohl überschnitten, beeinflussten und teils regen Austausch erlebten, auch über den osteuropäischen Raum hinaus.

Zäsur in der Wahrnehmung

Spätestens der Georgienkrieg von 2008 und der nicht zuletzt auf die kulturelle Auslöschung der Ukraine zielende jüngste russische Angriffskrieg sorgten auch im Westen für eine Zäsur in der Wahrnehmung, die das Bild eines übergreifenden „russischen“ Kunst- und Kulturraumes brüchig werden ließ. So ist im „Palais des Beaux-Arts“ noch bis Mitte Januar als Teil der „europalia georgia“ die Ausstellung „L’avant-garde en Géorgie (1900-1936)“ zu sehen.

In den „Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique“ gesellt sich seit vergangener Woche die Schau „In the Eye of the Storm: Modernism in Ukraine, 1900-1930s“ hinzu. Bis Ende Januar sind unter anderem Werke von Alexandra Exter, Sonia Delaunay, Alexander Archipenko, Kasimir Malewitsch und El Lissitzky zu sehen – alles Künstler*innen, die schon in der Auswahl zur „russischen“ Avantgarde 2005 prominent repräsentiert waren.

Dass die Ausstellung zum jetzigen Zeitpunkt realisiert wurde, hat allerdings nicht nur mit ukrainischer kultureller Selbstverteidigung angesichts des russischen Auslöschungskrieges zu tun. Vielmehr wurde ein Großteil der zu sehenden Werke zum Schutz vor Zerstörung außer Landes gebracht. Unter durchaus dramatischen Umständen, wie Konstantin Akinscha, einer der Kuratoren der Schau, auf einer Pressekonferenz am Mittwoch vergangener Woche in Brüssel erzählte: Der Tag des Abtransports Mitte November vergangenen Jahres stellte sich später als der des bislang heftigsten Beschusses durch russische Raketen seit Kriegsbeginn heraus.

Doch alles ging gut, zumindest was die Exponate betrifft, die nun in Brüssel zu sehen sind. Auf zwei Räume verteilt sind mehr als 60 Werke ausgestellt, die die Entfaltung der modernistischen Bewegung in der Ukraine dokumentieren. Stilistisch finden sich darin beispielsweise vom Futurismus, Suprematismus und Konstruktivismus beeinflusste Arbeiten wieder, wobei unter den acht Rubriken, in die die Ausstellung unterteilt ist, der „Kubofuturismus“ den Anfang macht.

Von Charkiw nach Venedig

Neben Alexandra Exter war Alexander Bogomazow einer der wichtigsten Vertreter dieser vor dem Ersten Weltkrieg entstehenden Stilrichtung, der sich als ukrainisch identifizierte. Die Bewegung und Dynamik des Futurismus wird hier mit der Zerlegung gegenständlicher Motive in zylindrische Objekte verschmolzen, wie an dem von Bogomazow ausgestellten Ölbild „Landschaft, Lokomotive 1914-1915“ sehr schön zu sehen ist. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die Lok, die sich aus einer zusammenstürzenden, wolkenumwogten Landschaft herauswindet. Bogomazow, der auch Kunsttheoretiker war, wurde 1922 als Professor an das Institut der Bildenden Künste in Kiew berufen, wo er auch den größten Teil seines Lebens verbrachte. Als solchermaßen genuin „ukrainischer Künstler“ sei der 1930 Verstorbene nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in vielen westlichen Ausstellungen über die „russische“ Avantgarde ignoriert worden, so sein Biograf James Butterwick.

Die Rubriken der Ausstellung orientieren sich allerdings nicht konsequent an den Stilrichtungen, die heute der Avantgarde zugeschlagen werden. Sie folgen auch deren Zentren in der Ukraine. Diese waren neben Charkiw, das in der Ausstellung herausgehoben präsentiert wird und seit Beginn der russischen Invasion stark umkämpft ist, in Odessa und Kiew zu finden.

Die Bedeutung Charkiws kommt nicht von ungefähr: Nachdem die Bolschewiki die national gesinnten ukrainischen Kräfte im Unabhängigkeitskrieg (1917-1921) besiegt hatten, folgte auf eine Phase der erzwungenen „Russifizierung“ ab 1923 die Politik der „Ukrainisierung“, um die Entwicklung einer eigenen nationalen Sprache und Kultur zu fördern. Als Hauptstadt der „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ wurde Charkiw zum Zentrum einer neuen kulturellen Identität auserkoren, die sowohl ukrainisch als auch sowjetisch sein sollte. (In den 1930er-Jahren erfolgte dann erneut eine Kehrtwende, und der „ukrainische bourgeoise Nationalismus“ wurde zum Feind erklärt.)

Auch Kulminationspunkte der modernistischen Bewegung, wie etwa die Biennale von Venedig und der Einfluss von Organisationen wie der 1918 in Kiew gegründeten säkular-jüdischen „Kulturliga“ werden betont. Nachdem es während des Bürgerkrieges zunächst einmal mehr zu Pogromen gegen die Juden gekommen war, wurde in der Zeit der Ukrainischen Volksrepublik (1917-20) deren „national-personale“ Autonomie gefördert. Die kurzlebige Kulturliga setzte sich die Vereinigung von jiddischer Kultur und Weltkultur zum Ziel, kam aber in den 1920er-Jahren immer mehr seitens der Bolschewisten unter Druck. Unter den ausgestellten Arbeiten aus diesem Kreis stechen die Werke von El Lissitzky, wohl das bekannteste Mitglied der Kulturliga, sowie von Sarah Shor und Issakhar Ber Ryback hervor.

Stilvielfalt und Stalinismus

Wie sehr die Mordlust der Antisemit*innen bereits damals ins Bewusstsein des Judentums eingeprägt war, dokumentiert das in Brüssel ausgestellte großformatige Bild des 1900 im ukrainischen Lipniki geborenen Manuil Shekhtman, das den Titel „Pogromopfer“ trägt. Darauf ist eine Gruppe von Jüdinnen und Juden zu sehen, die von den Folgen einer antisemitischen Gewaltorgie gezeichnet sind. Shekthman, der sich später zum Kampf gegen die Nazis an die Front meldete und starb, gehörte allerdings nicht zur Kulturliga, sondern zur „Vereinigung der revolutionären Kunst der Ukraine“ sowie zu den sogenannten Boychukisten. Als Schüler von Mychajlo Bojtschuk schuf er auch Werke wie die Fresken „Frondienst“ und „Erntefest“, die wegen ihrer bäuerlichen Thematik im Kampf der Bolschewisten gegen die ukrainischen Kulaken als „bürgerlich-nationalistischer Formalismus“ beschimpft und zerstört wurden.

Der 1882 geborene und aus der Westukraine stammende Bojtschuk synthetisierte byzantinische Kunst, italienische Freskenmalerei der Vorrenaissance und ukrainische „Volkskunst“ zu einem eigenen Stil. Die um ihn sich bildende Schule ist laut Kurator Akinscha die einzige Gruppe in der modernistischen Bewegung, die wegen ihrer ausgeprägten Orientierung an der örtlichen Kultur stilistisch als genuin „ukrainisch“ bezeichnet werden kann. Ansonsten herrschte eine Vielstimmigkeit der Einflüsse und Inspirationen, wobei die betreffenden Künstler*innen ihre eigene Version der verschiedenen internationalen Trends zu verwirklichen versuchten. Allerdings sei es wiederum „bestenfalls naiv“, wenn man versuche, den Boychukismus der Avantgarde zuzuschlagen, denn dieser sei im Wesentlichen retrospektiv gewesen und hatte „nichts mit radikalen Experimenten gemein“, so Akinscha in seiner Einleitung zum Katalog. Bojtschuk, der Professor an der ukrainischen staatlichen Kunstakademie und auch für kurze Zeit deren Rektor war, fiel wie einige seiner engsten Mitarbeiter der politischen Säuberung zum Opfer und wurde 1937 hingerichtet.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Stalinismus der modernistischen Bewegung schon überall in der Sowjet-
union den Garaus gemacht. Wenn man so will, ist es dieses unrühmliche Ende, das die Betrachtung der verschiedenen modernistischen Bewegungen mit der tradierten Rede über die „russische Avantgarde“ verbindet: Auch die Brüsseler Ausstellung von 2005 konstatierte, der Hass des stalinistischen Regimes auf die abstrakte „formalistische“ Moderne und die Verpflichtung der Künstler*innen auf den Sozialistischen Realismus und dessen ideologische Postulate habe die Suche nach dem radikal Neuen, Revolutionären in den Künsten spätestens 1934 völlig zum Stillstand gebracht. Wer nicht spurte, landete häufig im Gulag oder direkt vor dem Erschießungskommando.

Keine neue Zwangsjacke

Der Großangriff auf das, was als die ukrainische intellektuelle Elite wahrgenommen wurde, war da schon ein paar Jahre her. Mit dem Ende der Politik der „Ukrainisierung“ wurden nicht nur die verfemten Künstler*innen verschleppt und ermordet, sondern zahlreiche ihrer Kunstwerke zerstört oder in geheime Lagerstätten gebracht. Erst Mitte der 1950er- und 1960-Jahre kam das Interesse an ihnen wieder auf, wurden manche der Arbeiten wieder in sowjetischen Museen ausgestellt.

Dass in westlichen Nationen all diese Werke ohne jedes Zögern einer „russischen Avantgarde“ zugeschlagen werden, möchte die Ausstellung erklärtermaßen korrigieren. Seinerseits ideologisch wird man dabei allerdings eher nicht. Immer wieder wird betont, dass die Geschichte des Modernismus in der Ukraine in den Jahren 1900 bis 1930 eine komplizierte, von zahlreichen Einflüssen und Wechselwirkungen geprägte ist, wie sich auch an den Biografien der Künstler*innen erkennen lässt. Eine genuin „ukrainische“ Avantgarde gab es ebenso wenig wie die Künstler*innen der damaligen Zeit das Label „Avantgarde“ für sich reklamierten.

Nicht umsonst wird in dem Ausstellungskatalog aus einem Aufsatz von Oleh Ilnytzkyj zitiert, der als ein Pionier in der Erforschung des Futurismus in der Ukraine gilt. Ziel sei es nicht, der während des Zarenreichs und der Sowjetunion geschaffenen Kunst eine „neue ‚ukrainische’ Zwangsjacke“ zu verpassen, „sondern Wege zu finden, um der Vielfalt der Quellen und den unzähligen kulturellen Einflüssen gerecht zu werden, die aus so vielen Richtungen kamen“, so Ilnytzkyj. Die Anerkennung von Künstler*innen wie Exter und Malewitsch als ukrainisch schmälere weder deren Bedeutung für eine transnationale Avantgarde „noch für die rein russische Kultur, wo ihr Einfluss unbestreitbar ist“.

In the Eye of the Storm: Modernism in Ukraine 1900-1930s. Bis zum 28. Januar 2024. Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Rue de la Régence, 3, Brüssel.

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