„Norco“: Raffinerie und Melancholie

Umweltverschmutzung, Sekten und die Rückkehr an einen Ort, dem man eigentlich den Rücken gekehrt hat – Norco behandelt in kurzer Zeit eine große Palette an Themen. Die woxx hat eins der poetischsten Spiele des letzten Jahres gespielt.

Die gewaltige Raffinerie bestimmt das Ortsbild von Norco, die Umweltschäden bestimmen das Leben der Bewohner*innen.
 (Screenshots: Geography of Robots/Raw Furry)

Kay kehrt nach langer Abwesenheit an ihren Geburtsort Norco im US-Bundesstaat Louisiana zurück. Ihre Mutter ist vor kurzem verstorben, eigentlich will sie ihren jüngeren Bruder besuchen. Doch als Kay in Norco ankommt, ist dieser spurlos verschwunden. Gemeinsam mit dem Roboter Million, der der Familie „zugelaufen“ ist, macht sie sich auf die Suche nach ihm – und dem Geheimnis, das ihre Mutter hinterlassen hat.

Das Entwickler*innenteam „Geography of Robots“ nennt sein Spiel, das Anfang 2022 erschien, ein „Sci-fi Southern Gothic Adventure“. Es findet in einer nicht näher definierten Zukunft statt und konzentriert sich auf die bereits erwähnte Ortschaft Norco, in der Nähe der Großstadt New Orleans. Der Ortsname Norco ist eigentlich eine Abkürzung und steht für „New Orleans Refining Company“. Dabei handelt es sich – im Spiel und im echten Leben – um eine Arbeiter*innensiedlung für Angestellte der nahegelegenen Raffinerie der Firma Shield. In der Realität heißt der Ölkonzern nicht Shield, sondern Shell.

Die gigantische Ölraffinerie liegt unweit des Mississippi in den Sumpfgebieten Louisianas, am Ufer des Lake Pontchartrain, einem Brackwassersee. Diese Gegensätze – das ökologisch wertvolle Deltagebiet und die umweltverschmutzende Raffinerie – spielen eine wichtige Rolle in dem Spiel. Kays Suche nach ihrem Bruder führt sie nach kurzer Zeit zu Shield und sie findet heraus: Auch ihre Mutter hatte den Ölkonzern in den Wochen und Monaten vor ihrem Tod im Visier.

Klimakrise und Krebsdiagnose

Die Spieler*innnen erfahren dies nicht nur durch Kays Entdeckungen, sondern auch in Rückblenden: Zwischenzeitlich schlüpfen sie in die Rolle der Mutter. Auch nach ihrer Krebsdiagnose versuchte diese, den Machenschaften von Shield auf die Schliche zu kommen. Außerdem erhielt sie mysteriöse Anweisungen über eine App namens „Superduck“, die sie in einer internen Kryptowährung bezahlte. Sie stieß dabei auf eine Sekte, deren Mitglieder sich alle Garrett nennen und die sich in einem verlassenen Einkaufszentrum eingerichtet hat.

Norco – real und fikitiv – liegt in der sogenannten „Cancer Alley“: Ein 137 Kilometer langer Landstrich in Louisiana, in dem die Krebsraten höher sind als im Rest des Landes. Grund hierfür ist die hohe Umweltverschmutzung der petrochemischen Industrie, die sich entlang des Mississippi angesiedelt hat. Nicht nur Kays Mutter ist davon betroffen – auch ihr Weggefährte Duck, bei dem sich Kay Rat holt, ist schwer krank, weil er nahe der Raffinerie lebt.

Die Schäden, die die Raffinerie anrichtet, sind aber nicht nur lokal. Immer wieder wurde das Haus, in dem Kay aufgewachsen ist, überschwemmt, wie in einer Rückblende erzählt wird. Die Klimakrise manifestiert sich im Golf von Mexiko durch immer stärkere Hurricanes. Das auch im echten Norco. Wer sich Satellitenfotos des Ortes ansieht, wird neben der gigantischen Raffinerie hunderte Wohnhäuser entdecken, die alle blaue Plastikplanen anstelle der Dächer haben – eine Folge des Tropensturms Ida, der die Gegend um New Orleans im Jahr 2021 heimsuchte.

Die Klimakrise macht auch vor dem Geburtshaus der Protagonistin nicht halt – immer wieder wird es überschwemmt.


Ernst, aber humorvoll

Ungeachtet dieser Elemente, kann das Spiel Norco trotzdem erstaunlich lustig sein. So begegnet Kay einem Privatdetektiv, der ihr Informationen gegen ein Bier und eine Mahlzeit weitergibt. Auch die Sekte um die Garretts ist so absurd, dass man über deren Mitglieder eigentlich nur lachen kann. Gegen Ende des Spiels nimmt eine Art magischer Realismus Überhand, doch auch diese grotesken Handlungsstränge sind mit einem Augenzwinkern geschrieben.

Norco ist in Pixelgrafik gehalten, textlastig und die Spieler*innen müssen öfters kleine Rätsel lösen, um weiterzukommen. Das klingt nach klassischen „Adventure“-Spielen, wie sie in den 1990er-Jahren populär waren und die aktuell ein Revival erlebten. Doch im Gegensatz zu den eher humorvollen Klassikern der 1990er sind die Themen in Norco ernster: Trauer, Religion, Armut und Umweltzerstörung.

Neben dem Herumklicken und Kombinieren hat Norco auch eine Spielmechanik, die eher selten vorkommt: eine Mindmap. Ein Geflecht aus Personen, Orten, Firmen und Gedanken hilft, den Überblick über die verworrene Story zu behalten. Das erinnert ein wenig an das „Gedankenkabinett“ im grandiosen Rollenspiel Disco Elysium, an dem sich die Macher*innen von Norco auch inspiriert haben, als es um die Präsentation des Textes ging. Daneben haben viele Entscheidungen, so klein sie auch wirken mögen, einen großen Einfluss auf den späteren Spielverlauf.

Am Ende ist die Entstehungsgeschichte des Spiels ebenfalls inte-
ressant: Eigentlich begann Norco als Multimedia-Kunstprojekt um das echte Norco, in dem der Autor Yuts zum Teil aufwuchs. Nachdem er einige der Fotos, die er dort aufgenommen hatte, zu Pixel-Art verarbeitete, kam die Idee auf, ein Computerspiel daraus zu machen. Das Ergebnis lässt sich wirklich sehen. Neben der beeindruckend schönen Pixelgrafik und dem stimmigen Soundtrack ist die Bandbreite der Themen sowie die Tiefe und Poetik, mit der sie behandelt werden, hervorzuheben. Das Gefühl, nach langer Zeit in die eigene Heimat zurückzukehren, ist mit all seinen ambivalenten Gefühlen zwischen Melancholie und Freude, zwischen Bekanntem und Ungewissheit, dargestellt.

Für MacOS, Windows, Playstation und Xbox, ca. 15 Euro. Wir empfehlen den Kauf auf itch.io, da die Entwickler*innen dort am fairsten bezahlt werden.

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