Drei Autor*innen, drei unterschiedliche Zugänge zur Lyrik – doch in jedem Fall erweist sich das Resultat als ausgezeichnet. In dem zweiten Teil unserer Reihe „Poesie im Sommer“ stellen wir Ihnen drei besondere Gedichtbände vor.
In einer klaren und doch klingenden, mithilfe von Reim und Rhythmus fein skulpturierten Sprache erzählt Friedrich Anis Langgedicht „Stift“ die anrührende Lebensgeschichte eines Mönchs, der sich nach 30 Jahren kontemplativen Klosterlebens dazu entschließt, der Kirche den Rücken zu kehren und fortan als Koch seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Als Leser*in verfolgt man unmittelbar die einzelnen Etappen dieses strapaziösen und weitreichenden Entscheidungsprozesses, lernt den Sprecher allmählich kennen als einen von Zweifeln gepeinigten und mit der befürchteten Vergeblichkeit seiner Gottessuche ringenden Menschen. Man erfährt, dass seine Kindheit schwierig, die Eltern abwesend und abweisend, streng und gebieterisch waren: „Geglaubt an des Vaters / mächtiges Schweigen, gütig / war’s doch nicht.“ Der Gedichtband fordert eine aufmerksame Lektüre, Schlüsselelemente werden en passant und mit lapidarer Kürze erzählt, wie zum Beispiel die unglückliche Liebe, die den Gottesmann in die Arme der Kirche wie in jene einer barmherzigeren Geliebten trieb: „Die ich liebte und / pries, nahm mir der Herr, derselbe / welcher mich barg in elender / Stund“. Die aufs Nötigste reduzierten Verse ohne sprachliche Ornamente vermögen eine komplexe und tiefgründige Geschichte zu erzählen, die sich unentwegt an ihrer existenziellen Dimension reibt und zugleich stets auf das Jenseitige, Transzendente verweist: „Hab ich’s Leben versäumt, / weil ich diente dem einen / Herrn und seinen Gesetzen, / für den Preis kosmischer / Einzelhaft?“ Wäre diese Erzählung auch allein schon mehr als genug, hat die zweite Hälfte von „Stift“ Gedichte von spitzbübischem Witz und bewegender Wirklichkeitsnähe zu bieten. Die Texte werden bestimmt von Szenen, deren poetischer Charakter in ihrer intimen Alltäglichkeit liegt. Sie sind es schließlich auch, die Friedrich Anis „Stift“ zu einem wirklich gelungenen, ja auserlesenen Lyrikband machen.
Friedrich Ani: „Stift“, Gedichte, Suhrkamp Verlag, 2024, 241 Seiten, 20 Euro
„Nur noch den Abend erreichen“ von Fedor Pellmann
„Freundlich / geht die Welt weiter. Ich habe nichts mehr / und meine Zeit ist leer“, verkündet das lyrische Ich im Text „Das Fenster“, der den Auftakt von Fedor Pellmanns Gedichtband „Nur noch den Abend erreichen“ bildet. Einen Prozess der Gefühlsversteinerung durchlebend ergeben sich die Figuren in den lyrischen Miniaturen ihrem Schicksal, üben sich in Verzicht, vollziehen Gesten des Abschieds. Mit einer ihre Zerbrechlichkeit kaschierenden Gleichgültigkeit wenden sie sich voneinander ab, gehen aneinander vorbei, ohne dass sich ihre Blicke träfen, Neugier aufkeimte: „Euer Leben ist mir so egal wie meines / euch.“ Die Protagonist*innen, die ihrer selbst überdrüssig sind oder zumindest zu sein scheinen, leben in einem von Überreife gekennzeichneten Zeitalter, das mit der Hoffnungslosigkeit eines Wiedergängers auch nach seinem eigenen Zerfall, nach der Zerrüttung der großen Erzählungen fortdauert. Manchmal werden mit süßer Nostalgie Kindheitsszenen heraufbeschworen, der*die Sprecher*in denkt mit Wehmut und Sehnsucht an vergangene Zeiten zurück, nur um im nächsten Gedicht wieder das Altern, den in Demenz und Vergessen mündenden menschlichen Verfallsprozess zu bespiegeln. Sozialkritik verbindet sich mit dystopischen Elementen sowie biblischen Referenzen, eine endzeitliche Atmosphäre wird geschaffen: „Wir befestigen die Fenster / und kaufen illegal Handfeuerwaffen. / Das ist wie im Wilden Westen. // Wenn das Licht weg ist, schießen wir auf alles.“ Von einer herben Fantasie und orakelhafter Vieldeutigkeit sind die Szenen, die in „Nur noch den Abend erreichen“ entworfen werden – dadurch besitzen die Gedichte einen Charme, einen Zauber, der durch ihren mal elegischen, mal brutalen Tonfall noch akzentuiert wird. So sorgen die Texte trotz ihrer Düsterheit für lichte Momente, Augenblicke reinsten Lesegenusses.
Fedor Pellmann: „Nur noch den Abend erreichen“, Gedichte, Jung und Jung Verlag, 2024, 144 Seiten, 23 Euro
„Schwankende Lupinen“ von Jane Wels
In Jane Wels’ lyrischem Debüt „Schwankende Lupinen“ treffen wir zuvorderst auf anmutige und filigrane Sprachkonstruktion. Es sind Gedichte, die in ihrer Wirkung und Gestalt scharfkantigen Eiskristallen gleichen, denn – wie das bei Gedichten üblich ist – vergehen sie schnell, werden bei jedem Umblättern der Seiten verweht und doch erfrischen, beleben sie uns bei direktem Kontakt – und stechen uns so manches Mal wie kleine Nadeln. Ihre Kraft wurzelt in der hochkomplexen Bildlichkeit, mit der die Autorin inhaltlich weite Flächen einzirkelt: Unverzagt erforscht sie das fragile wie intime Miteinander, das in der zärtlichen Hinwendung zum „Du“ seinen äußersten Ausdruck findet: „Ich stehle dir / die Worte aus dem Mund, / hefte sie an die Kiele / meines Cembalos. / Deine Noten / sind Veilchen, / die aus meinen Händen wachsen.“ Zustandsveränderungen und Metamorphosen dominieren die von Wels skizzierten Weltentwürfe; der Status quo gleicht einer alten Haut, die durch das unnachgiebige Schürfen des lyrischen Ichs langsam abgestreift wird: „Diese Tage schreiben / neue Ränder in die Zeit, / lösen Schichten, / die Gespinste tragen / und Nachtpfauenaugen.“ Dieses Sprecher-Ich wird angetrieben von einer Sinn- und Selbstsuche, die das Gemeinschaftliche als integralen Bestandteil des Individuationsprozesses versteht; zwischen Phasen der Dissolution und Phasen der Konsolidierung wechseln, wie eben das Ich selbst, auch die dargestellten Beziehungen und Landschaften. Dabei ist zwischen den einzelnen Texten ein Echo zu vernehmen, „[w]er ist Ich?“ wird einmal als Frage in den Raum geworfen, in einem anderen Gedicht heißt es dann: „Ich ist ein Quadrat / aus Farbe und Form.“ Manchmal taucht das lyrische Ich in die Vergangenheit, dann schwappen Erinnerungen wie steigendes Flusswasser an die Ufer seines Gedächtnisses: „Vergangenes / wurzelt sich unter mein Kissen […]“. Meistens aber ist es das sich ständig verändernde, „wilde Jetzt“, dessen sich die Texte annehmen. Ein sehr starkes lyrisches Erstlingswerk.