Private Beherbergung geflüchteter Menschen aus der Ukraine: „We make it up as we go“

Seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs am 24. Februar haben zahlreiche Familien in Luxemburg sich bereit erklärt, ukrainische Geflüchtete bei sich zu beherbergen. Seit Anfang März wird die entsprechende Vermittlung von Caritas und Croix-Rouge organisiert. Wir haben mit Marc Crochet, Generaldirektor der Caritas, über seine Erfahrungen der letzten Wochen gesprochen.

„In Sachen private Beherbergung von Geflüchteten gilt meines Erachtens: Il ne faut pas confondre urgence et précipitation“: 
Marc Crochet von der Caritas legt Wert auf eine geordnete Prozedur. (Copyright: Caritas)

woxx: Die Caritas organisiert jetzt seit rund einem Monat die Vermittlung zwischen potenziellen Gast
familien und ukrainischen Geflüchteten. Wie ist Ihre vorläufige Bilanz?


Marc Crochet: Wir sind im Katastrophenmodus. Niemand war auf das Ausmaß der Ereignisse vorbereitet, und demnach hat auch niemand einen richtigen Plan, wie damit umzugehen ist. We make it up as we go. Jeden Tag kommen mindestens hundert ukrainische Geflüchtete hier an und jeden Tag stellt das Ona (Office national de l’accueil; Anm. d. Red.) hundert zusätzliche Betten in den 19 seit dem 24. Februar neu eröffneten Notunterkünften zur Verfügung. Wir sind also nicht weit davon entfernt, von der Welle eingeholt zu werden. Bei fast 4.000 Geflüchteten reichen die Betten in den öffentlichen Notunterkünften natürlich bei weitem nicht aus. Private Initiativen entstehen ganz spontan. Hilfsorganisationen wie die Croix-Rouge und die Caritas versuchen nun diese private Initiativen zu unterstützen und, soweit möglich, etwas zu ordnen.

Hatte die Caritas zuvor bereits Erfahrung mit der privaten Unterbringung von Flüchtlingen?


Nein. Und wir waren zugegebenermaßen auch immer sehr kritisch gegenüber solchen Angeboten. Die private Flüchtlingsaufnahme ist ein sehr komplexes Unterfangen und viele Gastfamilien wissen zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht genau worauf sie sich einlassen. Zudem ist ein geordnetes System mit einem riesigen Organisationsaufwand verbunden und eine Erfolgsgarantie gibt es leider auch nicht. Viele lassen sich von ihrer Hilfsbereitschaft mitreißen, wohnt dann aber erst mal jemand bei ihnen, stellt sich schnell ein Gefühl der Überforderung ein.

Wieso haben Sie sich trotzdem dazu entschieden, die private Flüchtlingsaufnahme zu koordinieren?


Die allermeisten Menschen, die einen Flüchtling bei sich zu Hause aufnehmen wollen, haben dabei die besten Intentionen. Es wird aber leider immer auch solche geben, die versuchen, chaotische Situationen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Wir haben zum Beispiel ein Angebot von einem 57-Jährigen bekommen, der sich bereit erklärte, einen alleinreisenden Jungen zwischen fünf und zehn Jahren bei sich aufzunehmen. Der Mann hatte sich vielleicht nur schlecht ausgedrückt, dennoch gilt es bei solchen Angeboten hellhörig zu werden. Bei Initiativen in den sozialen Medien, wo Menschen private Unterkünfte anbieten und anfragen können, fehlt es an einer entsprechenden Kontrolle. Aus diesem Grund haben sich Caritas und Croix-Rouge dazu entschieden, eine geregelte Prozedur anzubieten.

Wie gehen Sie vor, um die Flüchtlinge keinem unnötigen Risiko auszusetzen?


Wer jemanden bei sich zu Hause aufnehmen möchte, muss erst einmal das von der Caritas und der Croix-Rouge aufgestellte Formular ausfüllen. Darin kann etwa angegeben werden, wie viele Menschen im Haushalt leben, ob die Wohnung barrierefrei ist, ob den potenziellen Gästen ein eigenes Schlaf- und Badezimmer angeboten werden kann und so weiter. Erscheint eine Anfrage uns vielversprechend, nehmen wir mit dem Anbieter Kontakt auf und statten der potenziellen Gastfamilie einen Besuch ab, um uns einen näheren Eindruck von dem Angebot zu machen. Dabei sehen wir uns die Räumlichkeiten an. Natürlich versuchen wir aber auch, uns ein genaueres Bild der Beweggründe der Anbieter zu machen. Wir haben mittlerweile um die 1.500 Angebote erhalten, etwa 100 Familien wurden bisher validiert.

Der zweite Schritt ist dann das Matching zwischen Gastfamilie und den Geflüchteten.


Dieser Schritt wird leider erst möglich, nachdem den Geflüchteten über das Außenministerium der Status des temporären Schutzes gewährt wurde, und das Ona den Betroffenen gegebenenfalls finanzielle Unterstützung zusichern konnte. Croix-Rouge und Caritas haben deshalb mit dem Ona vereinbart, dass sie die Ukrainer mit Schutzstatus, die eine Gastfamilie suchen, an uns weitervermitteln. Da die Behörden die Geflüchteten in der chronologischen Reihenfolge ihrer Ankunft in Luxemburg einbestellen, sind es bisher allerdings fast ausschließlich Menschen, die entweder bei Familienmitgliedern oder Freunden untergekommen sind. Diejenigen, die bisher den Status erhalten haben, haben also bereits eine feste Bleibe. Außerdem wurde mit einem größeren Hotel in Differdingen kürzlich die erste staatliche Struktur für ukrainische Personen mit internationalem Schutzstatus geschaffen. Das Angebot richtet sich an diejenigen, die ausdrücklich nicht bei Privatleuten wohnen möchten, wovon es auch einige gibt. Im Moment warten wir jedenfalls noch auf Kontaktdaten von ukrainischen Flüchtlingen, die bei einer Gastfamilie unterkommen möchten.

Bisher sind also noch keine ukrainischen Flüchtlinge bei Gastfamilien untergekommen?


Doch, die haben aber nicht die von Croix-Rouge und Caritas mit der Unterstützung des Familien- und Integrationsministeriums entwickelte Prozedur durchlaufen. Ich habe großen Respekt gegenüber Privatinitiativen. Sie sind ein Zeichen der gelebten Solidarität. In Sachen private Beherbergung von Geflüchteten gilt meines Erachtens allerdings: Il ne faut pas confondre urgence et précipitation. Wir wurden bereits ein paar Mal kontaktiert, weil die Betroffenen das Verhältnis wieder auflösen wollten. Die Solidarität gegenüber Flüchtlingen ist aktuell so groß wie nie zuvor. Die private Flüchtlingsaufnahme ist aber um keinen Deut leichter geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum Teil scheiterte es an so banalen Dingen wie nicht-stubenreinen Haustieren. Über die Hälfte der ukrainischen Flüchtlinge sprechen kein Englisch. Ich hatte zudem Diskussionen mit Luxemburger Familien, die nicht verstanden, warum niemand an der von ihnen organisierten Sightseeingtour durchs Ösling interessiert war. Die meisten ukrainischen Flüchtlinge haben ganz andere Sorgen und Prioritäten. Sie sind psychisch schwer belastet, haben Familienmitglieder zurücklassen müssen, oder gar verloren. Sie sind in Trauer.

Kann die psychologische Betreuung der ukrainischen Geflüchteten gewährleistet werden?


Das wird nicht leicht. Erstens war das psychologische Angebot hierzulande schon vor dem Ukrainekrieg nicht unbedingt immer ausreichend. Zweitens mangelt es an Ukrainisch oder Russisch sprechendem Personal, das für Kriegstraumata spezialisiert ist. Drittens kann man Menschen, die provisorisch in einer staatlichen Struktur unterkommen, keine Betreuung anbieten, die über Seelsorge hinausgeht. Für eine Psychotherapie muss der Patient in stabilen Verhältnissen leben. Was wir als Caritas tun, ist mittels eigener Gelder unsere psychologische Dienststelle ausbauen, um Traumatherapie anbieten zu können. Ich denke, dass Luxemburg in den nächsten Monaten und Jahren viel in die psychologische Betreuung dieser Menschen wird investieren müssen.

Im Moment sind die Gastfamilien nicht ausreichend auf das, was sie erwartet, vorbereitet.

Erhalten die Gastfamilien Informationen über einen traumasensiblen Umgang mit Geflüchteten? Ein entsprechendes Praxishandbuch zum Beispiel?


Wir sind zurzeit tagtäglich mit unzähligen, äußerst dringenden Problemen konfrontiert. Wir sehen beispielsweise nach Geflüchteten, die nach ihrer Ankunft in Luxemburg notoperiert werden mussten. Da sie zu dem Moment noch keinen Schutzstatus hatten, stellt sich in einzelnen Fällen die Frage, wer finanziell für den Eingriff aufkommt. Oder für die medizinische Nachsorge, für Medikamente. Um nur eines dieser sehr akuten Probleme zu nennen. Natürlich wäre es super, wenn wir allen, die mit traumatisierten Ukrainern in Kontakt kommen, ein entsprechendes Praxishandbuch aushändigen könnten – soweit sind wir aber leider noch nicht. Wir verweisen vorübergehend auf ausländische Publikationen, wie etwa die von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte „Psychological first aid: Guide for field workers“. Eine aktuelle, luxemburgspezifische Broschüre mit entsprechenden Informationen zu Kontaktstellen wäre jedoch ebenfalls nötig. Im Moment sind die Gastfamilien nicht ausreichend auf das, was sie erwartet, vorbereitet.

Wie wird es konkret ablaufen, wenn Flüchtlinge über die Caritas an eine Gastfamilie vermittelt werden? Stehen die Familien und ihre Gäste dann noch weiterhin mit Sozialarbeiter*innen der Caritas in Kontakt?


Wir sind gerade dabei mit dem Familien- und Integrationsministerium eine Konvention auszuarbeiten. Insgesamt sollen uns drei neue Posten gewährt werden: zwei für die Sozialhilfe und einen für administrative Aufgaben. Die Croix-Rouge erhält ebenfalls drei Posten. Darüber hinaus stützen wir uns auf freiwillige Kräfte. Die zur Verfügung gestellten Mittel dienen allerdings ausschließlich der Zusammenführung der Familien. Hier hört das Engagement des Familienministeriums auf. Da fängt das eigentliche Zusammenleben, die Herausforderung des Miteinander-Auskommens aber überhaupt erst an. Um die Beherbergung der Geflüchteten kümmert sich offiziell das Ona. Im Gesetz, das den Rahmen für den internationalen Schutz regelt, ist eine Sozialhilfe gar nicht vorgesehen. Bis zum heutigen Tag ist also nicht geklärt, ob der Staat Mittel für die von Ihnen angesprochene Betreuung zur Verfügung stellen kann und wird. Für uns ist es allerdings undenkbar, zwei Familien zusammenzubringen, dann aber jegliche Unterstützung zu verweigern. Wir bieten deshalb allen Gastfamilien und ihren Gästen an, sich bei Fragen und Problemen an uns zu wenden, eine Arbeit, die wir über Spenden finanzieren.

Fragen bezüglich psychologischer Betreuung, von der woxx am Montag an das Gesundheitsministerium verschickt, blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

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