In den USA halten die Proteste gegen Präsident Donald Trumps weitreichende Abschiebeoffensive an. Obwohl die meisten Menschen das konkrete Vorgehen ablehnen, leiden Trumps Zustimmungswerte darunter nicht. Das ist auch das Ergebnis erfolgreicher Propaganda.

An Eskalation und entsprechenden Bildern interessiert: US-Präsident Trump lässt mit aller Härte gegen jene vorgehen, die gegen seine Abschiebeoffensive protestieren. Unser Bild zeigt eine Szene der sogenannten „No Kings Day“-Demonstrationen, hier am 14. Juni in Los Angeles. (Foto: EPA-EFE/KYLE GRILLOT)
„That escalated quickly!“ – Die längst zum Meme gewordene Aussage des von Will Ferrell gespielten Protagonisten der Komödie „Anchorman“ (2004) fasst das, was in den vergangenen Tagen in Los Angeles und darüber hinaus geschehen ist, treffend zusammen. Doch es lohnt sich, genauer hinzusehen und sich zu fragen, warum die Situation gerade jetzt und gerade in Los Angeles eskalierte.
Alles begann am 6. Juni, dem Freitag vor Pfingsten, kurz nach neun Uhr morgens. An mehreren Orten im Zentrum der Stadt, unter anderem im Fashion District und im Stadtteil Westlake, nahmen Mitarbeiter*innen der dem Heimatschutzministerium unterstellten Bundesbehörde „Immigration and Customs Enforcement“ (ICE) bei Razzien mehr als 100 Menschen fest, die sich illegal im Land aufhalten sollen und denen nun die Abschiebung droht.
Im Laufe des Tags kam es an mehreren Orten in der Stadt zu Protesten, unter anderem vor einem Bundesgefängnis in der Innenstadt und vor einer Filiale der Baumarktkette „Home Depot“, bei der eine der Razzien stattgefunden hatte. Der Parkplatz des Baumarkts gilt als Treffpunkt von Männern, die auf Arbeit als Tagelöhner hoffen. In den Tagen und Nächten darauf breiteten sich die Proteste an weiteren Orten von Los Angeles aus. Aber auch in verschiedenen Städten in mindestens 20 weiteren Bundesstaaten sowie in der Hauptstadt Washington, D.C., wurde protestiert.
Präsident Donald Trump reagierte, indem er 4.000 Soldat*innen der kalifornischen Nationalgarde und 700 Marines nach Los Angeles entsandte. Kostenpunkt laut Pentagon: 134 Millionen Dollar. Es war das erste Mal seit 1965, dass ein US-Präsident die Nationalgarde gegen den Willen des jeweiligen Gouverneurs in einem Bundesstaat einsetzte. Damals hatte Lyndon B. Johnson die Nationalgarde nach Alabama entsandt, nachdem Gouverneur George Wallace, ein lautstarker Befürworter der Segregation, sich geweigert hatte, Demonstrant*innen der Bürgerrechtsbewegung vor dem rassistischen Mob schützen zu lassen.
Nun, fast genau 60 Jahre später, entsendet wieder ein US-Präsident die Nationalgarde. Doch diesmal nicht, um diejenigen zu beschützen, die sich für Menschen- und Bürgerrechte einsetzen, sondern um sie niederzuknüppeln. Trump bezieht sich dabei auf Paragraf 12.406 des „United States Code“, der den Einsatz der Nationalgarde erlaubt, wenn es „eine Rebellion oder die Gefahr einer Rebellion gegen die Autorität der US-Regierung“ gibt. Dass Trump diesen Fall für gegeben hält, überrascht nicht. Immerhin hält er offenkundig sich selbst und nur sich selbst für die Regierung, und jeder Protest gegen seine Politik gilt ihm als Infragestellung seiner Autorität.
Die Praxis, Menschen in unmarkierte Vans zu zerren, ist keineswegs neu, sondern wurde bereits im Sommer 2020 in Portland, Oregon, erprobt.
Texas entwickelte sich schnell zum zweiten Zentrum der Proteste. Auch hier wurden Teile der Nationalgarde mobilisiert – allerdings nicht von Trump, sondern vom republikanischen Gouverneur Greg Abbott. In Tucson (Arizona) und Seattle (Washington) kam es ebenfalls zu größeren Protesten, bei denen jeweils mehrere Menschen festgenommen wurden. In Los Angeles wurde derweil eine nächtliche Ausgangssperre für das Stadtzentrum verhängt.
Vor Medienvertreter*innen rechtfertigte Trump den Einsatz unter anderem damit, dass Mitarbeiter*innen des ICE angespuckt worden sein: „Wenn sie spucken, schlagen wir zu.“ Bereits 2020 während der Proteste nach dem Mord an George Floyd hatte er den großflächigen Einsatz der Nationalgarde und anderer Einheiten des Militärs gefordert. Den damaligen Generalstabschef Mark Milley soll er bei einem Treffen gefragt haben, warum Soldat*innen Protestierende nicht einfach erschießen oder wenigstens in die Beine schießen könnten.
Überhaupt scheint das Vorgehen während der Proteste 2020 eine Art Blaupause für das Vorgehen heute zu sein. Auch die Praxis, vorzufahren und Menschen in unmarkierte Vans zu zerren, ist keineswegs neu, sondern wurde bereits im Sommer 2020 in Portland, Oregon, erprobt. Denn genau das geschah damals am 15. Juli dem 29-jährigen Mark Pettibone nach Protesten in der Innenstadt. Niemand, so Pettibone, habe sich ihm gegenüber als Polizei- oder Vollzugsbeamter zu erkennen gegeben. Erst nachdem er bereits eineinhalb Stunden in einer Zelle verbracht hatte, wurden ihm seine Rechte vorgelesen.
Ohne Frage, das oft brutale Vorgehen des ICE und die menschenfeindliche Rhetorik des US-Präsidenten gibt reichlich Anlass zu Protest. Von den vollmundig versprochenen eine Million Abschiebungen ist Trump jedoch derzeit noch meilenweit entfernt. Schon während seiner ersten Amtszeit hatte er große Reden geschwungen, doch am Ende lag die Zahl der Abschiebungen unterhalb jener, die während der Amtszeit von Präsident Barack Obama abgeschoben worden waren, und auch unterhalb der 271.000 Menschen, die im letzten Jahr der Präsidentschaft von Joe Biden des Landes verwiesen worden waren.
Jüngsten Zahlen der Regierung zufolge hat es in diesem Jahr bislang 207.000 „removals“, also Abschiebungen, gegeben. Geht es in diesem Tempo weiter, werden es am Jahresende rund 463.000 sein. Das wäre viel, aber nicht signifikant mehr als die 409.000 unter Präsident Barack Obama im Jahr 2012. Wohl auch wegen dieser Bilanz hatte Trump-Berater Stephen Miller die ICE zu den Razzien gedrängt.
Und doch verraten diese Zahlen nicht die ganze Wahrheit. Unter Biden fanden die meisten Abschiebungen in unmittelbarer Grenznähe statt und betrafen Menschen, die noch nicht lange im Land waren. Unter Trump werden Menschen, die seit Jahren in den USA leben und arbeiten, dort Familie haben und in ihre Nachbarschaft eingebunden sind, auf brutale Weise von vermummten und schwerbewaffneten Bundesagenten aus ihrem Alltag gerissen.
Anders als Trump versprochen hatte, werden nicht in erster Linie Schwerstkriminelle abgeschoben, sondern Lohnabhängige, die an ihren Arbeitsplätzen oder bei der Arbeitssuche aufgegriffen werden und deren Freund*innen, Nachbar*innen und Arbeitskolleg*innen nun protestieren. Das zeigt sich auch daran, dass der Anteil der Festnahmen der „U.S. Customs and Border Protection“ (Zoll- und Grenzschutzbehörde; CBP), die in erster Linie unmittelbar beim oder nach dem Grenzübertritt einschreitet, seit Jahresbeginn deutlich gesunken, der des ICE, bei dem das nicht der Fall ist, hingegen stark gestiegen ist.
Das Land verändert sich, und auch Trumps rassistische Abschiebepolitik wird die weiße Vorherrschaft nicht auf Dauer aufrechterhalten können.
Dass das ICE jetzt in Los Angeles, aber auch anderswo gezielt gegen Treffpunkte von Tagelöhnern vorgeht, bestätigt die Vermutung vieler „Expert*innen, die Behörde werde sich, um die Zielvorgaben zu erreichen, auf „low-hanging fruits“ konzentrieren, also auf diejenigen, die besonders wehrlos und besonders leicht zu finden sind. So gab es unter anderem Festnahmen vor Büros der Einwanderungsbehörde und vor Krankenhäusern. Die Landwirtschaft und das Hotelgewerbe hingegen, also Branchen, in denen Trump großen politischen Rückhalt genießt oder aber selbst geschäftliche Interessen hat, sollen auf seinen Wunsch hin ausdrücklich von den Razzien ausgenommen bleiben. Diese Anweisung war nachträglich und sehr plötzlich am 12. Juni per E-Mail an die regionalen ICE-Dependancen ergangen.
Doch nicht nur die Rhetorik der Regierung und das Vorgehen der Behörden haben sich verändert. Auch das Land ist heute ein anderes als 2012, als Obama seinen noch immer gültigen Abschieberekord aufstellte. Den Zensusdaten zufolge ist der Anteil der Weißen in den USA auf unter 60 Prozent gefallen, der der Hispanics – Einwanderer aus Lateinamerika oder Angehörige von Familien mit Einwanderungsgeschichte aus der Region – auf annähernd 20 Prozent gestiegen. In Kalifornien, New Mexico und seit 2024 auch in Texas stellen sie sogar die größte Bevölkerungsgruppe. 2012 waren auf Bundesebene 29 Abgeordnete oder Senator*innen Hispanics, derzeit sind es 53. Das Land verändert sich, und auch Trumps rassistische Abschiebepolitik wird die weiße Vorherrschaft nicht auf Dauer aufrechterhalten können.
Gleichzeitig sinkt der gewerkschaftliche Organisierungsgrad schein- bar unaufhaltsam weiter. Waren 2012 noch immerhin 11,3 Prozent der Arbeiter*innen in der Gewerkschaft, so sind es gegenwärtig noch 9,9 Prozent. Auf den ersten Blick erscheint es daher überraschend, wie wichtig die Gewerkschaften in den derzeitigen Protesten sind, zumal der Organisationsgrad unter Hispanics mit 8,5 Prozent noch einmal niedriger als bei anderen Gruppen liegt. In bestimmten Sektoren jedoch, vor allem in schlechtbezahlten Dienstleistungsberufen, haben einzelne Orts- oder Betriebsgruppen fast nur spanischsprachige Mitglieder. Interessen von Arbeiter*innen und Migrant*innen lassen sich hier unmöglich voneinander trennen, weil die meisten Mitglieder beides sind.
Eine Gewerkschaft, die in diesen Bereichen aktiv ist, ist die „Service Employees International Union California“, deren Präsident David Huerta am 6. Juni festgenommen wurde, als er sich vor Ort befand, um das Vorgehen der Behörden zu dokumentieren. Die Polizei spricht von „einem Versuch, Strafverfolgungsbehörden zu stören“. Inzwischen ist Huerta gegen Kaution wieder auf freiem Fuß. Er ist zum Symbol geworden für gewerkschaftliches Engagement, das über die Arbeitswelt hinausreicht.
„Es geht hier nicht um mich“, sagte er nach seiner Freilassung. „Es geht darum, dass wir zusammenhalten und uns der Ungerechtigkeit, die hier geschieht, entgegenstellen.“ Menschen würden wie Tiere behandelt, so Huerta weiter. „Das ist Unrecht. Und wir alle müssen auf der Seite der Gerechtigkeit stehen.“
Starke und richtige Worte, die jedoch wenig daran ändern, dass Trumps Plan aufzugehen scheint. Die Zahl derer, die versuchen, von Mexiko aus illegal ins Land zu gelangen, ist drastisch gesunken – von zuletzt 200.000 auf nur noch 12.000 im Monat. Eine Mehrheit der US-Bevölkerung unterstützt Trumps Politik, obwohl die konkreten Maßnahmen, etwa die Abschiebung von Menschen, die arbeiten oder die bereits als Kinder ins Land gekommen sind, von einer noch größeren Mehrheit abgelehnt werden. Das klingt schizophren, ist jedoch nichts anders als das Ergebnis erfolgreicher Propaganda.