Psychiatriegeschichte: Zersplitterte Seelen

In „Hidden Valley Road“ erzählt der amerikanische Autor Robert Kolker die wahre Geschichte der Familie Galvin, von deren zwölf Kindern im Laufe ihres Lebens sechs an Schizophrenie erkrankt sind. Zugleich gelingt ihm auch eine Bestandsaufnahme der psychiatrischen Forschung im zwanzigsten Jahrhundert.

Als Margaret, genannt Mimi, ihren zukünftigen Mann Don trifft, sind die beiden beinahe noch Kinder, 13 und 14 Jahre alt. Don ist der erste Junge, der sie um ein Date bittet. Margaret, das Mädchen aus reichem Haus, geboren in Texas und aufgewachsen in New York, träumt von der Oper und dem Ballett. Ihr gefällt die Ernsthaftigkeit und der Ehrgeiz des gut aussehenden Mannes, der aus einfachen Verhältnissen stammt, und einen Nachmittag bei den Dodgers einem Abend in der Met vorzieht. Don geht zu den Marines, dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Kurz bevor er 1944 eingezogen wird, heiratet das Paar. Am 21. Juli 1945 kommt Don junior zur Welt, während sein Vater im Pazifik vor Okinawa stationiert ist. Auf diesen ersten Sohn werden in den nächsten zwanzig Jahren noch elf weitere Kinder folgen, neun Jungen und zwei Mädchen.

Don ist viel unterwegs, die Familie muss ständig umziehen. Als Mimi erkennt, dass sich ihre Hoffnung auf ein glamouröses Leben in gehobener Gesellschaft nicht erfüllen wird, beschließt sie, stattdessen als Mutter zu brillieren. Es ist sie, nicht Don, die für die nötige Disziplin sorgt, während ihr Mann den Pater familias gibt. „Sie wollte, dass alle perfekt waren“, erinnert sich ein Freund der Familie.

Bis hierhin klingt die Geschichte der Galvins ein wenig wie ein Bruce-Springsteen-Song. Doch 1965 zeigen sich bei Don junior, dem ältesten Sohn, erste Anzeichen einer psychischen Störung. Er beginnt sich in religiöse Wahnvorstellungen hineinzusteigern, irrt in ein rotbraunes Laken gehüllt, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, durch die Nachbarschaft und glaubt in seiner kleinen Schwester Mary die Inkarnation der Jungfrau Maria zu erkennen. Mimi versucht noch eine Weile, die Illusion der harmonischen Großfamilie aufrechtzuerhalten, doch nach und nach gerät ihre geordnete Welt ins Wanken. In den nachfolgenden Jahren werden sechs Söhne an Schizophrenie erkranken. Bei manchen entwickelt sich die Krankheit schleichend, bei anderen bricht sie schlagartig aus. Und das zu einer Zeit, als Schizophrenie der Medizin noch Rätsel aufgab, mit Medikamenten und Elektroschock-Therapie experimentiert wurde, und man die Schuld wahlweise bei einer zu dominanten Mutter oder in den Genen suchte.

Das Buch ist nicht nur akribisch recherchiert, sondern auch literarisch anspruchsvoll.

In seinem Buch „Hidden Valley Road“ rekonstruiert der amerikanische Publizist Robert Kolker minutiös das Schicksal der Familie. Hinter der Fassade des Hauses in besagter Hidden Valley Road verbirgt sich so viel Leid, dass es eigentlich für mehrere Leben reichen würde. Brian, der am Anfang einer vielversprechenden Musikerkarriere steht, bringt 1973 im Wahn seine Freundin um und danach sich selbst. Die Schwestern Mary und Margaret flüchten immer öfter aus dem Elternhaus und finden Unterschlupf bei ihrem Bruder Jim, der mittlerweile Ehemann und Vater ist. Er nutzt die Situation aus, um die Mädchen sexuell zu missbrauchen. Erst Jahre später werden sich beide einander anvertrauen und feststellen, dass sie das gleiche Martyrium durchlitten haben.

Es sind die beiden Schwestern, die Robert Kolker ansprechen und ihn bitten, aus ihrer Familiengeschichte ein Buch zu machen. Diesem schwierigen Stoff gerecht zu werden, ist eine besondere Herausforderung. Kolker meistert sie auf beeindruckende Weise. Er begibt sich nie in die Position des Voyeurs, sondern ist stattdessen ein einfühlsamer Beobachter, der genau das richtige Gleichgewicht findet zwischen Anteilnahme und Analyse. Das Buch ist für ihn ein Mittel, um zu verstehen, was solche dramatischen Erlebnisse mit den einzelnen Akteur*innen machen. Dabei lässt er auch Widersprüche zu, ohne zu werten, wirft Fragen auf, ohne Antworten aufzudrängen, besonders bei der Charakterisierung der Mutter, die zweifellos die zentrale Figur des Buches ist. „Hidden Valley Road“ ist zwar ein „page turner“, den man nur schwer zur Seite legen kann, aber dennoch verlangt die Lektüre volle Konzentration.

Parallel zur Geschichte der Galvins zeichnet Kolker auch die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung im Bereich der Schizophrenie nach, vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Für diese Forschung waren die Galvins ein Glücksfall, da sich durch die Häufung der Fälle in einer einzigen Familie die einmalige Möglichkeit bot, die Rolle von Genetik und Vererbung zu studieren. Diese Teile des Buches lesen sich wie ein wissenschaftlicher Krimi: Kolker beschreibt die scheinbar endlos langen Prozesse, die zu minimalen Fortschritten führen, er beleuchtet auch die Rolle der Pharmaindustrie, an deren finanziellen Interessen manche vielversprechenden Therapieansätze scheitern. Jim und Joe Galvin sterben mit Mitte Fünfzig, ihre Körper geschwächt durch die schweren Medikamente, die ihnen erlauben, ihre Krankheit in Schach zu halten.

Kolker gelingt das Kunststück, greifbar zu machen, was eigentlich unvorstellbar scheint, und dies ohne die Menschen, über die er schreibt, bloßzustellen. Das Buch ist nicht nur akribisch recherchiert, sondern auch literarisch anspruchsvoll. Die Seiten, auf denen er beschreibt, wie Mimi und Don gemeinsam ihrem Hobby, der Falkenzüchterei frönen, lesen sich wie ein Roman. Es sind nicht die Abgründe, die Kolker am treffendsten beschreibt, sondern die Momente der Normalität.

Robert Kolker: Hidden Valley Road – 
Im Kopf einer amerikanischen Familie. Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind. btb Verlag, 512 Seiten.

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