Suizid ist bei jungen Menschen weltweit seit Jahrzehnten eine der häufigsten Todesursachen und auch ältere Personen sind überproportional häufig betroffen. Warum es wichtig ist, mit einem gefährlichen Tabu zu brechen.

Wie geht es dir wirklich? Viele Menschen scheuen sich, das Thema Suizid offen anzusprechen (Foto: Mitch/Unsplash)
Sie haben ihren Freund seit Wochen endlich dazu gebracht, sich zu einem gemeinsamen Abendessen zu treffen. Als er das Restaurant betritt, wirkt er müde und abgeschlagen. Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet er, dass er seine Arbeit verloren zu haben und daraufhin in ein richtiges Loch gefallen zu sein. Er wisse nicht mehr weiter. „Ich glaube, es bringt alles nichts mehr.“ Nur wenige trauen sich in diesen Situationen, direkt nachzufragen: „Denkst du darüber nach, dir etwas anzutun?“ Das muss sich ändern.
Suizidalität ist ein Oberbegriff, der das gesamte Spektrum an Gedanken und Verhaltensweisen beschreibt, die mit dem Wunsch danach verbunden sind, das eigene Leben zu beenden. Noch immer kursieren zu dem Thema viele Mythen. Darunter fällt der Irrglaube, man könne jemand erst auf den Gedanken bringen, sich selbst etwas anzutun, indem man offen danach fragt. Eine Fehlannahme, die im Ernstfall schwerwiegende Folgen haben kann. „Wenn man merkt, dass es jemandem schlecht geht, sollte man sich Zeit nehmen und nachfragen: ‚Du bist so still geworden, ist alles okay bei dir?‘“, sagt Aline Hartz, Direktorin des Kanner a Jugendtelefon (KJT), eine Beratungsstelle, an die sich Kinder und Jugendliche per Telefon, Mail und Chat wenden können.
Alarmierende Tendenzen
Psychische Probleme, Suizidgedanken, Selbstverletzung und Sucht haben von 2020 bis 2023 kontinuierlich zugenommen und führten die Themenliste des KJTs an. 2024 stand der Themenbereich „psychosoziale Gesundheit“, unter den die genannten Themen fallen, an zweiter Stelle der Liste, überholt nur vom Thema „Safer Internet“, der von BeeSecure abgedeckt wird, einer der Beratungsdienste des gemeinnützigen Vereins, der sich auf das Thema Onlinesicherheit spezialisiert hat. „Obwohl die Anrufe 2024 insgesamt abgenommen haben, bleibt psychische Gesundheit eines der wichtigsten Themen. Ein Trend, den wir sehen, ist, dass Zukunftsängste, Angst und Stress in der Schule stark zugenommen haben“, sagt Hartz.
Das Wohlbefinden in der Schule hat seit der COVID-19-Pandemie stark abgenommen, während der Stresspegel gestiegen ist. Einem Ende Januar erschienenen Bericht des Nationalen Observatoriums für Kindheit, Jugend und Schulqualität über das Wohlbefinden im schulischen Umfeld zufolge fühlte sich ein Drittel der befragten Schüler*innen der Sekundarschule nicht sehr oder überhaupt nicht glücklich. Elf Prozent gaben zum Zeitpunkt der Befragung an, innerhalb der letzten sechs Monate jeden Tag traurig gewesen zu sein. Eine*r von zehn Schüler*innen hat keine Freundschaften in der Schule. Anhaltende Traurigkeit, erhöhtes Stress- empfinden, soziale Isolation, all dies können Hinweise auf eine psychische Erkrankung sein, einer der größten Risikofaktoren für Suizidalität. Neun von zehn vollendeten Suiziden stehen in Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung, wobei Depressionen und Essstörungen die häufigsten Ursachen sind.
Dass psychosoziale Themen die Beratung von Kindern und Jugendlichen dominieren, ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung. „Wir haben einen Anstieg bei Suizidgedanken und suizidalem Verhalten beobachtet, während die Zahl der tatsächlichen Suizide nicht gestiegen ist“, sagt Dr. Carolina Catunda, Wissenschaftlerin am Centre for Childhood and Youth Research (CCY) der Universität Luxemburg. Das CCY ist unter anderem zuständig für den „HBSC-Report“ („Health Behaviour in School-aged Children“), der seit 2006 alle vier Jahre das Verhalten und die Gesundheit von Jugendlichen in Luxemburg im Alter von 11 bis 18 Jahren untersucht. „Das könnte bedeuten, dass das Stigma rund um psychische Gesundheit abnimmt und sich immer mehr junge Menschen trauen, über ihre Probleme zu sprechen. Gleichzeitig müssen wir untersuchen, ob und inwiefern bestehende Unterstützungsangebote ausreichen.“ Auch der aktuellste HBSC-Report aus 2022 zeigte alarmierende Tendenzen (woxx 1807, Psychische Gesundheit: Eine Frage des Alters?).
Die Unsichtbaren

(© Eric Ward/Unsplash)
Während junge Menschen oft im Fokus der Diskussion stehen, wird eine andere Gruppe häufig übersehen: ältere Menschen. Dabei sind diese überproportional häufig betroffen. „Die registrierten Suizide bei älteren Menschen übersteigen die der unter 25-Jährigen sogar um das Drei- bis Vierfache“, sagt Dr. Martine Hoffmann, Psychotherapeutin und Leiterin der Forschungsabteilung bei „GERO – Kompetenzzenter fir den Alter“. Dass Suizidalität eine Lebenswirklichkeit vieler älterer Menschen ist, findet indes im öffentlichen Bewusstsein kaum Beachtung.
Ein Mythos, der sich in Bezug auf diese Altersgruppe hartnäckig hält, ist laut Hoffmann der Glaube, dass das Suizidrisiko im Alter aufgrund schwerer Erkrankungen wie Krebs, Schlaganfällen oder Herzleiden in die Höhe schieße. Studien würden jedoch ein anderes Bild zeigen. Selbst bei Multimorbidität, also dem gleichzeitigen Vorliegen mehrerer chronischer Erkrankungen, die im hohen Lebensalter häufig vorkommen, wäre nicht allein die körperliche Belastung entscheidend. „Der zentrale Risikofaktor bleibt eine unbehandelte Depression“, so Hoffmann. Beiden Altersgruppen, sowohl den jüngeren als auch den älteren, hätten die Gemeinsamkeit, dass Suizide oft durch Äußerungen oder Verhaltensweisen vorab angedeutet, häufig jedoch nicht ernst genommen oder fehlgedeutet würden. „Bei älteren Menschen können dies Bemerkungen über den Wunsch nach einem Ende des Lebens oder über das Gefühl der Belastung sein, die oft als Ausdruck von Müdigkeit oder Altersbeschwerden missverstanden werden.“
Damit wird ein weiterer Mythos entlarvt. Viele glauben, Menschen, die es wirklich ernst damit meinten ihr Leben zu beenden, kündigten dies nicht vorher an, nach dem Motto: Hunde, die bellen beißen nicht. Ein Irrglaube, der weder auf Hunde noch auf Menschen mit suizidalen Absichten zutrifft. Das Gros der vollendeten Suizide wurde vorher angekündigt. Doch nicht alle Suizide – ob angekündigt oder nicht – können verhindert werden. Es ist wichtig, dies zu betonen, um Scham und Schuld, den Haupttreibern für gesellschaftliche Tabus, entgegenzuwirken. Allerdings sollte bei Ankündigen ein offenes Gesprächsangebot oder ein Verweis an Anlaufstellen erfolgen, die in solchen Fällen unterstützen können. Alle Beratungsangebote (siehe Kasten) stehen Betroffenen und Angehörigen gleichermaßen zur Verfügung.
Das Genderparadox
Das in der Suizidforschung sogenannte „Genderparadox“ zeigt sich in allen Altersgruppen bei Suizidalität: Frauen äußern zwei- bis viermal häufiger Suizidgedanken und unternehmen Suizidversuche, während Männer drei Mal so oft durch Suizid sterben wie Frauen. Das lässt sich mit verschiedenen Faktoren erklären. Einer der wichtigsten ist die Wahl der Methode, die bei Männern oft tödlicher ist als bei Frauen. Gesellschaftliche Geschlechterstereotypen spielen auch hier immer noch eine große Rolle, die dazu führen, dass Frauen in der Regel eher dazu bereit sind, sich Unterstützung zu suchen und über negative Gefühle zu sprechen, während viele Männer länger mit psychischen Problemen kämpfen, bevor sie Hilfe suchen.
Auch aktuelle Zahlen aus Luxemburg zeigen das Phänomen des Genderparadox. Auf Nachfrage der woxx bestätigt das Gesundheitsministerium zwischen 2020 und 2022 in der Altersgruppe von 15 bis 29 insgesamt 428 Suizidversuche, davon 259 von Frauen und 169 durch Männer. Der Unterschied in der Altersgruppe der 15 bis 19-Jährigen ist mit 54 zu 138 am größten. Die angenommene Dunkelziffer ist allerdings im Bereich Suizid und Suizidversuchen sehr hoch, die angegebe Statistik umfasst deshalb nur die Personen, die eindeutig einen Suizidversuch unternommen haben und deshalb in einer Klinik aufgenommen wurden. Auch weist das Ministerium darauf hin, dass die COVID-19-Pandemie wahrscheinlich einen Einfluss auf die Aufnahmen in die Notaufnahmen im Jahr 2020 gehabt habe, weshalb die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden sollten. Zudem wurden nicht-binäre oder intergeschlechtliche Identitäten in dieser Statistik überhaupt nicht erfasst. Dabei dachten Im Jahr 2023 laut einer Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte zwölf Prozent der LGBTIQA-Personen in Luxemburg über Suizid nach.
Ein weiteres Problem in Bezug auf Geschlechtlichkeit ist die Tatsache, dass geschlechterspezifische Medizin bei körperlichen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Öffentlichkeit vermehrt Aufmerksamkeit erfahren hat, bei psychischen Erkrankungen jedoch nicht. Wenige Menschen wissen zum Beispiel, dass Wut und Aggression bei Männern auch ein Symptom einer Depression sein können. Aufklärungsarbeit, die es noch zu leisten gibt, um das hartnäckige Tabu rund um psychische Erkrankungen weiter zu brechen.
Was bleibt zu tun?
„Es gibt bereits viele Unterstützungsangebote in Luxemburg. Dennoch zeigt der Anstieg psychischer Probleme, dass diese möglicherweise nicht ausreichen“, sagt Dr. Carolina Catunda vom CCY, als es um Verbesserungsmöglichkeiten auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene geht. „Die Frage, was junge Menschen darüber hinaus brauchen, um ihre Situation zu verbessern, sollte direkt an sie gerichtet werden.“
Aline Hartz vom KJT hat im Gespräch mit der woxx einige Wünsche der Jugendlichen bereits genannt. „Jedes Jahr können Jugendliche in der Chamber Gesetzesvorschläge einbringen und auch die Youth Adviser des Ombudsman haben gefordert, dass mentale Gesundheit in Schulen einen höheren Stellenwert bekommt – etwa durch Literatur im Deutschunterricht oder Hinweise zu Anlaufstellen“. Sie ergänzt: „Die Kinder, die sich an uns wenden, brauchen vor allem Unterstützung: ‚Du bist wichtig. Es muss nicht so bleiben, wie es ist.‘ Das ist etwas, das sie unbedingt hören sollten.“
Ein Bedürfnis, das keine Altersgrenze kennt. Denn Suizidgedanken und suizidales Handeln sind nicht vorrangig Ausdruck des Wunsches sein Leben zu beenden, sondern vor allem das Bedürfnis sein Leben „so wie es jetzt gerade ist“ zu verändern.
Warum es wichtig ist, wertneutral über Suizid zu sprechen
Sprache beeinflusst, wie wir über Themen denken. Begriffe wie Selbstmord oder „erfolgreicher“ Suizid tragen eine wertende Konnotation in sich und können das Stigma rund um psychische Krisen verstärken. Deswegen ist es wichtig, neutral über Suizid und Suizidalität zu sprechen, um Betroffenen möglichst offen zu begegnen.
Wenn Sie selbst von Suizidgedanken betroffen sind oder jemanden kennen, der Hilfe braucht:
Wenden Sie sich an eine Vertrauensperson oder professionelle Unterstützung. In Luxemburg bietet das Kanner-Jugendtelefon (KJT) unter der Nummer 116 111 kostenlose und anonyme Hilfe an. Weitere Hilfsangebote gibt es bei der SOS Détresse (Tel. 45 45 45) oder online unter www.prevention-suicide.lu
Prävention
Die Ligue Luxembourgeoise d’hygiène mentale bietet Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit (PSSM) an, die dabei helfen, psychische Krisen frühzeitig zu erkennen und Betroffene bestmöglich zu unterstützen. Neben den allgemeinen Kursen gib es auch zwei Erweiterungen, die auf die psychische Gesundheit bei jungen Menschen zugeschnitten sind. Bei PSSM Youth geht es darum, Erwachsene, insbesondere Lehrkräfte, darin zu schulen, Jugendlichen beizustehen, bei denen sich eine psychische Störung entwickelt oder verschlimmert, oder die sich in einer Krise befinden.
Die Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit Teen (PSSM Teen) vermitteln Jugendlichen, wie sie anderen Jugendlichen mit psychischen Belastungen Erste Hilfe leisten können, bis eine verantwortliche und vertrauenswürdige erwachsene Person die Unterstützung übernimmt. Mehr Informationen dazu unter: www.prevention-psy.lu/pssm/a-propos
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