Für sein neues Buch über die rechtsextreme Partei „Chega“ in Portugal hat der Investigativjournalist Miguel Carvalho fünf Jahre lang recherchiert und Hunderte Interviews mit Mitgliedern, Sympathisant*innen, aber auch Personen aus dem inneren Kreis um den Parteivorsitzenden und -gründer André Ventura geführt. Die „woxx“ sprach mit ihm über das Innenleben der Partei und die Gründe für ihren Erfolg.

„Man sollte die Führung und den politischen Apparat der Partei nicht mit deren Wähler*innenschaft verwechseln, die viel komplexer, widersprüchlicher und vielfältiger ist“: der Investigativjournalist Miguel Carvalho über die rechtsextreme portugiesische Partei Chega. (Foto: privat)
woxx: Was hat Sie während Ihrer Recherchen über die rechtsextreme Partei Chega am meisten überrascht?
Miguel Carvalho: Meine Ermittlungen habe ich nicht verdeckt geführt, dennoch konnte ich mir durch den Kontakt mit Anhänger*innen, Aktivist*innen und Führungskräften von Chega auch Zugang zu vielen unveröffentlichten Dokumenten verschaffen. Dabei hat mich vor allem überrascht, mit welchen kriminellen Praktiken der parteiinterne Machtkampf geführt wird. Beispielsweise ist es gängige Praxis, Konkurrent*innen mit der Veröffentlichung von heimlich und illegal gemachten Aufnahmen aus ihrem Privatleben zu diskreditieren. Der Parteivorsitzende André Ventura wird selbst verdächtigt, solche Praktiken anzuwenden.
Ist der Personenkult um den Parteivorsitzenden Ventura eine Stärke oder Schwäche von Chega?
Ventura hat die Partei nach seinen Interessen geformt, und Chega war schon immer ein Projekt zur Vergrößerung seiner persönlichen Macht. Wer sich ihm widersetzt, weil er eigene Gedanken oder andere Ambitionen hat, hat ausgedient. Die Marke Ventura zieht immer noch, kann aber auch zur großen Schwäche der Partei werden. Abgesehen von der 27-jährigen Abgeordneten Rita Matias, die die jungen Wähler*innen anspricht, gibt es bei Chega keine anderen prägenden Persönlichkeiten, weil Ventura dies nicht zugelassen hat.
Im September erwies sich Chega erstmals in einer landesweiten Umfrage mit 26,8 Prozent als beliebteste Partei. Bei den Kommunal- und Gemeindewahlen am 12. Oktober schnitt sie mit 11,9 Prozent der Stimmen im Landesdurchschnitt dann aber deutlich schlechter als erwartet ab. Haben sich hier die Nachteile der Ein-Mann-Show gezeigt?
Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2021 konnte die Partei deutlich zulegen, allerdings verlor sie im Vergleich zur Parlamentswahl im Mai fast 800.000 Stimmen, deutlich mehr als die Hälfte, obwohl die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen nur um gut zehn Prozent geringer war – ein Rückgang, den Ventura wenige Tage zuvor noch für unmöglich gehalten hatte. Die Ergebnisse zeigen, dass die Entscheidung, Abgeordnete als Spitzenkandidat*innen in Orten aufzustellen, zu denen sie keinerlei Verbindung haben, ein Desaster war – mit wenigen Ausnahmen. (Statt des ursprünglich ausgegebenen Ziels, nach den Wahlen 30 lokale Regierungen zu stellen, gewann Chega nur drei Bürgermeisterämter: in Albufeira, São Vicente und Entroncamento; Anm. d. Red.). Die Mehrheit der Wähler*innen Venturas mögen sein Geschrei und Gezeter im Fernsehen, trauen der Partei aber nicht zu, die täglichen Angelegenheiten des Landes zu regeln. Dass sich Chega nun wahlpolitisch und -taktisch aus dem Lokalen zurückzieht, wäre aber eine voreilige Annahme.
„Es gibt immer jemand, der Widerstand leistet und zu all dem, was den Aufstieg der Ultrarechten fördert, nein sagt.“
Die Partei ist auch ein Sammelbecken für die extreme Rechte Portugals.
Ja, aber dieses Spektrum macht nur einen marginalen Teil innerhalb der Partei aus. Für Neonazis und andere gewalttätige Rechtsextreme ist Chega das Beste, was sie finden können, um ihre migrationsfeindlichen, antiziganistischen, nationalistischen und identitären Positionen zu verteidigen. Chega vertritt diese Standpunkte auf eine sanftere und eher verschleiernde Weise. Aber die Extremist*innen fühlen sich dennoch vertreten. Ein Teil der alten Wirtschafts- und Finanzelite, die den Geist des 25. April 1974 (der „Nelkenrevolution“ gegen die Salazar-Diktatur; Anm. d. Red.) nie akzeptiert hat, ist ebenfalls bei Chega untergekommen. Und auch die akademisch und intellektuell geprägte extreme Rechte findet dort ihre politische Vertretung. Die Partei bezieht sich zudem positiv auf die Kolonialgeschichte Portugals und den Sebastianismus (ein messianischer Mythos um einen verborgenen König, der während der Salazar-Diktatur wieder auflebte; Anm. d. Red.) und bietet damit vielen nationalistischen Nostalgiker*innen ein emotionales und symbolisches Terrain.
Was unterscheidet Chega von anderen rechtsextremen Parteien in Europa und weltweit?
Chega ist in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme. Es gibt nationalistische, identitäre und messianische Elemente, aber keine gefestigte Ideologie. Ehemalige Führungskräfte berichten, Ventura lese nicht einmal die Wahlprogramme der Partei. Chega will einen ungebremsten Kapitalismus und der Reduzierung des Sozialstaats auf ein Minimum. Alles orientiert sich am Gutdünken des Anführers. Der stellvertretende Vorsitzende, Gabriel Mithá Ribeiro, der dem Parteiprogramm Konsistenz zu verleihen versuchte, wurde kürzlich entlassen, weil er mir ein Interview für das Buch gegeben hatte.
Wie gut ist Chega international vernetzt?
Die mediale Präsenz von Chega verdankt sich zum Teil internationaler Unterstützung wie der Victor Orbáns, Santiago Abascal Condes von der spanischen Partei Vox oder der des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Die Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen dient aber auch dem Austausch von Erfahrungen. Wichtig ist hier zum Beispiel das Chega nahestehende „Instituto Carlos I da Áustria“ in Lissabon, das verschiedene Veranstaltungen, Debatten und Konferenzen organisiert und bei dem die Verbindungen zu ungarischen diplomatischen Kreisen und Bolsonaro-Netzwerken offensichtlich sind.
Glauben Sie, dass Ihr Buch Chega schaden kann?
Das Buch ist ein Erfolg. Dennoch mache ich mir keine Illusionen über die verändernde Kraft einer solchen Publikation in einem Land wie Portugal, wo insgesamt sehr wenig gelesen wird. Wenn es dazu beiträgt, Leser zu alarmieren und das Gewissen einiger Personen zu wecken, indem es sie zur staatsbürgerlichen Verteidigung unserer Freiheiten motiviert, die so schwer erkämpft wurden, bin ich zufrieden.
Was können die demokratisch gesinnten Menschen tun, um Chega zu bremsen?
Statt sich auf den politischen Kampf gegen Ventura zu konzentrieren, wäre es ratsam, die Ursachen des Phänomens zu bekämpfen. Dazu gehört, die Führung und den politischen Apparat der Partei nicht mit deren Wähler*innenschaft zu verwechseln, die viel komplexer, widersprüchlicher und vielfältiger ist. Man muss ihre Sehnsüchte, Frustrationen und Enttäuschungen verstehen. Das bedeutet auch, die schlimmsten Folgen einer kapitalistischen Regierungsführung für die Bevölkerung zu bekämpfen. Eine Regierung, die es versteht, das Ansehen des Staats bei den Bürger*innen wiederherzustellen und die marode öffentliche Daseinsfürsorge im gesamten Staatsgebiet wiederaufzubauen, wird sicherlich die Rekrutierung durch Chega erschweren.
In anderen Ländern wurden investigative Journalist*innen mit dem Tod bedroht, geschlagen, ins Exil gezwungen oder in endlose Gerichtsverfahren verwickelt. Was würde Sie erwarten, sollte Chega die Regierung übernehmen?
Ventura hat Journalist*innen allgemein als „Feinde des Volkes“ bezeichnet. Die Stimmung, die Medienvertre- ter*innen entgegenschlägt, wird immer aggressiver und die Gewalt ist in einigen Fällen nicht mehr nur symbolisch. In meinem Buch nenne ich mehrere Beispiele dafür. Ich befürchte, dass es unsere Arbeit noch viel mehr erschweren und beeinträchtigen würde, wenn eine Partei wie Chega an die Macht käme. Aber es gibt immer jemanden, der Widerstand leistet und zu all dem, was den Aufstieg der Ultrarechten fördert, nein sagt.

