Anwaltskosten, Streit ums Sorgerecht, Hausverkauf: Eine Scheidung kann schnell zum erbitterten Kleinkrieg eskalieren. Welche dauerhaften Konsequenzen das auf die Gesundheit junger Erwachsener hat, untersucht die Wissenschaftlerin Violetta Schaan.
woxx: Frau Schaan, Sie haben an vier Studien mitgewirkt, die sich mit den Langzeitkonsequenzen elterlicher Scheidung für die Gesundheit im jungen Erwachsenenalter auseinandersetzen. Im Dezember 2018 haben Sie die aktuellen Ergebnisse an der Universität Luxemburg vorgestellt. Was sind Aspekte, die so zuvor noch nicht untersucht wurden?
Violetta Schaan: Es gibt wenige Studien, die sich mit den Folgen der elterlichen Scheidung für die Gesundheit junger Erwachsener beschäftigen. Die meisten Studien konzentrieren sich auf Kinder. Scheidungen sind zwar kein neues Phänomen und doch gibt es noch nicht genügend Generationen junger Erwachsener aus Scheidungsverhältnissen, als dass sich ein entsprechendes Forschungsfeld hätte entwickeln können. So langsam wird das zum Problem für das Gesundheitssystem.
Nein, neu oder ungewöhnlich sind Scheidungen nicht. 2017 ließen sich laut Statec in Luxemburg immerhin 1.192 Ehepaare scheiden. Nur knapp 700 mehr wagten sich vor den Traualtar. Aber inwiefern belastet eine hohe Scheidungsrate das Gesundheitssystem?
Es fehlt an einem Angebot evaluierter Präventionsprogramme, die kindliche Traumata durch Scheidung, Stressmanagement, Gefühlsregulation – den Umgang mit Schuld, Wut, Verlust – oder Bindungsprobleme thematisieren. Allein in Deutschland werden derzeit dreißig bis vierzig Prozent aller Ehen geschieden. Letztes Jahr waren circa 123.000 Kinder betroffen. Durchschnittlich lassen sich Ehepaare nach fünfzehn Jahren scheiden. Die Kinder sind dann meist zwischen sieben und dreizehn Jahre alt.
Gibt es dafür nicht schon Familienberatungsstellen oder Kinderpsychologen und dergleichen?
Die Wartezeiten in psychotherapeutischen Einrichtungen sind oft zu lang. Noch dazu wird die Suche nach Beratung immer noch stigmatisiert, wohingegen Scheidung als normale Entwicklungsherausforderung angesehen wird, die Kinder größtenteils eigenständig bewältigen sollen.
„Es fehlt an einem Angebot evaluierter Präventionsprogramme, die kindliche Traumata durch Scheidung, Stressmanagement, Gefühlsregulation oder Bindungsprobleme thematisieren.“
Bis zu einem gewissen Grad sind die Kinder dazu sicherlich in der Lage – dennoch zeigen Ihre Studienergebnisse, dass die elterliche Scheidung einen bedeutenden Einfluss auf die Gesundheit junger Erwachsener hat.
Die Ausgangshypothese unserer ersten Studie war, dass Scheidungskinder auch im Erwachsenenalter mehr Angst vor Zurückweisung haben, weniger resilient, also psychisch weniger widerstandsfähig, sind und öfter unter kindlichen Traumata – zum Beispiel durch intrafamiliäre Konflikte und den Verlust einer Bezugsperson – leiden. Drei Faktoren, die einen Einfluss auf Angstzustände und Depressionen haben und tatsächlich bei vielen Scheidungskindern im jungen Erwachsenenalter auftreten.
Was bringt das mit sich?
In einer anderen Stichprobe stellten wir fest, dass junge Erwachsene geschiedener Eltern ein fast doppelt so hohes Risiko haben, psychische Störungen zu entwickeln, als diejenigen, deren Eltern kontinuierlich zusammenleben. Sie leiden zudem öfter unter chronischem Stress im Alltag.
Welchen Einfluss kann chronischer oder traumatischer Stress auf die Gesundheit haben?
Es besteht ein ständiger funktionaler Austausch zwischen Hirn und Körper. Man kann sich das so vorstellen, wie ein konstantes Telefonat (lacht). Bei Stress vermittelt das Hirn dem Körper die entsprechende Reaktion: schnellerer Herzschlag, erhöhter Blutdruck – der Körper tritt in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Bei akutem Stress verbessert sich die Wahrnehmung dieser physischen Prozesse. Aber: Traumatischer Stress kann diese Kommunikation dauerhaft beeinträchtigen und die Stressreaktion im Körper verändern. Starker Stress kann zu überwältigenden emotionalen und körperlichen Reaktionen führen, was es erschweren kann, bestimmte Signale zu verstehen oder Gefühle zuzulassen.
Das heißt, dass man irgendwann nicht mehr weiß, was man überhaupt fühlt?
Ja. Das Nicht-Wissen um die eigene Gefühlslage führt zwangsläufig zur Einschränkung im Umgang mit Gefühlen. Man kann nicht auf die Alarmsignale des Körpers reagieren, weil eben die Wahrnehmung und angemessene Interpretation dessen, was in einem vorgeht, fehlt. Wir konnten beobachten, dass junge Erwachsene, die in ihrer Kindheit traumatische Erlebnisse erlitten, körperliche Signale in Stresssituationen schlechter erkennen können.
Sie sprechen in Ihrer Studie von der Körperwahrnehmung. Ist das damit gemeint?
Unter Körperwahrnehmung verstehen wir die Fähigkeit, körperliche Signale wie beispielsweise den Herzschlag zu erkennen. Eine gute Körperwahrnehmung kann dabei helfen, auch Emotionen besser zu verstehen und zu regulieren. Die Bedeutung eines schnellen Herzschlages hängt von meiner Interpretation der Emotion ab: Ist das Angst? Ist das Freude? Gefühle, körperliche Signale und die Interpretation derselben können sich gegenseitig beeinflussen. Nun hat starker frühkindlicher Stress, beispielsweise ausgelöst durch eine elterliche Scheidung, Folgen für die spätere Stressverarbeitung – und das beeinträchtigt wiederum die Gesundheit.
Warum genau?
Extremer oder chronischer Stress kann unser Bewältigungssystem im Körper, wie bereits gesagt, bleibend verändern. Dieser Zustand kann unter anderem zu einer veränderten Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol führen sowie zu Bluthochdruck und Autoimmunerkrankungen. Die Dysregulation der körperlichen Bewältigungssysteme macht Menschen, die starken frühkindlichen oder chronischen Stress erlebt haben, krankheitsanfälliger. Hinzu kommen der psychische Stress und die emotionale Überforderung.
Das gilt aber nicht pauschal für alle Scheidungskinder.
Es gibt natürlich auch Familien, in denen eine Scheidung gut gelöst wird und Kinder dabei sogar das Gefühl entwickeln, Schwierigkeiten gut bewältigen zu können. Die Scheidung kann demnach auch positive Folgen auf die Kinder haben, wenn sie als Mittel zur Verbesserung und als Erleichterung gedeutet wird. Leider gelingt es den meisten Eltern in dieser Zeit nicht, die elterliche Fürsorge zu gewährleisten. Viele Eltern sind selbst mit der Situation überfordert und erkranken dadurch etwa an Depressionen.
Variieren die Folgen elterlicher Scheidung für die Gesundheit mit dem Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Scheidung?
Jüngere Kinder, vor dem sechsten Lebensjahr, verspüren eher Schuldgefühle für die Scheidung. Es ist deshalb die Aufgabe der Eltern bei Trennungsgedanken frühzeitig zu handeln, um „Kriegsspiele“ zu vermeiden. Das heißt aber nicht, dass es nach dem sechsten Lebensjahr einfacher wird. Während der Pubertät befinden sich Jugendliche ohnehin in einer instabilen Phase. Elterliche Konflikte zu Hause und eine Scheidung sind Zusatzbelastungen. Nach Abschluss der Pubertät entwickelt man andere Bewältigungsstrategien.
Wie könnte man den Problemen vorbeugen, die junge Erwachsene durch Scheidung mit sich herumtragen?
Es ist auf jeden Fall keine Lösung für streitende Eltern zusammenzubleiben. Vielmehr geht es darum, die Scheidung so zu gestalten, dass die Kinder die Unterstützung erhalten, die sie in dieser schwierigen Zeit so dringend benötigen. Man müsste globale Präventionsprogramme einleiten, in denen unter anderem Techniken zum Umgang mit Gefühlen erlernt werden sollten. Es wäre auch sinnvoll, in der Schule über Scheidung zu sprechen und Scheidungskinder zusammenzubringen, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen.