Spiel zu Migration(en): Karten auf den Tisch!

Wohin sind Luxemburger*innen überall ausgewandert, wer kam wann nach Luxemburg und seit wann gibt es Syrer*innen in unserer Region? Die Antworten darauf erlernt man anhand der Karten des Spiels „Migratiounsgeschichten“.

(Foto: Anne Schaaf)

Das Thema Migration bietet einen perfekten Nährboden für Desinformation, gefühlte Wahrheiten und unzutreffende Begrifflichkeiten, welche der tatsächlichen Situation nicht gerecht werden. Das einzige Kraut, das gegen ebendiese Problematik gewachsen ist, ist Wissen. Dieses hat das Nationalarchiv gemeinsam mit dem Centre de documentation sur les migrations humaines (CDMH) sowie dem Verein Alter & Ego zusammengetragen und daraus ein Kartenspiel entwickelt, dem weitaus mehr gelingt, als eine trockene Aneinanderreihung von Daten und Fakten.

Dem Fach Geschichte hängt nach wie vor ein etwas verstaubtes Image an und je nachdem welche Lehrkraft man erwischt, bekommt man den Eindruck, dass es hauptsächlich dazu dient, endlos viele Ereignisse genau datieren zu können – ohne auch nur für eine Sekunde einen Bezug zum jeweiligen Thema aufzubauen. Das Kontextualisieren und Erfassen der Komplexität historischer Gegebenheiten bleibt dabei auf der Strecke. Die entstandenen Wissenslücken spiegeln sich dann später wiederum in so manchen, von Hass durchdrungenen politischen Debatten, mit ihnen verbundener Geschichtsklitterungen und Fehlinformationen wider. Das Kartenspiel mit dem Titel „Migratiouns-
geschichten“ kann hier spielerisch Abhilfe schaffen.

Geschichtswissen statt Populismus

Zwar besteht die Aufgabe des Spiels in erster Linie darin, illustrierte Karten, auf denen eine historisch relevante Information steht, in eine chronologisch korrekte Reihenfolge zu bringen. Erst wenn alle Karten nebeneinanderliegen, werden sie umgedreht, um sich zu vergewissern, ob die Daten tatsächlich aufeinanderfolgen. Jedoch ist dieses Vorgehen kaum umsetzbar, ohne sich über den Inhalt in einem größeren Kontext zu unterhalten und Bezüge herzustellen. Durch die Konzeption des Spiels wird ein erweiterter Blick auf bestimmte Entwicklungen möglich und Zusammenhänge gewinnen an Sichtbarkeit.

Laut der luxemburgischen Historikerin Antoinette Reuter, welche erst die Themen, dann die dazugehörigen Archivdokumente auswählte und die Texte verfasste, besteht eines der Ziele dieses Spiels darin, „einen wertvollen Aha-Effekt“ zu generieren. Es geht also darum, einen Moment zu schaffen, in dem das Bewusstsein dafür entsteht, dass Migration weder ein ausschließlich rezentes, noch ein sich auf eine bestimmte Bevölkerung beschränkendes Phänomen ist. Der Name des Spiels ist im Plural formuliert, da sowohl die Migrationsgeschichte anderer Nationalitäten, als auch jene der Luxemburger*innen selbst beleuchtet wird. Demnach wird Luxemburg als Land nie isoliert betrachtet. Vielmehr zeigt das Kartenspiel auf, dass Luxemburg im Laufe der Geschichte längst nicht nur das Ziel von Migrationsbewegungen war, sondern auch der Ausgangspunkt sein konnte und zeitweilig sogar als Auslöser für die Flucht von Menschen galt.

Junge wie alte Luxemburger*innen können demzufolge wahrscheinlich mindestens so viel dazulernen, wie Menschen, die nicht hier geboren sind und etwas über die Geschichte des Landes, das sich in den vergangenen Jahrtausenden auf territorialer, (sozio-)politischer sowie religiöser Ebene verändert hat, erfahren wollen. Antoinette Reuter bedauert, dass ebendieser luxemburgische Fokus an den hiesigen Schulen nach wie vor fehlt. Nicht, wie sie betont, aus einem etwaigen überhöhten Gefühl gegenüber der eigenen Nation heraus, sondern weil Wissensvermittlung nun mal besser funktioniere, wenn man den jungen Menschen einen Anknüpfungspunkt biete, der ihnen vertraut sei. „Damit kann man sie ebenfalls ein Stück weit besser in die Verantwortung ziehen“, ergänzt die Historikerin, die von einer „nach wie vor anhaltenden Dringlichkeit“ spricht, wenn es um Sensibilisierung in Bezug auf das Thema Migration geht.

Frieden in Gallien, 
Krieg im Nahen Osten

Auf einer der Spielkarten steht: „Konflikter am Noen Osten an an Zentralasien. Dausenden Iraker, Syrer an Afghane siche Schutz an Europa.“ Aufgrund seiner anhaltenden Aktualität werden wohl viele den beschriebenen Fakt ohne Weiteres zeitlich einordnen können. Es kann jedoch sein, dass sie annehmen, dass beispielsweise Syrer*innen erst seit Kurzem den Weg nach Luxemburg beschreiten. Die benannte Karte ist indes die letzte von 37. Den Anfang macht eine Karte, auf der ebenfalls von Syrien die Rede ist. Hier wird darauf hingewiesen, dass Julius Caesar zwischen 58-50 vor Christus Gallien eroberte und die Region, in der sich das aktuelle Luxemburg befindet, zum Gebiet des Römischen Reiches wurde. Im Begleitheft zum Spiel kann nachgelesen werden, dass sich unterschiedliche Bevölkerungen innerhalb dieses großen Territoriums frei bewegen und Ideen und Waren austauschen konnten. Unter jenen Menschen, die den Weg hierhin fanden, werden auch Syrer*innen genannt.

Jene Originalquelle, welche dies belegt, ist ebenfalls im Heft abgebildet und kann auf Nachfrage hin auch im Archiv in Luxemburg-Stadt mit Schulklassen und Gruppen eingesehen werden. Laut Sanja Simic, der Verantwortlichen des „service pédagogique“ des Nationalarchivs, stellen derartige neue Erfahrungen mit historischen Fakten eine wichtige Grundlage in der Auseinandersetzung mit Geschichte dar. Gemeinsam mit Antoinette Reuter sowie Mylène Porta (Alter & Ego, zuständig für das pädagogische Konzept zum Kartenspiel), habe man sehr lange darüber diskutiert, wie man möglichst vielfältige Informationen unterbringen könnte, ohne diese verkürzt darzustellen, gleichzeitig aber auch die Spieler*innen nicht zu überfordern. Sie selbst bietet regelmäßig Workshops in Schulen an und organisiert Führungen im Nationalarchiv. Dabei machen junge Besucher*innen immer wieder große Augen, wenn sie sehen, welche Schätze sich dort befinden, und wenn sie dabei Fakten über Luxemburg erfahren, von denen sie zuvor noch nie gehört haben.

Spielen, lernen, diskutieren

Das Spiel verfolgt keine politische Agenda, sondern punktet mit sachlicher Wissensvermittlung, die in der Folge aber durchaus bei dem einen oder anderen zu einer neuen Positionierung bei bestimmten Themen führen kann. Eine der Vorgehensweisen des Spiels besteht darin, mit Klischees zu brechen. Dies gelingt beispielsweise mit jener Karte, welche die transatlantische Auswanderung ab 1860 behandelt und offenlegt, dass sich damals etliche Luxemburger*innen auf der Suche nach einem besseren Leben nach Amerika begaben. Wie geht so eine Information mit einer häufig selbstgerechten Haltung gegenüber vorauseilend und pauschal als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichneten Migrant*innen konform? Gar nicht. Und das ist gut so.

„Migratiounsgeschichten“ beleuchtet auch unangenehme Punkte, die sich im Rahmen der luxemburgischen Geschichte auftaten. So wird zum Beispiel auf die Tatsache verwiesen, dass auch wenn Luxemburg selbst nicht kolonisierte, so doch Luxemburger*innen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in die Kolonien verschiedener europäischer Länder reisten, um dort zu arbeiten. Das Licht, das hier auf Luxemburg geworfen wird, ist aber weder einseitig, noch wertend. Den Spieler*innen wird lediglich ausreichend Material geboten, um sich selbstständig ein ausgewogenes und realistisches Bild von Luxemburg und seinem Wandel machen zu können.

Einer der großen Vorzüge, die dieses Spiel bietet, ist die Flexibilität bei der Umsetzung. Man kann es mit einer sehr großen Gruppe (bis zu 36 Teilnehmer*innen), mehreren kleinen oder ganz ohne Gruppen spielen. Außerdem besteht die Möglichkeit, spezifische Karten herauszupicken, um sich dann im Detail mit einer Zeitspanne und bestimmten Phänomenen zu befassen. Gleiches gilt für die Diskussionsrunden im Anschluss an das Spiel. Je nach Alter (ab 12 Jahre) und Dynamik innerhalb der Gruppe können Punkte vergeben werden. Diese sind aber kein zwingender Bestandteil des Spiels.

Während man in der einen oder anderen ministeriellen Broschüre bis heute auf haarsträubende Illustrationen stößt, die Stereotypen eher verstärken, als dass mit ihnen gebrochen würde, wurde bei den Darstellungen auf den Spielkarten genauestens darauf geachtet, dass keine Anachronismen und Klischees (re)produziert werden. Als Basis für die ausführende Grafikfirma dienten Archivmaterialien, welche vor Beendigung des Projekts nochmals genau mit den Zeichnungen abgeglichen wurden.

Zudem beinhaltet das Begleitheft neben den detailreichen Informationen zu den jeweiligen Karten auch noch Ausführungen zur pädagogischen Umsetzung sowie den Verweis, dass man bei Alter & Ego, also einem Verein, der auf interkulturelle und interpersonelle spielerische Wissensvermittlung spezialisiert ist, eine Fortbildung belegen kann, wenn man das Spiel als Sozialarbeiter*in oder Lehrkraft animieren möchte. Letztlich stellt „Migratiounsgeschichten“ eine sehr geeignete Grundlage dar, um das eigene Wissen zum Thema zu bereichern und um das nationale Identitätsbewusstsein auf eine lehrreiche Art zu hinterfragen.

Die erste Auflage von „Migratiounsgeschichten“ in französischer Sprache war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Mittlerweile ist sie jedoch wieder verfügbar. Das Kartenspiel existiert ebenfalls auf Luxemburgisch. Wer es privat oder im pädagogischen Kontext nutzen möchte, kann es über die Internetseite des Archivs für 5 Euro bestellen.

https://anlux.public.lu/de/actualites/2018/jeu-de-cartes-migrations.html

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