Über 400 Organisationen aus zwölf EU-Mitgliedstaaten fordern in einem offenen Brief eine radikale Reform der europäischen Agrarpolitik

Am 30. August treffen sich die europäischen Landwirtschaftsminister*innen in Koblenz, um über die Zukunft der EU-Agrarpolitik zu diskutieren. Ein offener Brief, den die woxx integral veröffentlicht, fordert sie zu radikalem Umdenken auf.

Am kommenden Sonntag lädt die deutsche Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) ihre europäischen Kolleg*innen nach Koblenz, um dort über die Zukunft der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und die Lehren aus der Covid-19-Pandemie zu diskutieren. Im Vorfeld hat ein Bündnis aus zwölf EU-Mitgliedstaaten einen offenen Brief an die deutsche Ratspräsidentschaft verfasst, in dem umfassende Reformen gefordert werden.

Insgesamt vertreten die Unterzeichner*innen über 400 zivilgesellschaftliche Organisationen. Aus Luxemburg hat „Meng Landwirtschaft“ den Brief unterschrieben. Dem Zusammenschluss gehören 22 NGOs aus den Bereichen Umweltschutz, Biolandwirtschaft, Kooperation sowie die katholische Kirche an.

Das Interesse an dem Treffen am Sonntag ist groß, auch die Vereinigung der europäischen Milchproduzent*innen, das European Milk Board, wird mit Aktionen auf ihre spezifischen Forderungen aufmerksam machen.

Der offene Brief an Klöckner fordert eine Reform der GAP, die mit dem Green Deal und dem Pariser Klimaabkommen kompatibel ist und ambitionierte Vorgaben für Tierwohl, Gesundheit, Wasser-, Klima und Umweltschutz festlegt/beinhaltet. Flächenprämien sollen nach Vorstellung der NGOs durch das Prinzip der Entlohnung von sozialen und ökologischen Dienstleistungen ersetzt werden und die Kriterien für die Vergabe der GAP-Gelder strenger gestaltet werden. Außerdem sollen die Prozesse, mit denen die nationalen GAP-Strategiepläne erstellt werden, transparenter und partizipativer gestaltet werden.

Hier der integrale Wortlaut des offenen Briefes:

Sehr geehrte Frau Klöckner, sehr geehrte Vorsitzende der deutschen Ratspräsidentschaft im Rat für Landwirtschaft und Fischerei,

(Photo : CC0 Public Domain)

ab dem 30. August laden Sie die Landwirtschaftsminister*innen aus den EU-Mitgliedstaaten nach Koblenz ein, um über die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP), Lehren aus der Corona-Pandemie und Tierwohl-Initiativen zu diskutieren. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft haben Sie als Vorsitzende des Agrar-Rats die schwierige Aufgabe, eine Einigung bei der GAP-Reform im Rat zu erzielen. Ihre Verantwortung ist immens: Die GAP betrifft alle EU-Bürger*innen, macht sie doch mehr als 30 Prozent des nächsten EU-Haushalts aus. Zudem ist die GAP ein zentraler Schlüssel zur Bewältigung der sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Gesellschaft.

Die Corona-Pandemie macht uns bewusst, dass die Europäische Union die Ernährungssouveränität ganz oben auf die Agenda setzen muss. Dies erfordert eine Neuausrichtung der GAP und ein Überdenken der Handelsabkommen, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung die Ernährungssouveränität in Europa und weltweit bedrohen. Politik nach dem Credo „wachse oder weiche“ hat viele vor allem kleine Höfe zum Aufgeben gezwungen. Um im internationalen Wettbewerb zu bestehen, müssen die Betriebe sich immer weiter spezialisieren und ihre Produktivität auf Kosten von Menschen, Tieren und der Natur steigern. Billige, umweltschädliche Im- und Exporte aus und in den globalen Süden sind ebenso Ausdruck dieses fehlgeleiteten Systems. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Lebensmittelproduktion weiterhin unsere Böden und die Artenvielfalt zerstört, den Klimawandel anheizt und die Lebensgrundlage von Landwirt*innen und Menschen in ländlichen Regionen gefährdet. Kurzum: Die GAP und die EU-Handelspraktiken gefährden die nachhaltige Ernährung von uns Europäer*innen.

Foto: public domain/piqsels

Die Europäische Kommission hat die Richtung hin zu mehr nachhaltiger Entwicklung und Klimaneutralität bis 2050 mit dem Green Deal vorgegeben, zu dem auch die Farm-to-Fork-Strategie und die Biodiversitäts-Strategie gehören. Der Green Deal legt den Pfad fest, den die GAP nach 2020 beschreiten muss: eine grundlegende Wende in unserem Agrar- und Ernährungssektor und der gesamten Produktionskette. Ein „Weiter so“ oder eine Anpassung des aktuellen Systems ist keine Option. Die GAP muss grundlegend verändert werden, wenn wir sicherstellen wollen, dass weiterhin in Europa Lebensmittel hergestellt werden. Denn davon hängt die Ernährungssicherheit der jetzigen und der folgenden Generationen ab. Die richtigen Ansätze für eine zukunftsfähige GAP-Reform sind landläufig bekannt und zahlreiche Wissenschaftler*innen haben sich zu diesen bereits geäußert. Wir wissen also, warum sich die GAP ändern und wie das geschehen muss.

Wir, die Agrarwende-Bündnisse aus zwölf europäischen Mitgliedsstaaten sind direkt in die Erarbeitung der Nationalen Strategiepläne der GAP involviert. In enger Zusammenarbeit mit europäischen Dachverbänden fordern wir von Ihnen und Ihren Amtskolleg*innen im Namen von unzähligen europäischen Landwirt*innen, Konsument*innen, Schäfer*innen, Imker*innen, Bäcker*innen, Aktiven im Umwelt-, Tier- und Klimaschutz und vielen mehr Folgendes:

  •  Eine GAP-Reform, die mit dem Green Deal, der Farm-to-Fork-Strategie und der Biodiversitäts-Strategie kompatibel ist und dabei klare, verbindlichen Ziele und Maßnahmen auf EU-Ebene formuliert. Dies erfordert eine weitreichende Überarbeitung der aktuellen GAP-Vorschläge. Sie müssen darauf abzielen, Lebensmittelproduktion und -konsum nachhaltig umzubauen, Ökosysteme wiederherzustellen und die Klimaschutzverpflichtungen aus dem Pariser Abkommen einzuhalten.
  • Eine ambitioniertere Ausgestaltung der Konditionalität sowie der Vorgaben für Tierwohl, Gesundheit, nachhaltige Wassernutzung und Klima- und Umweltschutz. Gleichzeitig
    müssen die Wirtschaftlichkeit und Vielfalt der Höfe gestärkt werden, Jungbäuer*innen unterstützt und lebenswerte ländliche Räume erhalten werden.
  • Das System der pauschalen Flächenprämien muss durch das Prinzip „Öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen“ (inkl. den Sicherung von Arbeitsplätzen) ersetzt werden, d.h. die Leistungen müssen Bäuer*innen darin unterstützen in den agrar-ökologischen Umbau ihrer Höfe zu investieren. Begleitende marktbasierte Mechanismen müssen ein gutes Auskommen für Landwirt*innen ermöglichen.
  • Die Stärkung des New Delivery Models, um eine effiziente Verteilung der GAP-Gelder sicherzustellen. Dazu müssen die erfolgsorientierten Indikatoren verbessert, Leistungsprüfungen und Monitoring gestärkt und eine ehrgeizige und EU-weit verbindliche Zweckbindung der GAP-Mittel festgelegt werden.
  • Transparente und partizipative Prozesse auf Ebene der Mitgliedsstaaten zur Vorbereitung der Strategiepläne und die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Verhandlungen zu nationalen Positionen sowie zwischen den Mitgliedsstaaten und der Kommission.

Die GAP wird in den Augen der EU-Steuerzahler*innen jegliche Legitimität verlieren, wenn der Rat diese Forderungen ignoriert. Am 30. August werden Demonstrant*innen, stellvertretend für zigtausende europäische Bürger*innen, diese Forderungen in Koblenz auf die Straße tragen. Unsere Botschaft ist klar: Die GAP-Reform stellt eine einmalige Chance dar, unser Ernährungssystem nachhaltig umzugestalten. Gemeinsam fordern wir den deutschen Ratsvorsitz auf, die GAP-Reform mit den Klima- und Biodiversitätszielen in Einklang zu bringen und dem Höfesterben ein Ende zu setzen. Nutzen Sie die aktuellen Verhandlungen, um eine zukunftsfähige EU-Agrarpolitik zu gestalten. Setzen Sie unsere Zukunft nicht aufs Spiel, sondern handeln Sie jetzt!

Unterzeichner*innen:

  1. Agroecology in action (Belgium – Wallonia)
  2. AgroEko Forum (Slovakia)
  3. Aplinkosaugos koalicija (Lithuania)
  4. Cambiamo Agricoltura (Italy)
  5. Environmental Pillar (Ireland)
  6. Koalicja Żywa Ziemia (Poland)
  7. Meng Landwirtschaft (Luxemburg)
  8. Platform Aarde Boer Consument and Voedsel Anders the Netherlands (the Netherlands)
  9. Por otra PAC (Spain)
  10. Pour une autre PAC (France)
  11. Wir haben es satt!-Bündnis (Germany)
  12. Wir haben es satt!-Plattform (Austria)

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