Im April 2023 starb der 45-jährige Antifaschist Finbar Cafferkey bei der Verteidigung der ukrainischen Stadt Bachmut. Wie der schweigsame Mann aus der irischen Provinz in den Donbass kam.
Nach neun Monaten Regen strahlt die Sonne auf die Insel Achill im Nordwesten Irlands. Aus dem Garten von Celine Lavelle blickt man auf ein kleines Haff. Das dunkelblaue Wasser steht niedrig, es ist Ebbe. Karge Hügelketten erheben sich am Horizont, saftiges Gras und gelbe Ginsterbüsche leuchten um die Wette. Dazwischen, wie kleine weiße Farbtupfer, Schafe.
Ein knappes Dutzend Verwandte, Freunde und Weggefährten von Lavelles ältestem Sohn Finbar Cafferkey sind zusammengekommen, um in Achills steiniger Erde einen Erinnerungsgarten anzulegen. Es ist der 20. April 2024. 367 Tage zuvor kam Finbar als Mitglied einer antifaschistischen Freiwilligeneinheit nahe Bachmut unter russisches Artilleriefeuer. Von ihm und seinen Mitstreitern Dmitrij Petrow und Cooper Andrews fehlt bis heute jede Spur.
Wie alles anfing
Cafferkey wächst mit vier Geschwistern in einer gälischsprachigen Familie auf. Er denkt linksrepublikanisch und gleichwohl internationalistisch, liest viel, spricht wenig, hört zu. „Mit ihm gab es keinen Smalltalk“, erinnert sich Colm Cafferkey, Finbars jüngerer Bruder. „Man musste ein Thema finden, über das man reden konnte, sonst saß man nur schweigend da.“ Der Freund und politische Mitstreiter Anton erinnert sich an für ihn ungewohnte Momente des Beisammenseins. „Er war schon sehr speziell. Wir saßen zu zweit in der Küche, er las. Gelegentlich machte jemand von uns einen Witz, man lachte. Dann war wieder Ruhe.“
Im Jahr 2005 beginnt der Ölkonzern „Shell“ mit der Arbeit an einem Gaspipeline-Projekt in Cafferkeys Herkunftsprovinz Mayo. Finbar schließt sich dem Widerstand der Anwohner an, wohnt in einem Protestcamp und beteiligt sich an direkten Aktionen. Unter anderem stellt er sich mit einem Schlauchboot einem riesigen Bauschiff entgegen. „Er studierte eine Zeitlang Geologie“, erläutert Colm die Motivation des Bruders. „Er wusste, was Ölfirmen tun.“
Als sich unter anderem wegen der Terrorherrschaft des „Islamischen Staats“ (IS) Millionen Menschen auf die Flucht nach Europa begeben, macht sich Cafferkey 2015 auf zur griechischen Insel Kos. Er verteilt Essen und Kleidung, wohnt selbst in einem kleinen Zelt am Hafen. Zurück daheim, hält Finbar sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er renoviert Häuser und errichtet Zäune, die Schafe abhalten. „In dieser Zeit muss sein Entschluss gereift sein, mehr zu tun“, vermutet Colm Cafferkey.
In Syrien bei den YPG
Cousin Owen erinnert sich, wie ihn 2017 die Nachricht erreichte. „Ich war auf einem Festival, als ich eine Whatsapp-Nachricht erhielt. Eine Zeitung berichtete, dass ein Ire in Syrien für die kurdischen YPG kämpft. Der Typ auf dem Foto sah aus wie Finbar.“ Owen steckte das Handy weg. „Das war in dem Moment zu viel. Ich konnte mir das erst am nächsten Tag ansehen.“
Es ist Finbar Cafferkey. Der damals 39-jährige hat sich den kurdischen Milizen angeschlossen, trägt einen Turban, Militäruniform und einen markanten Schnauzbart, der eindeutig an den des PKK-Anführers Abdullah Öcalan erinnert. Militärische Erfahrung hat Cafferkey außer einem einwöchigen Training bei den Reservisten der irischen Armee zum damaligen Zeitpunkt nicht. Ein Fernsehteam dreht eine Reportage über den „internationalen“ Freiwilligen, der seiner Familie bislang nichts erzählt hat. „Sie hatten ihm wohl versprochen, es später auszustrahlen“, sagt Colm Cafferkey. „Bis dahin wollte er uns eigentlich eingeweiht haben. So erfuhren wir es aus den Medien. Wir waren schockiert.“
Zwar sorgt man sich in der Familie um den großen Schweiger, ist jedoch gleichzeitig stolz. „Es war Finbars Platz. Es ergab Sinn“, resümiert Colm. Die Kurden geben dem Mann, der nicht nur großgewachsen ist, sondern dessen Rücken auch eine beachtliche Breite erreicht, den Namen „Çiya“. Das bedeutet Berg. Auch wegen seiner ruhigen und stoischen Wesensart ein trefflicher Alias.
Cafferkey nimmt aktiv am Kampfgeschehen teil, angeblich als Scharfschütze. „Für Ausländer gibt es nur die Infanterie“, erzählt er in einem Gespräch im Frühjahr 2022. Dass er dabei Menschen getötet haben könnte, ist eine naheliegende Vermutung. Seinem Bruder Colm beteuert er jedoch, dass es dazu nicht gekommen sei.
Eine Rückenverletzung bremst Cafferkey eine Weile aus, er ist hinter der Front in der Logistik tätig. „Als ich ihn fragte, wie es zu der Verletzung kam, erzählte er mir, dass er einen verwundeten Kameraden geschultert und in Sicherheit gebracht habe“, sagt Bruder Colm. Auf die Frage, wie es dem anderen Soldaten gehe, habe er geantwortet: „He didn’t make it.“
Gewöhnungssache Krieg
Die YPG befreien Raqqa vom IS. Doch Gefahr besteht weiterhin. „Wenn man eine türkische Bayraktar-Drohne hört, bekommt man es mit der Angst zu tun“, sagt Finbar Cafferkey im April 2022. Schutz böten da lediglich die weitverzweigten kurdischen Tunnelsysteme, die er als „größtes Ingenieurs- projekt unserer Zeit“ betrachtet. Doch an die Geräusche und den Stress des Kriegs „gewöhnt man sich erstaunlich schnell“, meint der damals 44-Jährige und wirkt dabei selbst ein wenig überrascht. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits in der Ukraine. Auf seinem Handy hört er tagsüber das ukrainische Lied „Bayraktar“ in Dauerschleife. Das Drohnensystem, mit dem die YPG bekämpft werden, wird auch vom ukrainischen Militär zur Verteidigung gegen Russland eingesetzt.
Während eines Luftalarms sitzt er im als Schutzraum ausgewiesenen Barkeller einer Brauerei in Lwiw, wartet das Ende des Angriffs ab und erzählt: Er mag Bier. Mit dem Celtic-Glasgow-Fanclub seiner Heimatregion begab er sich in der Vergangenheit öfters auf trinkfreudige Busfahrten nach Schottland. Aber das ukrainische Craft-Bier fällt durch. Vielleicht deshalb, oder weil er für seine Verhältnisse genug geredet hat, drängt er zum Aufbruch. Auch wenn die Raketenwarnung noch nicht aufgehoben ist.
Der Weg nach Osten
Nach Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine zögerte Cafferkey nicht. Er reiste zunächst nach Warschau, dann mutmaßlich nach Kiew. Dort versuchte er, sich der Territorialverteidigung anzuschließen, in die sich bereits einige Antifaschisten integriert haben. Doch können zum damaligen Zeitpunkt nicht noch mehr Ausländer aufgenommen werden.
Anfang April 2022 trifft er in einer Kleinstadt nahe dem ostpolnischen Rzeszów ein. Er hilft der anarchistischen Politgruppe „ACK Galicja“, ihr eigens für die Ukraine-Hilfe eingerichtetes Warenlager zu ordnen und zu betreiben. „Die Ausrüstung kann an der Front den Unterschied machen“, sagt Cafferkey damals. Denn „gute Logistik ist das Rückgrat einer funktionierenden Truppe, sie kann Leben retten“.
Cafferkey bestückt Erste-Hilfe-Equipments und stattet auch die Wagen der Helfenden damit aus. Die Sicherheit seiner Leute liegt ihm am Herzen. Das täglich Brot der Hilfslieferungen sind jedoch weniger Helme und kugelsichere Westen als vielmehr Kubikmeter Windelpackungen und Kleiderspenden. Den ehemaligen YPG-Kämpfer mit seinen großen Händen beim Falten von Babykleidung zu beobachten, hat trotz aller Tragik des Moments auch eine gewisse Komik.
Der Mann, den auch in Polen alle nur als Çiya kennen, fühlt sich wohl in der Provinz. Wenn er nicht im Warenlager ist, liegt er auf seinem Bett und liest. Als jemand, der Erfahrung mit militanten Islamisten gesammelt hat, vertritt Cafferkey bei unvermeidlichen Palästina-Diskussionen eine differenzierte Betrachtungsweise und eine klare Abgrenzung zur Hamas.
Cafferkey fährt Hilfsgüter in die Ukraine und überstellt gespendete Autos an die antiautoritäre Organisation „Solidarity Collectives“. Bald zieht es ihn weiter in die ukrainische Hauptstadt Kiew, wo er sich länger aufhält, bis neue Autos aus Polen überführt werden müssen. Mit „Solidarity Collectives“ und der Organisation „Help War Victims“ begibt er sich in Gebiete nahe der Front und bringt Hilfslieferungen in entlegene Orte. Da nicht viele der Aktivisten einen Führerschein haben, ist seine Unterstützung willkommen. Cafferkeys Devise lautet: „Ich habe Zeit und kann hier nützlich sein.“ Seine eigenen Bedürfnisse stellt er dabei stets hinten an. „Er fühlte sich wohl mit den Hilfstransporten“, erinnert sich Colm Cafferkey an die gelegentlichen Nachrichten von seinem Bruder. „All well“, hieß es da meist kurz. „Mich beruhigte das.“
An die Waffen
Anfang April 2023 ist es vorbei mit der Ruhe. „Zehn Tage vor seinem Tod erhielt ich eine E-Mail, in der er mir mitteilte, er gehe wieder an die Front“, sagt Colm. Der russischstämmige Anarchist Dmitrij Petrow hat eine Möglichkeit aufgetan, eine neue antifaschistische Freiwilligeneinheit aufzubauen. Zusammen mit dem US-Amerikaner Cooper Andrews und der ukrainischen Ökoanarchistin Jenot geht es im März 2023 in ein Trainingscamp. Das pikante Detail: Wegen organisatorischer Schwierigkeiten müssen die Antifaschisten zusammen mit dem rechts-christlichen Bataillon „Bratstwo“ (Bruderschaft) in den Lehrgang.
Manche versuchen, Cafferkey und seine Genossen von ihrem Vorhaben abzubringen. Der polnische Anarchist Leon redet am Telefon erfolglos auf ihn ein. Anton von „Solidarity Collectives“ hingegen hält den Plan nach wie vor für „einen logischen Schritt“, der darauf beruht habe, selbst zu „kämpfen und eine antiautoritäre Einheit zu bilden“. Anton zufolge war sich die Gruppe der „Gefahr wohl bewusst“.
Sergej Mowtschan, der auch Mitglied von „Solidarity Collectives“ ist, sagte der Zeitung „Irish Times“, dass Cafferkey während des Trainings „ernsthaft darüber nachgedacht“ habe hinzuschmeißen. Jedoch motivierte ihn die Aussicht darauf, bald eine eigene Einheit „ohne religiösen Bullshit“ auf die Beine stellen zu können. Also machte er weiter.
Jenot beschreibt die Atmosphäre in dem Camp in einem Interview mit dem irischen Fernsehsender „TG4“ ebenfalls als „schwierig“. Doch trotz der „gegensätzlichen politischen Ansichten“, die sie und die Fundamentalchristen vertreten, habe die Gruppe nicht aufgegeben. Es habe sich um einen „notwendigen Kompromiss“ gehandelt, so Jenot.
Colm Cafferkey ist im Nachhinein „unklar, weshalb Finbar die zahlreichen Warnsignale missachtet hat“.
Kurz nach dem Ende der Ausbildung treffen die Freiwilligen zusammen mit der Bratstwo-Miliz an der Front bei Bachmut ein. Die Stadt im Donbass ist zu diesem Zeitpunkt noch teilweise unter ukrainischer Kontrolle. Die russischen Truppen versuchen, sie einzukesseln. Die sogenannte Straße des Lebens ist die letzte Nachschubader zwischen ukrainischen Positionen in Tschassiw Jar und den verbliebenen Einheiten im Westen der zerstörten Kleinstadt.
Ein Entlastungsangriff soll die russischen Truppen von der Straße zurückdrängen. Jenot bleibt wegen gesundheitlicher Probleme in der Behelfskaserne zurück, der Rest begibt sich auf die Mission, die ihre letzte sein wird. Der „Irish Times“ berichtet die Aktivistin später, dass „russische Mörsergranaten“ zunächst „links und rechts von ihren Kameraden eingeschlagen“ seien. Kurz darauf folgt ein direkter Treffer auf den eigenen Schützengraben.
Als Anton vom Tod seiner Freunde hört, „war das ein persönlicher Schock“. Dennoch habe er „das Bild eines lächelnden Finbar vor Augen“, wenn er an ihn denke. „Er tat das, wofür er hergekommen war: gegen eine imperiale und neofaschistische Macht zu kämpfen.“ Den Iren behält er „als eine Inspiration dafür in Erinnerung, wie man anhand eines internationalen Verständnisses von Machtdynamiken – und der Möglichkeiten, gegen sie vorzugehen – durchs Leben gehen kann“.
Stille und Erinnerung
Ein Jahr später. Als sich die Sonne über Achill langsam zu senken beginnt, steht eine Gruppe sonnenverbrannter Leute im neu angelegten Garten im Kreis. In den Stunden zuvor haben sie Steine für einen Weg gelegt, die Erde umgegraben, bepflanzt und bewässert, den Garten – der Schafe wegen – mit einem Zaun umfriedet und den Schmerz weggelacht. Nun, als ein Moment der Stille einkehrt, müssen die Gedanken ruhen. Mutter Celine und Bruder Eamon stimmen irische Gesänge an. Tränen fließen.
Danach begibt sich die Gruppe in die Kirche, in der traditionell der Verstorbenen an den Jahrestagen ihres Todes gedacht wird. „Finbar hätte es sicher gehasst, Teil einer Kirchenandacht zu sein“, scherzt Colm Cafferkey.
Am Tag darauf blickt Celine Lavelle von ihrer Wohnküche aus auf den kleinen Garten, die Lagune, die Berge und in den Himmel. „Ich denke in letzter Zeit oft an ihn, wenn ich in die Wolken schaue“, sagt sie und ergänzt: „Heute Morgen hat sich ein Vogel auf den neuen Gartenzaun gesetzt und so gezwitschert, als riefe er ‚see-ya‘.“ Das könne ein Zeichen ihres „Çiya“ sein, meint die 72-Jährige, und denkt dabei auch an die Aussicht auf ein Wiedersehen.
Moritz Groß arbeitet als freier Journalist und lebt in Wien.