Willis Tipps: Dezember 2022

Anatolische Psychedelic-Queen

Auf ihrem dritten internationalen Album Anadolu Ejderi zieht Gaye Su Akyol alle Register. Sie hat diesmal auch Elemente aus Punk, Hip-Hop und Industrial Rock in ihre neuen Kompositionen mit einfließen lassen. Im Zentrum steht aber wie bisher ihre Mischung aus türkischem Pop und Rock mit einer deutlichen Verortung in anatolischen psychedelischen Klängen. Die übliche Rockbesetzung ihrer Band wird angereichert mit Oud, elektrisch verstärkter Baglama und der dem Banjo ähnlichen Sazbüş. Die Musik ist, wie bei ihr üblich, straff auf den Punkt gebracht und Akyols unverwechselbar prickelnde Stimme klingt über weite Strecken wie direkt ins Ohr der Hörer*innen geraunt. Anadolu Ejderi ist der anatolische Drache, der aus tiefem Schlaf erwacht. Das ist durchaus als politisches Statement mit Hoffnungscharakter zu verstehen, denn Akyol sieht die Türkei politisch, kulturell und ökonomisch auf dem Weg in den Ruin. Was die Istanbulerin präsentiert, ist in allen Belangen der demokratische Gegenentwurf zur Erdogan-Türkei. Wieder eine erstaunliche Platte: erotisch und politisch und zudem psychedelisch anatolisch. In jeder Beziehung überzeugend!

Gaye Su Akyol – Anadolu Ejderi – Glitterbeat


Die wilde Form des Joik

Bei den Sámi in Nordeuropa hat sich die Fähigkeit erhalten, Klänge und atmosphärische Eindrücke aus Natur und Umwelt in der Musik zu verarbeiten. Torgeir Vassvik ist ein Sámi aus Norwegen, der die raue und ursprüngliche Variante des Sámi-Joik in seiner ganz eigenen, auch von der Außenwelt inspirierten Form praktiziert. Auf seinem vierten Album verzichtet er auf andere Musiker*innen und begleitet seinen Gesang ganz allein mit einer Vielzahl von Klangerzeugern. Weiß man nichts über den Hintergrund, erscheint die Platte wie eine abstrakte Klangreise. Ihre tieferen Schichten erschließen sich, wenn man sich den Musiker in der einsamen Weite Nordnorwegens vorstellt und das Booklet zu Hilfe nimmt. Dann entdeckt man zum Beispiel den Klang des Windes, das Rauschen und Tosen des Wassers in Fluss und Meer. Die Stücke sind unberührt von eingängigen Liedstrukturen oder sogar Pop-Elementen, an die wir gewöhnt sind. Es ist vielmehr eine ganz freie, passend begleitete Form des mündlichen Ausdrucks, die am ehesten mit den instrumentalen Expressionen von Free-Jazzern zu vergleichen ist. Dazwischen hört man Intermezzi mit Gitarre und Dobro. Das ist nichts zum Mitsingen und Mitklatschen, sondern um die Augen zu schließen und gebannt zu lauschen. Vorzüglich!

Vassvik Solo – A Place behind the Gardens of the Houses. Báiki – OK World


High-Life Jazz aus Ghana

Schon in den 1920er-Jahren vermischten Musiker in Ghana dortige traditionelle Musik mit karibischem Calypso und Jazz-Elementen. Das sind die Wurzeln des High-Life, der auch im nahegelegenen Nigeria Fuß fasste und später zum Afrobeat weiterentwickelt wurde. Zu den Großen des High-Life der 1970er-Jahre in Ghana zählte Gyedu-Blay Ambolley, der als Sänger und Saxofonist glänzte. In Europa wurde sein Name erst bekannt, als 2002 eine Kompilation mit klassischen ghanaischen Aufnahmen erschien. Heute etwa 75 Jahre alt, kann er es immer noch nicht lassen und hat nach seinem erfolgreichen Album von 2019 ein weiteres auf den Markt gebracht. Der Titel ist Programm Gyedu-Blay Ambolley & Hi-Life Jazz. Er rückt die Jazz-Elemente, die schon bei der Entstehung des High-Life bedeutsam waren, noch mehr in den Vordergrund. So finden sich dort neben Eigenkompositionen seine High-Life-Versionen von Klassikern des Jazz, wie unter anderem John Coltranes „Love Supreme“, Thelonious Monks „Round Midnight“ und Miles Davis‘ „All Blues“. Von vorne bis hinten sehr ghanaisch, jazzy, zutiefst groovy und unwiderstehlich!

Gyedu-Blay Ambolley – Gyedu-Blay Ambolley & Hi-Life Jazz – Agogo Records


Transglobal World Music Chart Dezember – Top 20

1. Souad Massi · Sequana · Backingtrack Production
2. Gaye Su Akyol · Anadolu Ejderi · Glitterbeat
3. Antonis Antoniou · Throisma · Ajabu!
4. Liraz · Roya · Glitterbeat
5. Constantinople, Kiya Tabassian & Ghalia Benali · In the Footsteps of Rumi · Glossa
6. Al-Qasar · Who Are We · Glitterbeat
7. Eliades Ochoa · Vamos a Bailar un Son (Special Edition) · World Circuit / BMG
8. Angélique Kidjo & Ibrahim Maalouf · Queen of Sheba · Mister Ibé
9. Wesli · Tradisyon · Cumbancha
10. Baul Meets Saz · Banjara · Uren Production
11. Eneida Marta · Family · Azziz Music
12. Majid Bekkas · Joudour · Igloo
13. Purbayan Chatterjee & Rakesh Chaurasia · Saath saath · Purbayan Chatterjee / Believe
14. Okra Playground · Itku · Nordic Notes
15. VRï · Islais a Genir · Bendigedig
16. Montparnasse Musique · Archeology · Real World
17. Vieux Farka Touré et Khruangbin · Ali · Dead Oceans
18. Batida · Neon Colonialismo · Crammed Discs
19. Lorraine Klaasen & Mongezi Ntaka · Ukubonga / Gratitude · Justin Time
20. Solju · Uvjamuohta / Powder Snow · Bafe’s Factory

Die TWMC TOP 20/40 bei: http://www.transglobalwmc.com/ und bei Facebook „Mondophon auf Radio ARA“ und www.woxx.lu/author/Klopottek.


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