Land, Brout, Fridden: „Der Himmel hing voller Geigen“

Im Rahmen des Medienprojektes „1917“ von Radio 100,7 und woxx diskutierten ExpertInnen am Montag im „Centre Neimënster“ über die Bedeutung der Russischen Revolution für Luxemburg. Wir fassen die wichtigsten Momente der Debatte zusammen.

Frauenwahlrecht, Arbeiterräte, Betriebsbesetzung – die Parallelen der Russischen Revolution und der sozialen Krise in Luxemburg nach 1917 waren Thema einer angeregten Debatte mit Geschichtsfachleuten. (Fotos: Paul Klensch)

100,7/woxx: Wie stellt sich die soziale und politische Lage in Luxemburg zu Beginn des Ersten Weltkriegs dar?


Tun Jost: Die Stahlindustrie war in der Zeit vor dem Krieg sehr stark gewachsen. Als der Krieg ausbrach, kehrte der Großteil der Italiener, die ganze Kontingente der Minenarbeiter gestellt hatten, nach Italien zurück, und die sehr zahlreichen deutschen Arbeiter mussten „zu den Waffen eilen“. Die Betriebe funktionierten nicht mehr und mussten die Produktion einstellen. Die soziale Katastrophe erfolgte jedoch danach. Die Arbeiterschaft im Süden war zwar nicht besonders gut gestellt, aber sie bekam auch keine Hungerlöhne. Doch weil man für seinen Lohn keine Waren mehr kaufen konnte, waren es faktisch doch Hungerlöhne.

Denis Scuto: In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erlebte Luxemburg seine industrielle Revolution. Die ersten Sozialgesetze wurden unter Paul Eyschen zur Jahrhundertwende eingeführt: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Pensionsversicherung. Der Krieg beendete die positive Wirtschaftslage. Es traten sofort Versorgungsengpässe ein, die noch durch Inflation und durch die Spekulationen der deutschen Armee verstärkt wurden. Dadurch verschlechterten sich die Lebensbedingungen aller Lohnabhängigen stark.

Ali Ruckert: „Die Luxemburger Sozialdemokratie wurde vielleicht stärker von der deutschen Revolution 1918 beeinflusst als von der russischen von 1917.“

Ali Ruckert: Meiner Meinung nach ging es den Arbeitern bereits vor dem Krieg schlecht. Die Invalidengesetzgebung zum Beispiel wurde in Luxemburg erst 1911 eingeführt, und eine Witwe erhielt damals als Rente 20 Prozent des Lohnes ihres Ehemanns, wenn er als Bergarbeiter oder Hüttenarbeiter gearbeitet hatte. Damit konnte man natürlich nicht leben. Die ohnehin für große Teile der Arbeiterklasse katastrophalen Lebensbedingungen verschlechterten sich während des Krieges radikal, weil es an allem fehlte, zum Beispiel an Kartoffeln. Das deutsche Militär kaufte heimlich alles auf und hortete es in Lagern. Die Lage spitzte sich dermaßen zu, dass die Luxemburger Regierung sogar nach Berlin schrieb, Deutschland müsse etwas unternehmen, weil man einen Aufstand befürchte.

Stéphanie Kovacs: Die Haltung des Stahlwerk-Managements war während des Krieges unterschiedlich: In Differdingen zum Beispiel hatte die deutsche Führung eine autoritäre Auffassung von den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiterschaft. Es kam deshalb nicht von ungefähr, dass Differdingen eines der neuralgischen Zentren des Streiks von 1921 war.

Ali Ruckert: Das deutsche Management mag hart gewesen sein, doch als es darauf ankam, entließ die Arbed genauso viele Arbeiter wie die Gesellschaft in Differdingen.

Gab es damals bereits eine revolutionäre Tendenz in Luxemburg?


Frédéric Krier: Für 1916/17 würde ich das noch nicht behaupten. Auch wenn es schon Vorläufer gab, entstanden die Luxemburger Gewerkschaften doch so richtig erst während des Ersten Weltkriegs. Vor allem als Protestreaktion auf die Lebensmittellage bildeten sich 1916 die ersten großen Gewerkschaften in Stadt-Luxemburg und im Süden, die Meetings von bis zu 2000 Personen organisieren konnten. Der Streik von 1917 war zunächst kein politischer Streik, sondern ein klassischer Lohnstreik. Politisch wurde er erst durch die Repression der deutschen Besatzungsmacht und die Luxemburger Gesetzgebung, die die Einschränkung des Koalitionsrechts ermöglichte. Die Gewerkschaften erlebten aber beim Streik von Juni 1917 sofort ihren ersten Rückschlag, weil dieser an den deutschen Bajonetten scheiterte.

Ali Ruckert: Als 1914 der Krieg anfing, bekam die Luxemburger Sozialdemokratie auch mit, dass Karl Liebknecht im deutschen Reichstag als einziger Sozialdemokrat gegen die Kriegskredite gestimmt und dagegen protestiert hatte, dass Luxemburg und Belgien von Deutschland überfallen worden waren. In der Folge wurde die Luxemburger Sozialdemokratie vielleicht stärker von der deutschen Revolution 1918 beeinflusst als von der russischen. Das Politische kam erst zum Ausdruck, als der Krieg vorbei war und die deutschen Truppen sich zurückzogen. Es brach mit Verspätung, aber dann mit voller Wucht auf.

Tun Jost: „Schlimm war im Zweiten Weltkrieg die politische Repression, die Deportationen usw., aber der Alltag war im Ersten Weltkrieg weit ärger.“

Beschäftigte das Dilemma zwischen Reform und Revolution, das die russische Revolution sichtbar machte, die kleinen Leute in Luxemburg überhaupt?


Tun Jost: Angesprochen haben die Leute vor allem, wie in Russland, die Forderungen nach Frieden und nach Brot. Und auch das Konzept der Sowjets hatte eine gewisse Anziehungskraft. Die Sowjets waren keine Schöpfung der Revolutionäre, sie verbreiteten sich von selbst unter den Arbeitern, den Bauern, den Soldaten. Die Leute reagierten vor allem auf die Informationen über die Russische Revolution. Dabei ist es bemerkenswert, dass die deutschen Besatzer, die Repression und Zensur ausübten, auch Zeitungen zeitweise verboten, die Informationen über das Chaos in Russland durchgehen ließen, weil ihnen die in einem gewissen Sinn zuspielten. Auch im „Luxemburger Wort“ gab es Berichte darüber, wie die Sowjets funktionierten.

Eine der ersten Forderungen in der Russischen Revolution war das Frauenwahlrecht. An ihr lässt sich der Einfluss, den die Revolution auf die Verhältnisse in Luxemburg hatte, gut abschätzen. Spielte die Revolution hier die Rolle eines Katalysators? 


Ali Ruckert: Die Frauen spielten eine bedeutende Rolle in der revolutionären Bewegung. Die Frauenfrage wurde bereits Jahrzehnte zuvor von den marxistischen Klassikern und auch von August Bebel thematisiert. Es wurde sehr deutlich gesagt: Ohne Befreiung der Frau gibt es auch keine Befreiung des Arbeiters. Die Forderung nach dem Frauenwahlrecht wurde auch von der Arbeiterbewegung vertreten – trotz der Bedenken, die es auch gab. Denn besonders die sozialdemokratischen Parteien befürchteten, auch in Luxemburg, dass die Frauen das Wahlrecht nutzen würden, um die kirchennahen Politiker zu stärken.

Stéphanie Kovacs: Die russische Revolution hat sicher eine gewisse Dynamik in Hinsicht des Frauenwahlrechts in Luxemburg ausgelöst. Mit ihrem Einfluss kann man auch die Forderungen der revolutionären Bewegung von 1918/19 in Verbindung bringen, zum Beispiel die zur Abschaffung der Dynastie oder der Einführung des allgemeinen Wahlrechts.

Ali Ruckert: In der republikanischen Bewegung von 1918/19 gab es ebenfalls bereits Forderungen nach Nationalisierung der Eisenbahnen, der Eisenhütten und der Banken, und auch nach Mitbestimmung der Arbeiter in diesen Angelegenheiten.

Stéphanie Kovacs: 
Die Republik war 
nicht unbedingt die Priorität der Arbeiterschaft und der kleinen Leute. Ihr Leitmotiv war die Lebensmittelkrise.“

Tun Jost: Der Krieg selbst spielte die Rolle eines Katalysators, das wird vielleicht unterschätzt. Oft wird gesagt, es sei nicht so schlimm gewesen wie die Situation im Zweiten Weltkrieg. Das stimmt für die politische Repression, die Deportationen usw., aber der Alltag war im Ersten Weltkrieg weit schlimmer. Es gab im Süden des Landes Bombardierungen, es gab Verdunklung, es gab Tote. Ebenfalls spielte eine Rolle, dass die Arbeitersolidarität in allen Ländern mit dem Kriegsbeginn zusammenbrach; dieser Bruch führte zu 
einer großen Desorientierung. Erst mit der Entstehung der USPD in Deutschland und dann der Russischen Revolution kam es erneut zu einer Aufbauarbeit.

In der Zeitung „Die Schmiede“ wurde 1917 angekündigt, man werde die Revolution nach Kriegsende nachholen. War die Krise von 1918/19 die Stunde des Proletariats?


Tun Jost: Dass man den Zeitpunkt in Luxemburg verschieben wollte, war logisch, weil es dann mehr Freiheit geben würde. Jedoch kam die katastrophale Lage der Stahlindustrie am Ende des Krieges hinzu: Wegen Schwierigkeiten bei der Zulieferung, aber auch infolge der Aufkündigung des Zollvertrags mit Deutschland dauerte es stellenweise bis 1920, bevor die Hütten wieder aktiv waren. Neben der Sozialdemokratie gewann auch eine populistische Bewegung unter Peter Kappweiler an Einfluss, die in die Politik eintrat und ins Parlament gewählt wurde. Die drei Abgeordneten verhinderten durch ihre Enthaltung die Einführung der Republik.

Stéphanie Kovacs: Der Ausgang der republikanischen Bewegung zeigt für mich, dass dieser Punkt nicht unbedingt die Priorität der Arbeiterschaft und der kleinen Leute war. Ihr Leitmotiv war die Lebensmittelkrise, das Versorgungsproblem, das sie auch empfänglich für verschiedene Elemente der Russischen Revolution machte.

Denis Scuto: Bei der Revolution von 1918/19 gibt es zwei Momente. Zunächst die Phase ab dem 10. November 1918: Nach Kriegsende entstand ein Machtvakuum, weil die deutschen Truppen abgezogen, die alliierten Truppen aber noch nicht nachgerückt waren. Bei den „Arbeiter- und Bauernräten“, die nun sofort entstanden, war die Inspiration durch die Revolution eine direkte. In dieser ersten Phase wurde die Revolution sehr klar erkennbar zum Teil von der Arbeiterbewegung getragen. In Esch wurde die Republik tatsächlich ausgerufen, in der Stadt Luxemburg dagegen ließ sich die sozialistische Partei, die vor dem Krieg in der bürgerlichen Regierungskoalition des „Linksblocks“ eingebunden war, überzeugen, die Klärung eher auf parlamentarischem Wege herbeizuführen. Von diesem Moment an war die Revolution eigentlich gescheitert. Die Bewegung in Esch wurde schließlich durch das Versprechen der Regierung geschwächt, dass sie den Achtstundentag einführen werde. Die sozialen Forderungen, wie die nach dem Achtstundentag, waren zentral. Die Regierung war quasi gezwungen, sie gegen das Patronat durchzusetzen. Die zweite Phase der Revolution war dann tatsächlich parlamentarisch und liberal orientiert.

Wie reagierten andere Bevölkerungsgruppen oder andere Landesteile auf die Aktionen der Arbeiterbewegung?


Ali Ruckert: Beim Streik von 1917, der sehr brutal von den Schmelzherren abgewehrt wurde, gerieten die Arbeiter durch die Entlassungen oder Kündigungen der Betriebswohnungen in materielle Bedrängnis. Sie zogen daraufhin zum Hamstern ins Ösling, wo die Bauern teilweise solidarisch waren und die Arbeiter unterstützten – obwohl besonders die Großbauern bis zu diesem Zeitpunkt eher die Gewinner der Lebensmittelknappheit waren.

Tun Jost: Mit den sogenannten „Arbeiter- und Bauernräten“ hatten die Bauern überhaupt nichts zu tun, das entsprach keiner Realität. Die Sozialstruktur der Luxemburger Gesellschaft war nicht so, dass sich die Bauern mit den Arbeitern verbunden hätten. Man warf den Bauern – berechtigt oder nicht – vor, Lebensmittel zurückzuhalten, um Preissteigerungen zu erzielen. Noch bis in die 1970er-Jahre war in manchen Bemerkungen der Hüttenarbeiterschaft im Süden ein großer Hass auf die Bauern festzustellen.

Frédéric Krier: In der linken Wochenzeitung „Armer Teufel“, die als einzige auf der bolschewistischen Linie eines „Friedens um jeden Preis“ war, findet man tatsächlich zahlreiche Artikel, in denen die Öslinger Bauern angegriffen werden.

War die Hoffnung auf ein besseres Wirtschaftssystem in Luxemburg überhaupt eine realistische Option? Gab es nach 1919 noch Momente, wo dieses umfassender in Frage gestellt wurde?


Stéphanie Kovacs: Der Schlüsselmoment war der Streik von 1921, als die frisch gegründete kommunistische Partei versuchte, über den Weg der Hüttenbesetzung das System in Frage zu stellen. Das Scheitern des Streiks führte dazu, dass die Partei immer mehr in die Isolation geriet, sowohl auf politischem als auch auf sozialem Gebiet.

Frédéric Krier, Ali Ruckert…

Frédéric Krier: 
„Wenn beim Streik von 1921 die direkte Kontrolle der Arbeiter über die Produktion gefordert wurde, spielte weniger der Einfluss von Russland als der von Italien.“

Frédéric Krier: Wenn bei den Betriebsbesetzungen im Rahmen des Streiks revolutionäre Forderungen, wie die nach der direkten Kontrolle der Arbeiter über die Produktion, gestellt wurden, spielte Russland vielleicht weniger eine Rolle als Italien. Denn zu diesem Zeitpunkt arbeiteten bereits viele Italiener in den Hütten, und in Italien gab es zu dieser Zeit eine lang andauernde Welle von Betriebsbesetzungen.

Denis Scuto: Die Initiative zur Einführung der Betriebsräte ging zunächst von der Regierung aus. Die Gewerkschaften waren anfangs sehr skeptisch gegenüber diesen Betriebsräten, weil sie bereits bei der Arbed unter Mayrisch die Erfahrung gemacht hatten, dass in solchen Räten oft Strohmänner saßen. In einer zweiten Phase 1919/20 ist dann ein Einfluss der Russischen Revolution festzustellen, wobei der auch indirekt, via Frankreich, Deutschland und Italien, wirkte.

Eine sehr konkrete Konsequenz der Russischen Revolution war die Spaltung zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Bewegung. War von Beginn an klar, dass andere sozialistische Strömungen nur eine minoritäre Rolle zu spielen hatten?


Frédéric Krier: Das schälte sich allmählich heraus. Innerhalb der Gewerkschaftsbewegung gab es die populistische Linie Kappweilers, der sich selbst allerdings eher als liberal verstand. Wegen ihrer Positionen in der Frage der Dynastie wurde diese Strömung nach 1919 kaltgestellt. Als sich die sozialistische Bewegung 1921 spaltete, gab es innerhalb der Gewerkschaft eine doppelte Trennung. Erstens infolge der Kontroverse über die zu wählende Orientierung: ob nach Moskau oder aber nach Amsterdam, also zur freien Gewerkschaftsbewegung, die sich schließlich durchsetzte. Und zweitens, 1924, dem Jahr, in dem aus der Sozialistischen Partei die Arbeiterpartei wurde, die Trennung von Persönlichkeiten wie Aloyse Kayser, die sich eher bei den Radikal-Liberalen wiederfanden und dort den linken Flügel bildeten.

Tun Jost: Einzelne Leute hatten Sympathien für die trotzkistische Tendenz, so etwa der Kommunist Jean-Pierre Lippert oder der Escher Buchhändler Edouard Reiland, der deutlich für die Linksopposition in der Sowjetunion eintrat. Es gab jedoch keine Kontinuität zwischen diesen Leuten und der trotzkistischen Bewegung in den 1970er-Jahren, die unter dem Einfluss der Studentenbewegung in Frankreich und Belgien entstand und sich auf Trotzki berief.

Gab es von Seiten der Arbeiterbewegung überhaupt eine Vision für ein Luxemburg nach dem Krieg?


Denis Scuto: Eine solche Vision musste als Reaktion auf die Russische Revolution, vor allem aber auf die Gründung der 3. Internationale entwickelt werden. Jos Thorn ist in dieser Hinsicht interessant: Er setzte sich für eine klar positionierte sozialistische, klassenkämpferische Partei mit einer Basis in der Arbeiterklasse ein. Als Abgeordneter wollte er zwar in Richtung Kommunismus gehen, aber auf demokratischem Weg, über Reformen. Diese Auffassung wurde auch von der Mehrheit der Partei geteilt. Auch Marguerite Mongenast-Servais meinte, man müsse zuerst die Arbeitermassen erziehen. Die Vision war reformistisch, aber mit dem Endziel des Sozialismus. Es war eine Vision, die der Abgeordnete Aloyse Kayser später mit den Worten charakterisierte: „Damals hing der Himmel voller Geigen.“ Das Problem entstand dann mit den 23 Punkten, deren Annahme die 3. Internationale den sozialistischen Parteien als Bedingung für den Beitritt stellte. Stärker als die Forderung nach Ausschluss reformistischer Führer führte die Gewerkschaftsfrage dann zum endgültigen Bruch, weil sich die Funktionäre der neuen Gewerkschaft, wie Lily Becker oder Antoine Krier, gegen einen von Moskau aufgezwungenen Kurs wehrten.

Die Luxemburger KP kritisierte weder die ersten Säuberungswellen in der Sowjetunion unter Stalin noch den Hitler-Stalin-Pakt. Weshalb war die KPL so moskautreu? 


Ali Ruckert: Als die Spaltung vollzogen wurde, gab es viele, die an eine Wiedervereinigung glaubten. Doch besonders nach dem gescheiterten Streik von 1921 setzte sich der Reformismus durch. Dass es nicht zu einer Wiedervereinigung kam, hat jedoch nur wenig damit zu tun, dass die Sowjetunion unter Stalin von dem Weg abkam, den die Oktoberrevolution vorgegeben hatte, und dass auch sie Verbrechen zu verantworten hatte. Die großen wirtschaftlichen Erfolge, die die Sowjetunion in den 1930er-Jahren aufzeigen konnte, beeindruckten einen großen Teil der Arbeiterklasse, nicht nur in Luxemburg. Wenn es einen Prestige-Verlust der Sowjetunion gab, dann trat der erst später ein.

Tun Jost: Die Politik Stalins zwischen 1928 und 1932 war dramatisch für die Wirtschaft und die Bauern, doch gleichzeitig fuhr Stalin einen ultralinken Kurs gegenüber der europäischen Sozialdemokratie. Und die Katastrophe in Deutschland 1933 entstand dadurch, dass SPD und KPD, die eigentlich doch stark waren, Hitler nicht gemeinsam bekämpften. Anderenfalls wäre das Ganze vielleicht anders ausgegangen.

Denis Scuto: „Von heute 
aus gesehen fragt man sich, wie der Stalinismus akzeptiert werden konnte. Es gab schon in den 1930er-Jahren Hungers-
nöte aufgrund on Stalins Kollektivierungspolitk, es gab Millionen Tote, es gab Schauprozesse.“



… Denis Scuto, Tun Jost und Stéphanie Kovacs.

Denis Scuto: Von heute aus gesehen fragt man sich, wie es möglich war, dass der Stalinismus akzeptiert wurde und die Leute ihren Ideen treu blieben. Es gab schon in den 1930er-Jahren infolge von Stalins Kollektivisierungspolitk Hungersnöte mit Millionen Toten, es gab die Schauprozesse. Der Sozialismus war praktisch die erste postreligiöse Doktrin und verhieß zudem eine gerechte und quasi paradiesische Gesellschaft. Es ging nicht nur um den Glauben an eine Theorie, sondern auch um die Ausrichtung des Kommunismus auf ein Endziel. Was bis dahin passieren würde, schien unwesentlich, nach dem Motto: „On ne fait pas d’omelette sans casser des oeufs.“ Wenn von den Intellektuellen, die sich in den 1930er-Jahren vom Kommunismus abwandten, manche wieder zurückkehrten, so hatte das viel mit der Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und mit dem kommunistischen Widerstand zu tun. Den Schocks von Ungarn 1956 und Prag 1967 standen die neuen Revolutionen in China und in Lateinamerika entgegen, die dazu beitrugen, dass man wieder an die Revolution glauben konnte.

Kann man ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer, nach der Auflösung der Union der Sowjet-
republiken den Sowjet-Kommunismus als historische Episode klassifizieren? 


Stéphanie Kovacs: Der Reale Sozialismus, so wie er in der Sowjetunion und in den ehemaligen Ostblockstaaten praktiziert wurde, ist meines Erachtens definitiv vom Tisch. Natürlich ist es denkbar, dass verschiedene Werte der Russischen Revolution, wie die Solidarität zwischen Berufsgruppen, angesichts der zunehmenden Kritik an den wirtschaftlichen Zuständen neu interpretiert werden.

100 Jahre Russische Revolution – das war radio 100,7 und woxx ein Rundtischgespräch wert. Unter der Moderation von Claude Mangen (Radio 100,7) und Renée Wagener (woxx) diskutierten die folgenden Gäste: der linke Publizist Tun Jost, die Historikerin Stéphanie Kovacs, der Historiker Frédéric Krier, der Präsident der KPL und Parteihistoriker Ali Ruckert und der Historiker Denis Scuto.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des Rundtischgesprächs, das am Montag, dem 1. Mai auf radio 100,7 übertragen wird. Zum gesamten Programm des Medienprojekts „1917“, siehe auch 1917.woxx.lu.

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