Zwei gegensätzliche Petitionen zur Behandlung von LGBTIQA+-Themen an der Schule wurden vergangenen Dienstag direkt nacheinander in der Chamber diskutiert. Wenn Ignoranz auf Fakten trifft.

Setzen sich für eine fundierte Wissensvermittlung an der Schule ein: Petent Marc Gerges, Caroline Pull und Dr. Eric Schneider (v.l.n.r.). (Foto: Chambre des Députés)
Steve Schmitz klickt immer wieder auf den Knopf seines gelben Kugelschreibers. Dann wirft er ihn vor sich auf den Tisch, nimmt ihn wieder in die Hand und legt ihn erneut hin. Nervöse Gesten, die nicht zu seinen Worten und der Überzeugung in seiner Stimme passen. Ist ihm bewusst, dass er gerade abscheuliche und offensichtliche Lügen verbreitet? „Es hat kein Hetero sie je angegriffen. Noch nie und das hat es auch noch nie gegeben. Seit Jahrhunderten kann ich mich nicht erinnern, dass irgendwann, irgendwo, irgendwelche Leute so angegriffen worden wären, dass etwas Schlimmes passiert wäre“, sagt er vergangenen Dienstag während der öffentlichen Sitzung zu Petition 3198 in der Chambre des députés. Mit „sie“ meint er LGBTIQA+-Personen – 80 Jahre und ein Tag nach der Befreiung der Überlebenden des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Während der NS-Diktatur wurden 50.000 homosexuelle Männer inhaftiert, 15.000 von ihnen wurden in Konzentrationslager gebracht, viele sind dort getötet worden. Hinzu kommt eine unklare Anzahl nicht dokumentierter Opfer.
Steve Schmitz ist mit dem Petenten Helder Rui de Almeida Neves vor die Deputierten der Petitionskommission und der Kommissionen für Familie, Bildung und Diversität getreten, um die Petition 3198 zu verteidigen. Eine Petition, die eine Verbannung jeglicher LGBTIQA+-Themen aus der schulischen Bildung von Minderjährigen fordert. Während der Petent nach seinem Eingangsvortrag zum Thema schweigt, „beantwortet“ Steve Schmitz bereitwillig die Fragen der Deputierten mit Abschweifungen, dubiosen Beispiele und erfundenen Zahlen und Fakten.
Um zu belegen, dass weder er noch die Petition, die er verteidigt, homo- oder transfeindlich seien, erzählt er immer wieder von seinem trans Bruder. Allerdings benutzt er durchgängig falsche Pronomen und nennt ihn „seine Schwester“. Ob der Mann sich ein Outing vor der ganzen Nation gewünscht hat, ist unklar. Die Tatsache, dass er ihn kein einziges Mal „Bruder“ nennt, geschweige denn die richtigen Pronomen benutzt, spricht Bände und unterstreicht das Nicht-Wissen-Wollen, das für diese mühsame Debatte so typisch ist. Schmitz stellt wüste Behauptungen auf, dass Kindern im Alter von vier Jahren Masturbation beigebracht würde oder dass Vierjährige keinerlei kognitive Fähigkeiten besäßen. Erst ab der Pubertät könne überhaupt in Erwägung gezogen werden, über LGBTIQA+-Themen zu sprechen. Ein Blick auf seine Facebook-Seite verrät in Teilen die Quelle dieser Absurditäten.
Fehlinformationen und Unwissen
In einem Post in dem Schmitz die Petition 3198 bewirbt, teilt eine Bekannte in den Kommentaren ein Bild aus einem Rahmenkonzept „Standards für Sexualaufklärung in Europa“ des Regionalbüros der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Auf dem Bild gehighlightet ist ein Teil einer Tabelle, in der steht, dass bei 0- bis 4-Jährigen die frühkindliche Masturbation ein Thema ist. Beide können wohl nicht einordnen, dass diese ein normaler Teil des Entwicklungsprozesses von Kleinkindern ist und nichts mit der Sexualität oder mit Masturbation in und nach der Pubertät zu tun hat. Sie können oder wollen auch nicht verstehen, dass es sich bei der Tabelle der WHO nicht um einen Lehrplan handelt, sondern um Themen, auf die Pädagog*innen vorbereitet sein sollten. Sie sehen sich in ihrer Angst vor einer Pervertierung der „kindlichen Unschuld“ durch LGBTIQA+-freundliche Politik und die WHO bestätigt. „Elo hackt et awer do misst een eng Plainte beim Menschenrechtsgeriicht maan! Waat eng krank Welt“, schreibt Schmitz unter dem Post, in dem er ironischerweise auch den Screenshot eines Artikels geteilt hat, der den Unterschied zwischen Sexualität und Sexualisierung erklärt. Verstanden hat er wohl auch diesen nicht.
Steve Schmitz ist CFL-Mitarbeiter, ehemaliges ADR-Mitglied und Mitbegründer (und heutiger Präsident) der „Biergerpartei Lëtzebuerg“. Qualifikationen, die ihn dazu befähigten zu dem Thema LGBTIQA+ in der schulischen Bildung Fragen zu beantworten, hat er nicht.
Es gibt eine Reihe von psychologischen Phänomenen, die einem bei Schmitz’ Aussagen in den Sinn kommen. Dazu gehören: Kognitive Immunisierung – eine Art „mentaler Abwehrmechanismus“, der verhindert, dass widersprüchliche Informationen ins eigene Weltbild eindringen; statt seine Meinung zu ändern, rationalisiert man gegensätzliche Fakten so, dass sie keine Gefahr für die eigene Überzeugung darstellen. Auch „Confirmation Bias“ sei genannt – die Neigung, nur Informationen zu suchen oder zu akzeptieren, die die eigenen Überzeugungen stützen, während gegensätzliche Fakten ignoriert oder abgelehnt werden.
Angesichts der eingangs zitierten Aussage kann sich selbst die amtierende Präsidentin der Petitionskommission, Francine Closener (LSAP), den Kommentar „Viel Meinung, wenig Ahnung“ nicht verkneifen. Dabei lag es in der Hand der Petitionskommission, dass die haltlose Debatte überhaupt stattfand. Sie hätte die Petition 3198 von Anfang an als unzulässig erklären können. Grund dazu bestand allemal. „Ich hätte sie aus ganz klar diskriminierenden Gründen nicht zugelassen und habe das auch gesagt. Zudem hätte ich als Präsidentin in diese Richtung plädiert“, sagt Nancy Arendt (CSV) gegenüber der woxx. Sie hat die Kommission von 2018 bis 2023 als Präsidentin geleitet. „Allerdings entscheidet die Mehrheit hier, und nicht die Präsidentin allein“, fügt sie hinzu. Sie habe auch Verständnis für die Kollegin, die relativ neu in ihrer Position war. Auch habe sie in den letzten Jahren einen wachsenden Zwiespalt bei den Abstimmungen über die Petitionen wahrgenommen.
Noémie Sadler, die Präsidentin der Nationalen Menschenrechtskommission (CCDH), hatte eine ähnliche Ansicht gegenüber der woxx geäußert. Ein mögliches Verbot von LGBTIQA+-Themen in Schulen verstoße gegen die Menschenrechtskonvention und verstärke Diskriminierung, Belästigung und Gewalt gegen LGBTIQA+-Personen. Aus diesen Gründen entspreche die Petition 3198 „nicht den Kriterien der Abgeordnetenkammer und hätte nicht zugelassen werden dürfen“ (woxx 1821, LGBTIQA+: Vielfalt durch Bildung).
Hätte die Petitionskommission so entschieden, ein weiteres Phänomen wäre vermieden worden: Das der False Balance, das falsche Gleichgewicht, das auftritt, wenn zwei Personen oder Vertreter*innen von Meinungen der gleiche Raum gegeben wird, um ihre Position zu erläutern, und sie dadurch gleichwertig erscheinen lässt, obwohl eine durch Fakten oder wissenschaftlichen Konsens fundiert ist und die andere eine Meinungsäußerung ohne faktische Grundlage.
Schwierige Wissensvermittlung
Erstaunlich ruhig und gefasst traten die Vertreter*innen der nachfolgenden Petition auf, die sich dafür einsetzt, LGBTIQA+-Themen in der schulischen Bildung auszubauen und im besten Fall fest in Fortbildungen des Lehrpersonals zu verankern. Neben dem Petenten Marc Gerges (LSAP) sitzen die Psychotherapeutin Caroline Pull, die als Expertin für Familientherapie und Traumatherapie im Familljen-Center arbeitet, und Eric Schneider, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der seit über zehn Jahren in der Aus- und Weiterbildung insbesondere im Erziehungssystem, in der Medizin und im rechtlichen Bereich tätig ist. Letzterer benennt unzureichendes Wissen und Fehlinformationen als Anfang einer Kette, die über Angst zu Wut, Hass und am Ende zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen kann, gerade auch gegen LGBTIQA+-Personen. „Wir haben eine Zunahme realer Gefahren von Diskriminierung und Gewalt auf Psyche und Körper von queeren Personen. Auch in Luxemburg“, sagt Schneider und führt die Schule als Tatort an. „Wir haben im Moment Gefahr in Verzug.“

(Foto: Chambre des députés )
Altersgerechte Wissensvermittlung an der Schule und fundierte Fortbildungen für Lehrpersonal sehen die Expert*innen als geeignetes Mittel gegen Diskriminierung und Gewalt und für eine offene und tolerante Gesellschaft. Sie argumentieren, Kinder seien von sich aus neugierig, stellten Fragen und hätten ein Recht auf altersgerechte, kompetente Antworten. Dr. Erik Schneider sprach im Laufe der Antwortrunde noch ein weiteres Problem an. Es gebe zwar bereits Lehrkräfte, die sich engagieren und zum Thema fortbilden, aber das seien doch zu großer Mehrheit jene, die sowieso schon viel wüssten. Also jene, die schon in der Vergangenheit offen für Fakten und Wissen zu LGBTIQA+ waren.
Gerade deswegen ist es wichtig, einen offiziellen Rahmen mit einer Fortbildungspflicht zu schaffen. Auch, aber nicht nur, was LGBTIQA+-Themen betrifft, bei denen immer noch viele Fehlinformationen und Mythen kursieren. Beispiel: „Es gibt nur zwei Geschlechter.“ Selbst wenn man alle Erkenntnisse aus Natur- und Humanwissenschaften zu Geschlechteridentitäten ausblenden würde, schließt man mit dieser Aussage auch die 1,7 Prozent an Intersex-Personen aus, die mit biologischen Merkmalen geboren wurden, die nicht eindeutig den Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ zugeordnet werden können, was Variationen in Chromosomen, Hormonen oder anatomischen Merkmalen umfassen kann.
Ein weiteres Problem sieht Schneider in der Begriffsverwirrung, wenn nämlich Geschlechteridentitäten, wie Transidentität und Intersexualität, mit sexueller Orientierung, wie Homo-, Bi-, oder Heterosexualität, vermischt werden. Um es klar zu sagen, es geht in dem Anliegen zur Aufklärung an der Schule nicht darum, Kindern sexuelle Praktiken zu erklären. Es geht um die Vermittlung der Möglichkeit verschiedener Identitäten, sexueller Orientierungen und Lebensmodelle, die nebeneinander und miteinander existieren können. Kurz, es geht um Toleranz und Akzeptanz – sich selbst und anderen gegenüber. In ihrem Schlusswort empfiehlt Yuriko Backes (DP), Ministerin für Gleichstellung und Diversität, einen Artikel von Science.lu, der umfassend zum Thema aufklärt. Während ihrer Abschlussworte schwenkt die Kamera auf die Abgeordneten im Saal. Fred Keup (ADR) ist in sein Handy vertieft und gedanklich vermutlich schon meilenweit entfernt. Damit wird er zum Sinnbild dafür, was ab einem bestimmten Alter tatsächlich die Wurzel allen Übels ist: Unwissen, Fehlinformation und vor allem das Nicht-Wissen-Wollen.