Mit „Osama“ läutet Siddiq Barmak eine neue afghanische Filmära ein.
„Ich werde verzeihen. Aber ich werde nie vergessen.“ „Osama“, der erste afghanische Spielfilm nach dem Ende des Taliban-Regimes beginnt mit einem Zitat von Nelson Mandela. In dokumentarischen Bildern schildert Siddiq
Barmak die Geschichte eines 12 jährigen Mädchens. Den Namen des Mädchens erfahren wir zuerst nicht. Sie wird später im Film Osama genannt – erst als Junge erhält sie eine Identität, wenn auch notgedrungen eine falsche.
Osama lebt mit Mutter und Großmutter in Kabul. Die Mutter darf nicht mehr als Krankenschwester arbeiten, die Tochter nicht mehr zur Schule, Sohn und Ehemann sind gefallen. Damit haben die drei
Frauen jetzt praktisch Hausarrest: Eine Taliban-Verordnung schreibt vor, dass Frauen nur in männlicher Begleitung das Haus verlassen dürfen. Osama sieht zu, wie die Taliban mit Geländewagen und Wasserwerfern brutal in die Menge der in den Straßen Kabuls demonstrierenden Frauen preschen. Viele sterben, andere landen im Gefängnis. Angesichts dieser ausweglosen Situation muss das Mädchen schweren Herzens ihre langen Zöpfe opfern und sich als Junge ausgeben, um arbeiten zu dürfen. Ein Zopfende hegt und pflegt sie noch symbolisch in einem Blumentopf. Bald wird sie wie viele anderen Jungs zwangsweise in die Koranschule gesteckt. Osama lernt die täglichen religiösen Waschungen der Männer kennen, vorgeführt durch einen Mullah, dem Osamas androgyne Züge auffallen und zu gefallen scheinen. Das Mädchen ist fast gelähmt vor Angst, entdeckt zu werden. Auf dem Nachhauseweg wächst jeder Schatten zur Bedrohung, selbst der Blick eines streunenden Hundes drückt sie gegen die staubigen Wände der fast menschenleeren Gassen. Schließlich wird sie enttarnt, kurzerhand ins Gefängnis gesteckt und vor das Scharia-Gericht gestellt.
Siddiq Barmak arbeitet in diesem preisgekrönten Film (unter anderem Camera d’Or du Jury in Cannes und Golden Globe) mit Laiendarstellern. Marina Golbahari bettelte beim Regisseur um ein Almosen und bekam statt dessen die Hauptrolle in seinem Film. „Als ich sie fragte, ob sie in einem Film mitspielen wolle, wusste sie erst nicht, was ich meinte. Sie hatte nur einmal beim Betteln einen Fernseher in einem Café gesehen“, erklärt Barmak. Als Gage erhielt sie ein Haus, in dem sie und dreizehn ihrer Familienmitglieder heute leben.
Barmak, der nach seiner Rückkehr aus dem pakistanischen Exil die Leitung der staatlichen Produktionsgesellschaft Afghan Film übernahm, arbeitet in „Osama“ viel mit Großaufnahmen. Er geht sehr feinfühlig mit Symbolik, Farbe und Geräuschen um, schafft mit ihnen eine besondere Atmosphäre. Das Trampeln der verjagten Demonstrantinnen steht als Kontrapunkt zu Osamas einsamen Schritten, wenn sie in Gedanken im Seil springt. Die Doppelmoral der religiösen Fanatiker unterstreicht er mit der detaillierten Beschreibung der Waschungen in der Koranschule.
Der Film wurde unter anderem von Mohsen Makhmalbaf („Kandahar“) unterstützt. Beide Regisseure engagieren sich für die kulturelle und künstlerische Förderung der afghanischen Kinder und Jugendlichen. Sie versuchen die filmische Infrastruktur wieder neu aufzubauen, denn viel wertvolles Filmmaterial wurde unter den Taliban zerstört. Die Dreharbeiten in Kabul waren schwierig. „Es fehlt an jeglicher filmischer Infrastruktur“, klagt Siddiq Barmak. Die Reaktionen auf seinen ersten afghanischen Film seien euphorisch gewesen, sagt der Regisseur und kündigt als nächsten Film eine Komödie an. Nach all dem Leid habe die Bevölkerung auch einmal das Recht zu
lachen.