RICHARD EYRE: Notes on a Scandal

Notes on a Scandal überzeugt als bewegendes Psychodrama mit schauspielerischen Leistungen auf höchstem Niveau.

Wenn der Wunschtraum zum Verfolgungswahn wird, verwischen sich die Grenzen der Realität

Sie ist eine dieser älteren Frauen, die nicht mehr als Frauen, sondern als älter wahrgenommen werden. Eine dieser Lehrerinnen, die von Schülern und Kollegen respektiert werden, ohne beliebt zu sein. Barbara Covett (Judi Dench) lehrt Geschichte an einem mittelprächtigen Londoner Gymnasium, doch nach einer langjährigen Karriere versteht sie ihren Job vornehmlich als crowd control. Modische pädagogische Konzepte weist sie mit demselben unterkühlten Sarkasmus von sich mit dem sie sich ihre Mitmenschen vom Leib hält. Letzteres sehr erfolgreich: Zuhause erwarten sie nur eine Katze und ein Tagebuch. Höhepunkt ihrer Wochenenden ist der Gang zum Waschsalon.

In diese trostlose Existenz bricht ein Hoffnungsstrahl, als Sheba Hart (Cate Blanchett), blond, hübsch, charmant und engagiert, zum Lehrkörper stößt. Wider alle Vernunft glaubt Barbara an die Möglichkeit einer bedingungslosen Freundschaft mit der jungen Kollegin, an eine Liebe gegen den Rest der Welt. Während sie sich Sheba behutsam annähert, vertraut sie ihrem Tagebuch ihre schwärmerischen Fantasien an. Als Barbara von Shebas Affäre mit einem minderjährigen Schüler erfährt, erkennt sie schnell ihre Chance: Sheba ist auf ihre Diskretion angewiesen und braucht die gute alte Barbara mehr denn je.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Mit Notes on a Scandal ist Richard Eyre ein Meisterwerk gelungen, das durch glaubwürdige Charaktere jenseits aller Klischees, eine schlichte Inszenierung, kluge Dialoge und hervorragende schauspielerische Leistungen besticht. Allen voran glänzt Judi Dench in der Rolle der verbitterten, romantischen Barbara Covett.

Vordergründig präsentiert sich die Adaptation von Zoë Hellers gleichnamigem Roman als packendes Psychodrama um weibliches Begehren in der Grauzone zwischen Tabu und gesellschaftlicher Akzeptanz. Doch seine eigentliche emotionale Dynamik verdankt der Film einer Problematik, die ungleich tiefer geht. „Mind the gap“, ermahnt sich Sheba und meint den Abstand zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Lebensentwurf und realen Verhältnissen. Doch wie geht man mit dem Abstand um? Man kann versuchen, ihn auszuhalten oder ihn zu schließen. Man kann seine Träume zurechtstutzen oder auf Gedeih und Verderb auf ihre Verwirklichung bestehen.

Beide Frauen leiden an dieser Lücke. Sheba hat sich bereits in frühen Jahren an einen älteren Ehemann und zwei Kinder gebunden. Sie ist nicht unglücklich, doch etwas fehlt. Etwas, was sie in den Armen eines fünfzehnjährigen Pennälers nachzuholen hofft. Barbara ihrerseits hat längst aufgegeben, das gestörte Verhältnis zu ihrem Umfeld zu kitten. Sie versucht nur noch, sich mit ihrer Einsamkeit abzufinden, indem sie ihre Mitmenschen schlechtredet und ihr Umfeld gnadenlos scharfsinnig seziert. Ihre angesammelte Sehnsucht projiziert sie auf einen einzigen Menschen, der alle anderen ersetzen soll. Sheba soll ihr geben, was die Gesellschaft ihr verweigert.

Barbara gerät zunehmend zur tragischen Figur. Anders als Sheba, die in ihre Affäre hineinschlittert, treibt Barbara ihr unheilvolles Schicksal selbst voran, wobei ihre Verblendung ihr zum Verhängnis wird. Sie erkennt nicht, wie absurd und befremdend ihre Sehnsucht auf Sheba wirken muss und wie unrealistisch ihr Weltbild ist. Indem sie zulässt, dass Wunschdenken ihren Wirklichkeitssinn trübt, übersieht sie den Abstand.

Wie jede Tragödie erreicht Notes on a Scandal seinen Höhepunkt, als sich die Hauptfiguren im Streitgespräch gegenüberstehen und die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Barbara ist egoistisch, possessiv, verblendet, doch sie verteidigt auch das Ideal bedingungsloser Hingabe gegen die Engherzigkeit der Vernunft. Dem Realitätsprinzip der Sieger hält sie die Sehnsucht der Verlierer entgegen.


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