MIGRATION: Zwischen den Kulturen

Die psychischen Auswirkungen von Migration auf Kinder und die Möglichkeiten einer Therapie waren Thema eines Kolloquiums.

In einem Raum sitzen rund 15 Personen in einem Kreis. Ein afrikanisches Paar, begleitet von einem Jugendlichen, betritt das Zimmer. „Bitte setzen Sie sich. Wie geht es Ihnen?“, fragt Marie Rose Moro. Die Afrikanerin lässt sich auf dem bezeichneten Stuhl nieder und zieht ihren Wintermantel aus. Darunter befindet sich ein buntes traditionelles Gewand. Die kleine Familie erzählt von rituellen Austreibungen, Opfergaben und allen möglichen afrikanischen Mitteln, die ihnen ein Medizinmann empfohlen hat, um ihrem Sohn Idrissa zu helfen. Sein Problem: Er schlägt zu Hause – in Frankreich – alles kaputt und reißt Dinge aus den Schränken. Nichts jedoch von alldem habe ihm bisher geholfen. „Aber was sagen die Älteren im Heimatland dazu?“ fragt Moro, Kinder- und Jugendpsychiaterin und Vorsteherin der „ethno-psychoanalytischen“ Beratungsstelle im Krankenhaus Avicenne in Bobigny.

Dies ist ein Ausschnitt aus dem Film „J’ai rêvé d’une grande étendue d’eau“ von Laurence Petit-Jouvet, der die Herangehensweise von Moro dokumentiert. Gezeigt wurde der Film im Rahmen des Kolloquiums „Migration et santé mentale des adolescents: Un équilibre fragile ? Comment y répondre ?“, das vom Erziehungsministerium organisiert wurde. „Ziel der Veranstaltung ist, psychische Probleme, die an Aspekte wie Migration geknüpft sind, besser zu verstehen, die Qualität der Betreuung zu verbessern und die Netzwerkarbeit stärker zu fördern“, so eine Vertreterin des „Centre de psychologie et d’orientation scolaires“ (CPOS). Moro war denn auch eine der geladenen ReferentInnen, die ihre persönliche Arbeitsphilosophie vorstellte. Einen Namen hat sie sich gemacht mit einer ganz jungen Disziplin, die sich zwischen Psychoanalyse und Ethnologie bewegt, der so genannten „transkulturellen Psychiatrie“.

„Eine junge afrikanische Mutter meinte einmal auf die Frage? warum sie zur Therapie gehe: Ich komme, weil es schwer ist einen kleinen Franzosen zu erziehen.“

In einem Anbau des Krankenhauses Avicenne empfängt Moro Migrantenfamilien aus Afrika, Asien und aus dem Mittleren Osten. Gerade unter der „ersten Generation“ der MigrantInnen befinden sich viele Flüchtlinge, die oft Gewalt erlebt haben. Viele warten auf ihre Aufenthaltspapiere: Sie entwickeln eine wahre Pathologie des Wartens. Insbesondere die Kinder von Immigranten kommen zur „transkulturellen“ Sprechstunde. Denn oft löst das Leiden eines Kindes oder Jugendlichen eine Behandlung aus – dabei sind die Kinder oft nur „Symptom-Träger“. Sie drücken letztlich das Unbehagen einer ganzen Familie aus. Gerade wenn Eltern ihre Desorientierung im „pays d’accueil“ auf ihre Kinder übertragen, nicht verarbeitete Kriegstraumata nachwirken oder die Nostalgie nach dem verlassenen Heimatland ein wirkliches Ankommen nie ermöglicht. „Eine junge afrikanische Mutter meinte einmal auf die Frage? warum sie zur Therapie gehe: Ich komme, weil es schwer ist einen kleinen Franzosen zu erziehen“, erzählt Moro. Dabei finden die betroffenen Familien in ihrer Praxis eine Therapieform vor, die ihnen sonst nirgendwo geboten wird: Sie können erzählen, ohne sich von ihrem ursprünglichen Glauben und ihren kulturellen Gebräuchen abnabeln zu müssen. Wie in traditionellen Gesellschaften, wo Krankheiten kollektiv behandelt werden, fungiert bei Marie Rose Moro die Therapie auch als Gruppenarbeit: Denn neben Moro befinden sich KotherapeutInnen aus unterschiedlichsten Ländern, dem Sudan, Marokko, der Elfenbeinküste, oder dem Irak in der Sitzung. Wenn erfordert, übersetzt ein Dolmetscher das Gespräch. Diese Konstellation mehrerer Kulturen ermöglicht es, unterschiedliche Sichtweisen zirkulieren zu lassen. In den Sitzungen geht es darum, die Erinnerungen, die Träume und Bilder der ZuwandererInnen wachzurufen. Dabei will Moro klarmachen, dass eine Geschichte nicht erst mit der Immigration beginnt. Sie möchte die meist verlorene Kontinuität in der Lebensbiografie wieder herstellen. Bewusst arbeitet sie dabei mit dem Konzept der Unterschiedlichkeit der Herkunft. In ihren Büchern plädiert Moro für die Mannigfaltigkeit der Kulturen in einem Land: „Es ist unser Blick, den wir verändern müssen statt die kulturellen Unterschiede zu nivellieren.“ Die Eigenarten und die Vielfalt zulassen, verstehen lernen und anerkennen – auch im Schulsystem – könnte das Eingewöhnen für viele Zuwanderer einfacher machen, davon ist Moro überzeugt. Denn: „Identität ist ein Prozess, eine dynamische Konstruktion, die andauernd auch in der Beziehung zum anderen erneuert werden muss.“

Von einer solchen Therapiemöglichkeit scheint man in Luxemburg noch weit entfernt. Dabei besteht ein Bedarf an Betreuungsstellen, die sich auf „transkulturelle Psychiatrie“ spezialisiert haben. „In der Praxis wird der CPOS immer mehr von Leuten mit ausländischem Hintergrund aufgesucht. Und das nicht nur, um auf pädagogischer Ebene eine schulische Orientierungshilfe zu bekommen, sondern viele brauchen eine psychotherapeutische Betreuung“, stellt Lidia Correia vom CPOS fest. Für Jugendliche sei es nicht einfach, in ein fremdes Gastland katapultiert zu werden. Nicht nur, dass sie in Luxemburg viele sprachliche Barrieren überwinden müssen, sie haben auch alle sozialen Kontakte in ihrem Ursprungsland aufgegeben.

„Es ist unser Blick den wir verändern müssen statt die kulturellen Unterschiede zu nivellieren.“

Auch die Sozialarbeiterin des „Commissariat du Gouvernement aux étrangers“ stellt einen akuten Handlungsbedarf fest: „Unter den Jugendlichen, die ohne Eltern nach Luxemburg kommen und Asyl beantragen, befinden sich viele mit psychischen Problemen, zum Beispiel der junge Angolaner, der in seinem Heimatland Kindersoldat war“, meint Patricia Picard. Eine Betreuung sei jedoch schwierig nicht nur aufgrund der Sprachprobleme, es fehle auch allgemein an Strukturen, die sich auf Probleme von Jugendlichen mit Migrantenbackround spezialisiert haben. So gebe es zwar seit kurzem eine Zusammenarbeit mit dem Croix-Rouge und der Caritas, um Jugendliche unterzubringen – in der Vergangenheit jedoch seien Jugendliche auch schon mal nach Schrassig überwiesen worden. „Eine junge Iranerin, die von zuhause weggelaufen ist, und zu der weder die Eltern noch der CPOS Zugang gefunden haben, wurde nach Schrassig gebracht“, erinnert sich Picard.

Es sind eben oft auch unangepass-te Strukturen, die ZuwandererInnen ins Abseits drängen. So kritisierte beim Kolloquium der Schweizer Kinderpsychiater Jean-Claude Métraux die fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Migranten. Oft müssten Migrantenkinder schon früh die Erfahrung sozialer Abwertung machen: Zu schnell werden sie in so genannte Spezialklassen abgeschoben für Schüler mit Entwicklungsstörungen, ohne dass ihr Potential – etwa das Beherrschen einer anderen Muttersprache – anerkannt wurde. „Insgesamt verlangen Schulsystem und soziale Institutionen eine Anpassung von den Immigrantenkindern. Die Jugendlichen werden zur ?Société d’accueil‘ gedrängt“, meint Métraux. „Demgegenüber neigt die eigene Familie der Kinder oft zur Ghettoisierung, da sie nicht akzeptieren können, dass ihre Kinder anders werden als sie selbst.“

Viele Jugendliche mit Migrantenhintergrund müssen diese Gegensätze, einerseits die Kultur des Herkunftslandes und andererseits jene des Gastlandes, vereinen. Wenn sie sich stattdessen nur auf die Seite der Familie stellen, dann haben sie Integrationsprobleme. Und wenn sie sich auf die Seite der „Société d’Accueil“ begeben, dann haben sie Loyalitätskonflikte mit der Familie. „Dies führt dazu, dass einige Jugendliche sich beiden Gesellschaftssystemen verweigern. Sie werden doppelt marginalisiert“, stellt Métraux fest. Viele suchten sich in diesem Fall eine „eigene“ dritte Welt – sei es in der Drogensucht oder der Gewalt. „Die Jugendlichen schließen sich zu Banden zusammen und Gewalt wird zur einzigen Möglichkeit ?capabilities‘ auszudrücken“, erklärt Métraux. Deshalb sei es wichtig, Beweglichkeit in den Systemen bestehen zu lassen. „Die Ursprungskultur eines Menschen, die Vielfalt der Sprachen müssen stärker wertgeschätzt werden – und das auch im Schulsystem“, so Métraux.

Im Schulsystem bemüht sich Luxemburg zumindest im Bereich der Informationskultur mehr „Vielfalt“ walten zu lassen. So bietet die „Cellule d’accueil scolaire pour élèves nouveaux arrivants“ (Casna) Informationen in mehreren Sprachen über das Luxemburger Schulsystem an. „Daneben existiert ein Team von ?Médiateurs interculturels‘, die als Vermittler ein Maximum an Infos an die Eltern in ihrer jeweiligen Muttersprache weitergeben sollen“, meint Marguerite Krier vom „Service de la scolarisation des enfants étrangers“. 700 Elterngespräche hätten so zwischen 2007 und 2008 stattgefunden. Auch gebe es Weiterbildungen für das Lehrpersonal der „classes d’accueil“.

Woran es jedoch nach wie vor zu mangeln scheint, ist eine Wertschätzung der verschiedenen Ursprungskulturen im Unterricht selbst – indem dieser Aspekt in der Klasse thematisiert wird und andere Sprachen wie etwa Portugiesisch in den Schulen vermehrt angeboten werden. Dies könnte auch eine Möglichkeit sein, den interkulturellen Dialog zu fördern sowie die Leistungsunterschiede zwischen luxemburgischen SchülerInnenn und jenen fremder Herkunft zu minimieren.


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