Laut „Bilan Compétitivité 2009“ verliert Luxemburg an Wettbewerbsfähigkeit. Doch in Zeiten großer Krisen und Umbrüche regen sich Zweifel am Sinn traditioneller Rechenmodelle und Paradigmen.
Jeannot Krecké ist ein Politiker mit Weitsicht. Bereits 1997 hatte er vorgeschlagen, die Notare, die Enregistrement- und die Katasterverwaltung zu vernetzen, um die Immobilienverkäufe genauer erfassen – und besteuern – zu können. „Dazu ist es leider bis heute nicht gekommen“, stellte er am vergangenen Montag bedauernd fest. Der Minister drückte die Hoffnung aus, anhand exakter Informationen über die Entwicklung des Immobilienmarktes sogar die nächste Finanzkrise vorhersagen zu können. Das können die Berechnungen des „Bilan Compétitivité 2009“, um den es bei der Pressekonferenz eigentlich ging, nämlich nicht leisten. Nicht einmal die Auswirkungen der Krise lassen sich aus dessen Zahlen herauslesen. Und obwohl der Untertitel des Dokuments „Préparer l’après-crise“ lautet, halten sich die VerfasserInnen mit konkreten Vorschlägen zurück.
Die Welt bräuchte PolitikerInnen mit Weitsicht. Das zeigen die Ergebnisse des G-20-Gipfels in Pittsburgh. Zwar konnten sich die Regierungschefs darauf einigen, die Trader-Boni einzuschränken und den Banken strengere Eigenkapital-Regeln aufzuerlegen, womit der Trend zur Spekulation – vermutlich – abgeschwächt wird. Doch, wie sogar der Direktor der Luxemburger Bankenvereinigung Jean-Jacques Rommes im August zugab: Es wird weiter spekuliert, auch weil die Realwirtschaft zurzeit keine hohen Profite verspricht. Ein zweiter Krach ist daher nicht auszuschließen. Weitergehende stabilisierende Eingriffe, wie die Tobin-Taxe und die Trennung von Kreditvergabe und Investmentbanking, wurden vom G-20 aber nicht beschlossen.
Der schönen Reden auf internationalen Konferenzen zum Trotz wird zu Hause regiert, als ob jedes Land ein Unternehmen wäre und in unerbittlicher Konkurrenz zu allen anderen stünde.
Auch die Beteuerung des G-20, die Maßnahmen gegen die Krise seien erfolgreich gewesen, zeugt von Kurzsichtigkeit. ExpertInnen befürchten vor allem, dass in den kommenden Jahren die steigende Arbeitslosigkeit die positive Wirkung der Konjunkturpakete zunichte machen wird. In diesem Sinne bemängelt zum Beispiel der OGBL, dass die Beschlüsse des G-20 nicht weit genug gehen, und fordert, Maßnahmen gegen die weltweite Beschäftigungskrise in Angriff zunehmen.
Ein weiterer Grund zur Sorge ist die Unklarheit über den Umfang der „faulen Kredite“. Die Europäische Zentralbank hat es bislang unterlassen, die hiesigen Banken einer Prüfung zu unterziehen, die mit jener in den USA vergleichbar wäre. Nachzügler ist die EU auch in Sachen Konjunkturpakete. Zwar profitiert sie derzeit von den Ausgabenprogrammen in den USA und China, doch auf mittlere Sicht gefährdet diese Zurückhaltung die internationale Zusammenarbeit.
Im übrigen scheinen die europäischen Wirtschaftspolitiker bereits zu den alten Denkschemata zurückgekehrt zu sein: Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten und Förderung des Angebots statt der Nachfrage. „In den großen Rankings ist Luxemburg zurückgefallen“, klagte Statec-Direktor Serge Allegrezza am vergangenen Montag, und aus den Zahlen im „Bilan Compétitivité 2009“ las er das Gleiche heraus: „Wir sind dabei, an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.“ Sorgen bereiten ihm nicht etwa das mittelmäßige Ergebnis im Bereich „Cohésion sociale“ oder die seit Jahren schlechte Bewertung im Umweltbereich, sondern die fallende Produktivität und die steigenden Lohnkosten. Soll sich aber das „Préparer l’après-crise“ wirklich um diese kurzfristigen Indikatoren drehen, statt die Entwicklungsmöglichkeiten Luxemburgs auf mittlere Sicht zu verbessern? Auch das am Dienstag vorgestellte Budget 2010 ist unter diesem Gesichtspunkt kein großer Wurf (siehe Beitrag Seite 3). Gewiss, die staatlichen Investitionen werden – noch – nicht zurückgefahren, die Unternehmenssteuern werden – noch – nicht gesenkt. Doch die Sparmaßnahmen – weniger Staatsbeamte, weniger Sozialausgaben – und der Verwendungszweck der Investitionen – vor allem Bauprojekte – zeugen von Einfallslosigkeit.
Obwohl bei den Reden auf den internationalen Konferenzen die Zusammenarbeit und das Wohlergehen aller im Vordergrund stehen, wird also zu Hause weiterhin so regiert, als ob jedes Land ein Unternehmen wäre und in unerbittlicher Konkurrenz zu allen anderen stünde – eine Logik, die die Welt in den vergangenen 25 Jahren an den Rand des Abgrunds gebracht hat.
Dabei hat Jeannot Krecké eigentlich einiges aufzuweisen, was von größerer Weitsicht zeugt – nicht nur seinen Bericht zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung von 1997. In einem Interview in der Zeitschrift forum hatte er ein Jahr zuvor über die Dringlichkeit einer Reform der Arbeitsverwaltung und die Wichtigkeit großregionalen Denkens philosophiert – zwei weitere Bereiche, in denen sich in den vergangenen zehn Jahren viel zu wenig getan hat. Krecké, damals noch links angehauchter LSAP-Abgeordneter, hatte sogar über eine gerechtere Besteuerung des Reichtums, eine Erhöhung der Spritpreise und die Abschaffung des Bankgeheimnisses öffentlich nachgedacht … und die Uneinsichtigkeit der LuxemburgerInnen beklagt.
Das zumindest tut er immer noch gerne. Zum Beispiel bei einem anfangs des Jahres von der woxx organisierten Rundtischgespräch über Wirtschaft und Nachhaltigkeit (woxx 994), wo er anführte, die BürgerInnen wollten eine Sache, aber zugleich auch deren Gegenteil haben: „Auf Wachstum zu verzichten, das wäre ein ?choix de société‘. Dann aber muss man auch auf andere Dinge verzichten. Niemand soll glauben, man könne niedriges Wachstum mit hohen Sozialleistungen und hohen Umweltstandards verbinden.? Im Falle des Klimaschutzes läuft diese Feststellung darauf hinaus, dass nicht gefragt wird, welche Reduzierung des CO2-Ausstoßes notwendig ist, sondern, wieviel davon finanziell oder politisch hingenommen werden kann.
Mit dieser Haltung steht der Luxemburger Wirtschaftsminister nicht allein da. Der G-20 hat den Klimaschutz nicht vorangebracht, obwohl mitt-lerweile mit China, Indien und Brasilien die größten Schwellenländer mit am Tisch sitzen. Die angekündigten CO2-Einsparungen gehen nicht weit genug, die Hilfszusagen der Industrieländer an den Rest der Welt bleiben vage. Derzeit deutet vieles darauf hin, dass der große Klimagipfel Anfang Dezember in Kopenhagen scheitern wird.
Wie sollte es auch anders sein? Der wichtigste Indikator für die Leis-tungsfähigkeit des Managements, pardon, der Regierung eines Landes ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Besonders in Krisenzeiten, angesichts steigender Arbeitslosigkeit, welche erfahrungsgemäß nur mit Hilfe eines Wachstumsschubs aufgefangen werden kann, zögern die Regierungen: Auflagen im Sinne des Klimaschutzes könnten den erhofften Konjunktur-aufschwung abwürgen, Nord-Süd-Transfers würden neue Löcher in die arg gebeutelten Staatshaushalte reißen.
Im „Bilan Compétitivité 2009“ geht es um Wettbewerbs- und nicht um Überlebensfähigkeit. Zur Berechnung des „niveau de vie“ wird einfach das Nationaleinkommen durch die Bevölkerungs-zahl dividiert.
Immerhin hat vor zwei Wochen eine UN-Kommission unter der Leitung des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz Vorschläge gemacht, wie man das menschliche Wohlergehen adäquater als durch das bloße BIP messen könnte. Solche neuen Indikatoren könnten zwar das Problem der Nord-Süd-Gerechtigkeit nicht lösen, doch würden sie Maßnahmen, die sozial- oder umweltpolitischen Zwecken dienen, positiv bewerten, statt sie wie bisher als Kostenfaktor oder Wachstumsbremse zu behandeln. Parallel dazu würde größeres Wachstum bei Produktion und Konsum nicht mehr per se als erstrebenswert gelten.
Doch davon sind wir weit entfernt. Jeannot Krecké, nach den schlechten Umweltindikatoren befragt, verwies auf das ansteigende Müllaufkommen. „Je mehr wir wachsen, umso schlechter sind wir – aber das müssen Sie dem Mouvement écologique mal erklären“, kommentierte er, als ob dies ein irreführender Indikator sei, ersonnen von grünen SpinnerInnen. Tatsache ist, dass in den Industrieländern über den CO2-Ausstoß hinaus der Ressourcenverbrauch ganz allgemein drastisch gesenkt werden müsste, um eine ökologische und politische Katastrophe in den nächsten Jahrzehnten zu vermeiden.
Doch im „Bilan Compétitivité 2009“ geht es um Wettbewerbs- statt um Überlebensfähigkeit. Deshalb wird zur Berechnung des „niveau de vie“ das Nationaleinkommen durch die Bevölkerungszahl dividiert. Das in der Regierungserklärung angedeutete Vorhaben, auch einen Wohlergehens-Index einzuführen, tut Krecké als läs-tige Pflicht ab: „Wir müssen zu den jetzigen 79 Indikatoren noch ein paar hinzu fügen, und dann können wir den ?PIB du bien-être‘ berechnen.“
Seine Weitsicht und seine Fähigkeit, Visionen zu entwickeln, scheint der LSAP-Politikers in zehn Jahren fleißiger Oppositions- und Regierungsarbeit verloren zu haben. Ob man von den Spitzenreitern im Wettbewerbsranking lernen könne, also von den skandinavischen Ländern, die ein gewisses Wachstum mit guten sozialen und ökologischen Indikatoren verbinden? Der Minister sieht vor allem die Schwierigkeiten, solche gewachsenen Modelle zu übernehmen: „Man kann ja nicht einfach nur bestimmte Maßnahmen kopieren.“ Diese Modelle beinhalteten auch viel Unpopuläres, zum Beispiel die Mehrwertsteuer in Höhe von 25 Prozent. „So etwas werde ich jedenfalls nicht vorschlagen.“
Der größten Herausforderung, der sich Krecké zurzeit gegenüber sieht, wurde im „Bilan Compétitivité“ ein eigenes Kapitel gewidmet: den überdurchschnittlich hohen Taxi-Preise in Luxemburg. Der sonst sehr arbeitgeberfreundliche Minister ärgert sich, dass die Diskussion mit den Taxiunternehmen nicht vorankommt. „Dieser Sektor ist von allen am meisten an die Nerven gegangen, in keinem anderen sind die Auffassungen der Unternehmer so weit von meinen entfernt.“ Es kommen also anstrengende Verhandlungen auf den Wirtschaftsminister zu. Anstrengend, aber doch in gewisser Weise erholsam, denn solange er einen historischen Kampf um die Regulierung von Taxitarifen führt, kann nicht von ihm verlangt werden, sich um Kleinkram wie Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaften zu kümmern.
„Bilan Compétitivité 2009“ unter
www.odc.public.lu