RENTENDEBATTE: Dreimal acht

Eine 180-Grad Kehrtwende werfen die Grünen Sozialminister Mars Di Bartolomeo vor: Nach sechs Jahren Nichtstun stoße er nun eine Rentendebatte ohne jegliche Zielvorgabe an.

RTL-Impuls im April 2008: Sozialminister Mars Di Bartolomeo wirft dem grünen Rentenpolitiker Felix Braz Panikmache vor. Zwei Jahre später hat sich die Rollenverteilung umgekehrt.

Als Sozialminister Mars Di Bartolomeo am 25. Januar die Presse in sein Ministerium lud, sollte vor allem über den Zustand der Luxemburger Sozialversicherungen im Jahre 2008 gesprochen werden. Und zwar auf der Grundlage eines Berichts der Inspection Générale de la Sécurité Sociale (IGSS), der auf über 240 Seiten detailliert darlegt, wie sich das öffentliche Versicherungswesen im vorletzten Jahr entwickelt hat. Behandelt wurden also die „klassischen“ Sozialsysteme, wie die Krankenkassen, die Pensionsregimes, sowie die Unfall- und die neu eingeführte Pflegeversicherung. Aber auch die staatlich organisierten Sozialtransfers der Familienzulagen und des garantierten Mindesteinkommens kamen zur Sprache. Ein großes Themenspektrum also, aber nicht übertrieben groß angesichts der Tatsache, dass der Sozialminister für so gut wie die Hälfte der Ausgaben des Staatshaushalts verantwortlich ist.

Dennoch ergriff der Minister gegen Ende der Pressekonferenz noch einmal das Wort, um „nur einen Satz in zwei Teilen“ zur Zukunft der Rentenversicherung zu sagen. Was folgte, war eine Art Grundsatzreferat über die Notwendigkeit, in der Angelegenheit der Reform des Rentensystems aktiv zu werden. Es gelte, das weltweit beste Pensionssystem nachhaltig abzusichern, das im Jahre 2009 über Rücklagen von 9,7 Milliarden verfügt habe. Diese Summe decke die Auszahlungen für 3,6 statt der vom Gesetz vorgeschriebenen anderthalb Jahre. Ermöglicht werde dies vor allem durch das derzeit gegebene günstige Verhältnis von 2,5 BeitragszahlerInnen pro RentenempfängerIn.

Die komfortable Ausgangslage, so der Minister, erlaube es, in aller Ruhe die Diskussion über die weitere Entwicklung anzugehen, denn – so der zweite Teil seiner Intervention – bei unveränderten Parametern werde dieses Finanzpolster in den kommenden Jahrzehnten unaufhaltsam dahinschmelzen. „Um zu verhindern, dass die Kasse defizitär wird, müssten in 20 bis 30 Jahren eine bis anderthalb Millionen Arbeitnehmer in sie einzahlen“, rechnete Di Bartolomeo vor. Zehn Jahre nach Junckers Vision eines 700.000-Einwohnerstaates legen die Rentenexperten die Latte also doppelt so hoch, wenn das Ziel erreicht werden soll, das Leistungsniveau unverändert zu erhalten, ohne dass ein Defizit entsteht.

Defizit ab 2025?

Eine solche Vision ist in den Augen des Ministers unrealistisch. Hatte doch die IGSS im vergangenen Jahr – ausgehend von nach unten revidierten Wirtschaftszahlen – in ihrem Bericht für die Rentenarbeitsgruppe der Tripartite das Jahr 2025 als den Zeitpunkt genannt, von dem an erstmals Defizite drohen.

Auch wenn Di Bartolomeo kaum neue Informationen bezüglich der Rentenproblematik lieferte, so überraschte doch der drängende Ton seiner Darlegungen: Noch in diesem Jahr sollten die zu ergreifenden Maßnahmen mit den Sozialpartnern diskutiert werden. Vorgabe sei dabei, weder am derzeit geltenden Umlageverfahren zu rütteln noch das Prinzip einer garantierten Mindestrente in Frage zu stellen: Die gesetzliche Rentenversicherung müsse ihren Umverteilungscharakter unbedingt bewahren. Außerdem sei an dem gesetzlichen Rentenalter von derzeit 65 Jahren festzuhalten. Alle anderen Parameter stellte der Minister zur Disposition und erwähnte dabei vor allem das Problem der Frühverrentung vieler ArbeitnehmerInnen, der das tatsächliche Renteneinstiegsalter auf 58 bis 59 Jahre herunter drücke.

Wie nicht anders zu erwarten, riefen Di Bartolomeos Aussagen auf mehreren Seiten Kritik hervor. Die Linke sah in der Absicht, die Rentenansprüche wieder enger an die eigentlich vorgeschrieben 40 Beitragsjahre zu koppeln, einen Angriff auf die Anerkennung von Ersatzzeiten. Von dieser profitieren zum Beispiel Studierende oder Erziehende, denen die „inaktiven“ Monate oder Jahre, während derer sie nicht in die Kasse einzahlen, dennoch für ihre Pensionsansprüche angerechnet werden.

„Das Rentenalter wird doch erhöht“, monierte die Linke und rechnete an Fallbeispielen vor, dass eine Nichtanerkennung von Ersatzzeiten für viele, vor allem prekär Beschäftige, zu einer Erhöhung des Renteneinstiegsalters, verbunden mit einer Verringerung der Rentenleistung, führen könnte. Viele Menschen mit einer lückenhaften Arbeitsbiographie – in der Regel Frauen – können beim Erreichen ihres 65. Lebensjahres keine 40 Versicherungsjahre aufweisen und erhalten entsprechend weniger Geld aus der Rentenkasse. Dabei dürfte die Intention des Ministers weniger die gewesen sein, den sozial Schwachen einen Teil ihrer ohnehin nicht sehr üppigen Ansprüche wegzunehmen, als auf das Phänomen der Frühverrentung ? die oft aus betrieblichen Gründen erfolgt – hinzuweisen.

An einem ganz anderen Punkt setzen die Grünen mit ihrer Kritik an. Sie wundern sich über den plötzlichen Tatendrang des Ministers und werfen ihm vor, die fast sechs Jahre seiner Amtszeit verschlafen zu haben. „Dass er jetzt anfängt, sich Fragen zu stellen, ist vor allem auf die finanziellen Engpässe zurückzuführen, die der Staat durch die Krise zu spüren bekommt“, unterstellt der grüne Fraktionsführer dem sozialistischen Sozialminister. Doch sei die Wirtschaftskrise genau die falsche Zeit, um eine Rentendiskussion zu führen. Die Verunsicherung unter den Arbeitnehmern werde durch sie nur noch größer.

Schon 2001, ausgehend von dem nach den damaligen Reformen zusammengetretenen „Rententisch“, hatten die Grünen in einem offenen Brief an den Staatsminister gefordert, im Rahmen eines entsprechenden „Zukunftstisches“ über die langfristige finanzielle Absicherung des Rentensystems zu diskutieren. Doch noch anlässlich einer im Januar 2008 vom grünen Abgeordneten Felix Braz beantragten Debatte zum Rententhema wies Di Bartolomeo alle Bedenken hinsichtlich der Rentenentwicklung weit von sich.

Eine frühzeitige Debatte hätte erlaubt, Reformen vorzunehmen, die nicht nur weniger einschneidend, sondern auch gerechter hätten abgewickelt werden können. Es seien „neun verlorene Jahre“, die Schwarz-Blau und danach Schwarz-Rot leichtfertig hätten verstreichen lassen, betont Felix Braz. Sollten die Berechnungen des erwähnten IGSS-Berichtes stimmen, so beträgt der Zeitraum, innerhalb dessen die Reformen Wirkung zeigen müssen, weniger als die halbe Beitragsperiode von 40 Jahren. Demnach sind die gegenwärtigen BeitragszahlerInnen von einschneidenden Veränderungen betroffen, ohne dass ihnen die Zeit bleibt, sich über ein zweites Standbein zusätzlich zu versichern.

Maximal 5.000 Euro?

Nachdem die 4-Prozent-Wachstumseuphorie der Vergangenheit angehört, sehen die Grünen auch das Dreimal-acht-Modell des Luxemburger Beitragssystems in Frage gestellt. Die Rentenbeiträge von 24 Prozent des Bruttoeinkommens der ArbeitnehmerInnen werden zu je einem Drittel von den Betroffenen selbst, den jeweiligen Arbeitgebern und dem Staat – also durch das Steueraufkommen – finanziert. In den Lohnbüchern macht sich so die Rentenversicherung mit vergleichsweise niedrigen 16 Prozent bemerkbar. Angesichts der Ebbe in der Staatskasse könnte dieses für die Betriebe günstige System ins Wanken geraten.

Die Grünen wollen deshalb weitere Quellen zur Finanzierung des Rentensystems erschließen. Zum einen soll nicht wie bisher nur die Lohnmasse zur Beitragserhebung herangezogen werden. Unternehmen mit arbeits- und personalintensiven Verfahren bringen derzeit mehr Sozialbeiträge auf als Betriebe, die überwiegend automatisiert und kapitalintensiv arbeiten. Die nicht mehr ganz neue Idee einer Wertschöpfungsabgabe könnte hier den Ausgleich bringen.

Mit dem Minister auf einer Wellenlänge liegen die Grünen bezüglich des Prinzips der 40 Pflichtjahre – mit Ausnahme allerdings des Prinzips der Erziehungs- und Bildungszeiten, an dem sie nicht rütteln lassen wollen. Mit der Ergänzung durch eine zweite, private, Säule, in der Rentenansprüche oberhalb einer staatlich garantierten Rente erworben werden könnten, ließe sich das System entlasten. Der grüne Fraktionschef nannte als „Beispiel“ dieser staatlichen Rentenobergrenze einen Betrag von 5 oder 6.000 Euro.

Einen wesentlichen Schritt in der Ausweitung der Beitragsbasis sehen die Grünen in der Individualisierung des Rentensystems. Jeder Mensch, ob berufstätig oder nicht, sollte seine eigenen Rentenbeiträge einzahlen. Hier wird die aktuelle Koalition dafür kritisiert, dass sie die versprochene Individualisierung nur halbherzig vorangetrieben hat.

Dass die Grünen ihre Vorstellungen zur Rentenreform nicht präziser darlegen, hat weniger mit Feigheit zu tun als mit der politischen Forderung an die Regierung, ihrer Rolle gerecht zu werden und Zielvorgaben klar zu machen, bevor sie die Verhandlungen mit den Sozialpartnern aufnimmt.

„Die IGSS hat 15 Schrauben identifiziert, an denen gedreht werden kann, um das System zu stabilisieren. Wir haben noch ein paar dazu gefügt. Doch es ist an der Regierung, endlich Position zu beziehen und die Karten auf den Tisch zu legen“, fasst Felix Braz zusammen. Wobei es nicht einmal so sehr um eine ideologische Auseinandersetzung mit dem Minister zu gehen scheint. Das Ziel, das aktuelle System in seinen Grundzügen zu erhalten und eine Endsolidarisierung der besser Bemittelten zu verhindern, haben schließlich auch die Grünen auf ihre Fahnen geschrieben.


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