BOLIVIEN: Der Putz bröckelt

Cochabamba, die drittgrößte Stadt Boliviens, vier Monate nach der Wiederwahl des indigenen Staatspräsidenten Evo Morales.

Auftakt des Klimagipfels: Evo Morales und sein Außenminister David Choquehuanca.

An Simon Bolivar bröckelt der Putz ab. Der südamerikanische Freiheitskämpfer sitzt mit gezücktem Schwert auf seinem Pferd – einer mittlerweile verrosteten Skulptur eines Tierkadavers. Überquert man vom Flughafen Cochabamba den Puente Quillaqollo, die Brücke, die die Innenstadt von der Peripherie der Stadt trennt, so kommt man zwangsläufig an diesem Denkmal vorbei. Einer erodierenden Skulptur, die einem Fanal gleicht und an bessere Zeiten denken lässt.

So wie Bolivien im Herzen Südamerikas liegt, liegt Cochabamba im Herzen Boliviens. Die Stadt bildet damit die Schnittstelle zwischen Andenregion und tropischen Tiefland. Fährt man über die Brücke an dem zusammenfallenden Bolivar vorbei, ein paar Kilometer hinaus an die Peripherie der Stadt, werden die Abgase weniger, die Pfade holpriger und anstelle von Beton ist mehr und mehr Lehm zu sehen. Hütten, an denen in regelmäßigen Abständen nicht mehr die weißen fetzenähnlichen Chicheria-Wimpel, Symbol der ländlichen Kneipen, in denen am Wochenende wie Feiertagen Chicha, gegorener Maisschnaps, getrunken wird, wehen, sondern neue Fahnen, in einem selbstbewussten blau-weiß, der Farbe des MAS, des Movimiento al Socialismo, der Volkspartei von Evo Morales. Und sogar die aus Sicherheitszwecken mit Glassplittern bespickten Mauern der vereinzelten reichen Villen rufen einem „Si, Evo!“ und „Evo, Presidente!“ zu. Ein Enthusiasmus, der seit August 2006, der Wahl des ersten indigenen Präsidenten des Andenstaates das gesamte Land angesteckt zu haben scheint.

„Unser Land hat die gleichen Probleme: Korruption, Armut und die Grundnahrungsmittel werden immer teurer.“

Don Leo, der aus der einst reichen und heute verwaisten – in der Andenregion am Fuße des Salzsees von Uyuni gelegenen – Minenstadt Potosi stammt, teilt diesen Enthusiasmus nicht. Der 43jährige Mann hat deutlich indigene Züge: die dunkle von der Sonne gegerbte Haut, die geraden Wimpern, die dichten schwarzen Haare. Für einen Tagelohn von drei Dollar arbeitet Don Leo in reichen Häusern als Gärtner. Wie alle seine Freunde und Bekannte hat auch Don Leo „Evo“, wie ihn hier alles nennen, gewählt. Heute ist er enttäuscht von der Politik des Indigenas: „Aaach, er ist wie die anderen, nur dass er nicht weiß ist, aber er verhält sich wie ein Weißer, macht dieselben Sachen. Unser Land hat die gleichen Probleme wie eh und je: Korruption, Armut und die Grundnahrungsmittel werden immer teurer. Zuletzt Zucker und Brot.“ Seit drei Wochen suche er in ganz Cochabamba nach einer Gasflasche zum Kochen. Dabei wisse doch jeder hier, dass das Land Gas in rauen Mengen exportiere, das sei doch absurd, meint er. Bolivien verfügt in der Tat über enorme Ressourcen an Erdgas. Der verstaatlichte Konzern „Yacimientos Petroliferos Fiscales Bolivianos (YPFB) ist das größte Industrieunternehmen Boliviens. Don Leo spuckt verächtlich vor seine Füße, entschuldigt sich jedoch sofort mit einem Zucken für diese Geste. Nichts sei besser geworden seit der Amtsübernahme Morales. Das Gesicht der Macht habe jetzt lediglich eine andere Hautfarbe: „Er verhält sich wie die Weißen, er tut so, als wäre er einer von uns, aber er biedert sich bei den Weißen an und außerdem wissen längst alle, dass er schwul ist und ein Verhältnis mit seinem Vizeminister, diesem europäischen Bleicharsch hat.“ Don Leo beißt sich erneut auf die Zunge. Wir Europäer seien doch nur begeistert von Morales, weil er so gute Propaganda mache. Das könne er verstehen, er fände die Leute aus den US-amerikanischen Filmen, wie Arnold Schwarzenegger auch sympathisch.

„Morales hat uns das Gefühl gegeben, dass wir Menschen sind und stolz sein können auf unsere Herkunft. Eine Art Wert hat er uns zurückgegeben.“

Von La Paz, der größten Stadt Boliviens ist es ein drei Tage langer Fußmarsch über die rauen Ebenen des Altiplano. Die 37-jährige aus La Paz stammende Dyonisia, hat diesen Marsch aus La Paz bis nach Cochabamba in Kauf genommen, um hier ebenfalls bei wohlhabenden Leuten als Dienstmädchen zu arbeiten. Dionysia trägt noch die Kluft der andinen Cholitas, eine Pollera, lange bis zum Knie reichende Röcke und den melonenförmigen schwarzen Hut der Aymara-Indianerinnen. Seit 20 Jahren arbeitet sie als „empleada“, als Dienstmädchen für reiche Familien. Mit aufrechten Gang und souveränen Handgriffen erledigt sie ihre Hausarbeit und verzieht dabei keine Miene. Spricht man Dionysia auf den Präsidenten an, so huscht ein kurzes, kaum wahrnehmbares Lächeln über ihr Gesicht und sie legt kurz die Hose, die sie am Waschen ist, beiseite: „Er hat uns das Gefühl gegeben, dass wir Menschen sind und stolz sein können auf unsere Herkunft. Eine Art Wert hat er uns zurückgegeben, ja so ist es, das kann man sagen.“ Für Dyonisia ist es ein Zeichen der Würde, dass er sich bis heute weigert europäische Kleidung zu tragen und Beweis dafür, dass er zu seiner Herkunft steht und auf dem Boden geblieben ist. Er kaut Coca, wie wir und trinkt wie wir und das, was er politisch macht ist, denke ich auch ganz o.k. Er ist einer von uns. Er ist gut für unser Land“, resümiert sie und widmet sich wieder dem Auswringen der Hose.

Zurück in der surrenden Stadt steht die junge Lehrerin Ana Maria Camacho vor verschlossenen Türen. Ana Maria arbeitet am einem staatlichen Colegio, einer städtischen Grundschule, die wie so oft in den letzten Jahren geschlossen ist, weil die Lehrer anlässlich der Reform der Anpassung der Lehrergehälter der MAS-Regierung, streiken. Ana Maria scheint in Bezug auf Morales eher skeptisch: „Als Stadtlehrerin finde ich es unfair, dass Morales die Gehälter für Lehrer in der Stadt und auf dem Land angleichen will. Er will sogar die Lehrer auf dem Land noch besser bezahlen, weil er sagt, dass die Ausbildung der Indigenenas auf dem Land Priorität haben sollte. Dabei sind wir Lehrer in der Stadt meist viel besser ausgebildet, als die Lehrer auf dem Land. Da sind meistens ja auch Indios. Ich finde er privilegiert seine Leute aus den communidades.“ Auch die neue Institution des Schulgeldes findet Ana Maria problematisch. Das würde doch eh nur von den Vätern versoffen, meint sie dazu trocken. Und es gibt da einen Aspekt, der zurzeit in den Medien kursiere und über den sie mit ihren Kolleginnen bereits heftig diskutiert habe: die Besetzung der Richter des obersten Verfassungsgerichts. Sie habe gelesen, dass fast die Hälfte der konservativen Richter des Obersten Gerichtshofes zurückgetreten seien und diese nun von Evo ernannt würden. „Das führt doch hin zu autoritären Strukturen und die hatte unser Land zu genüge.“

Boliviens Demokratie ist in der Tat alles andere als stabil. Seit der Staatsgründung, am 6. August 1825, erfuhr das Land über 300 Putschversuche. Seit der Herrschaft der Zinnbarone, die die Ländereien einst auf drei große Familien verteilten, wurde das Land von weißen Eliten regiert. Eine Mehrheit der BolivianerInnen sieht bis heute darin eine Art Ausbeutung, die sich nach der Conquista bis in die heutige Zeit durchgesetzt hat. „Weiße Herrschaft“ hat damit seit der Spanischen Conquista in Bolivien Kontinuität. Europäer befinden sich damit in der Zwickmühle zugleich als potentielle Geldgeber gern gesehen zu werden ? andererseits spüren sie auch Verachtung. Wächst diese seit der Amtszeit des indigenen Präsidenten?

„Es hat sich viel und wenig verändert. Morales hat die Indigenen in ihren Comunidades systematisch organisiert und politisiert.“

Charlotte Stamm ist vor acht Jahren im Rahmen eines Promotionsprojektes im Bereich Tierhaltung aus Deutschland gekommen und hat sich nach drei Jahren in Cochabamba niedergelassen. Dr. Stamm wohnt etwa drei Kilometer außerhalb der Stadt auf dem Land. Im Rahmen ihrer Uniprojekte reist sie regelmäßig in den Chapare, in die tropische Urwaldregion zwischen Cochabamba und Santa Cruz. Dort arbeitet sie mit lokalen Gruppen und einer NGO zusammen. Bittet man Dr. Stamm die Lupe auf Cochabamba zu setzen und die Bedingungen ihrer Arbeit konkret zu analysieren, so wertet auch sie eher kritisch: „Es hat sich viel und wenig verändert. Morales hat die Indigenenas in ihren Comunidades systematisch organisiert und politisiert. Er hatte schnell eine solide Basis hinter sich. Heute darf man allerdings im Chapare nichts mehr gegen ihn sagen, sonst wird man boykottiert. Die NGO „Asociacion de Servicios Artesanales y Rurales“ (ASAR) mit der wir zusammenarbeiten, darf sich auch nicht frei äußern. Das ist das Negativste, würde ich sagen, dass keine Meinungsfreiheit hier herrscht. Man ist für Evo und gehört dazu oder man ist gegen ihn und ist als Europäerin doppelt ausgegrenzt.“ „Doppelt ausgegrenzt“ hinterlässt bei allem Anfangsenthusiasmus einen schalen Nachgeschmack, stößt zumindest zum Nachdenken darüber an, was von einem Mythos zurückbleiben kann.

Verlässt man die Stadt, die in der Nachmittagshitze wie ein brodelnder aufgeheizter Kessel wirkt, so fährt man wieder an dem in der Hitze glühenden verrosteten Denkmal vorbei. Simon Bolivar ist für die Menschen Lateinamerikas bis heute die Galionsfigur der Befreiung. Ob Evo Morales ähnliche Spuren hinterlassen wird, bleibt abzuwarten. Sein Image scheint jedenfalls schon jetzt einige Kratzer abbekommen zu haben.

 

Die sozioökonomische Trennlinien führen quer durch das Land: Während der Osten mit den im tropischen Tiefland gelegenen Provinzen Santa Cruz, Tarija, Pando und Beni über das Gros an exportierbaren Ressourcen verfügt und überwiegend eine weiße Bevölkerungsstruktur aufweist, sind die andinen Regionen wie La Paz, Oruro und Potosi sehr arm. Hier lebt über 95% der indigenen Aymara-Bevölkerung. Im Vorfeld der Wahl von Evo Morales, sowie nach seiner Wahl Ende 2005 verschärften sich die Gegensätze zwischen den armen Andenregionen und dem reichen Osten. Es kam zu offenen rassistischen Anfeindungen und separatistischen Bestrebungen von reaktionären Kräften, an der Spitze Ivo Kuljis aus Santa Cruz, der Wirtschaftsmetropole des Ostens. Während Morales bei seiner ersten Wahl einen starken Rückhalt in den andinen Regionen hatte, unterstützen ihn bei der zweiten Wahl (62,5%) auch eine Mehrheit aus den östlichen Provinzen. Morales kann damit bis 2015 weiterregieren.


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