MEDIZIN: Mit Schmerzen in der Warteschleife

Wenig Platz, wenig Personal, schlechte Infrastruktur: Der medizinische Notdienst kann zum Ärgernis werden, wenn sich PatientInnen mit banalen Wehwechen in die Ambulanz der Krankenhäuser begeben – oder zum Gefahrenherd.

Der Abend endete mit einem Trommelfellriss und einer Jochbeinfraktur. Der französische Gast einer Discothek in Hollerich war am vergangenen Wochenende nach eigenen Worten ohne Grund von einem Türsteher verprügelt worden. Seine beiden Begleiter fuhren ihn ins Centre Hospitalier. Dort wurde er ohnmächtig.

Der Franzose hatte Glück im Unglück: Die Ärzte in der Notaufnahme zogen ihn wegen seines Zusammenbruchs vor. Andere müssen unter Umstände drei Stunden oder länger dort warten, bis sie an der Reihe sind. Die Notaufnahmen der luxemburgischen Krankenhäuser sind häufig hoffnungslos überlaufen. Personal und Räume fehlen an allen Ecken und Enden. Nicht zuletzt seien deshalb die langen Wartezeiten zu einem Dauerproblem geworden, meint René Pizzaferri, Präsident der Patientenvertretung.

Bei einem medizinischen Notfall muss der Betroffene zuerst die Nummer 112 anrufen, erklärt Gérard Scharll, Arzt und Chef de Service im Gesundheitsministerium, den üblichen Ablauf. Die Notrufzentrale der Protection Civile nimmt dann die Koordinaten auf und ruft je nach Schwere des Falles eine Ambulanz, bei schweren Fällen kommt diese dann mit einem Notarzt zu den PatientInnen. Handelt es sich um einen weniger dringenden Fall, vermittelt die Leitstelle die AnruferInnen weiter zu dem allgemeinmedizinischen Arzt in der Nähe, der gerade Bereitschaftsdienst leistet. Letzterer kann in seiner Praxis aufgesucht werden – oder er stattet den PatientInnen Hausbesuche ab. Dasselbe gilt nicht nur für die Wochenenden, sondern auch für die Zeit zwischen zehn Uhr abends und sieben Uhr morgens.

Die ganze Notfallprozedur klingt zunächst banal. JedeR scheint sie zu kennen. Doch in der Praxis sieht es oft anders aus: „Viele wissen nicht, was sie im Notfall tun müssen. Da gibt es einen großen Nachholbedarf an Information“, stellt Romain Differding fest, der den Pflegedienst in der Urgence des Centre Hospitalier (CHL) leitet. Das CHL teilt sich die Notdienste mit vier anderen Kliniken in der Hauptstadt: Sainte Elisabeth, Clinique d’Eich, Sacre-Coeur und Sainte Thérèse. Jedes Krankenhaus übernimmt im Laufe der Woche einmal für 24 Stunden die Bereitschaft, jeweils von sieben Uhr morgens an. Ebenso turnusgemäß wird der Notdienst an den Wochenenden gewechselt.

Verstauchter Zeh muss warten

Differding führt eine Statistik über das Patientenaufkommen an einem Bereitschaftstag: Es sind fast immer mehr als 150 PatientInnen. Und er hat genaue Zahlen über die Zahl der PatientInnen zu bestimmten Tageszeiten vorliegen. Die Statistik ist hilfreich für die Erstellung des Einsatzplans. Sie gibt aber auch Aufschluss über die Mängel des Notfallsystems: „Es ist schwierig zu planen. Wir wissen nie, wie viele Patienten mit welchen Verletzungen oder Krankheiten kommen“, so Differding. Und er weiß: „Es ist nicht immer so, wie wir es wünschen.“ An Wochenenden sind vier bis fünf ÄrztInnen jeweils zwölf Stunden lang auf der Station im Einsatz, nachts absolvieren zwei ihren Dienst.

Eine der ersten Aufgaben der Ärzte in der Notaufnahme ist es, eine Auswahl anhand einer Prioritätenliste aus fünf Kategorien zu treffen: Die schweren Fälle zuerst, die leichteren müssen warten und dürfen möglichst nicht die Behandlung der Notfälle blockieren. Dabei kann es mitunter zu Wartezeiten von drei oder mehr Stunden kommen, erklärt Differding und fügt hinzu: „Wir weisen niemanden zurück.“ Woran es fehle, seien vor allem ausreichende Räumlichkeiten. Zum Platzmangel kommt der Personalmangel hinzu. Differding verfügt über ein Pflegeteam aus zwölf Krankenpflegern und -schwestern. Da könnten sich maximal drei gleichzeitig frei nehmen, erklärt er. „Sonst wird es eng.“

„Die Ärzte leisten nicht gerne Notdienst. Er wird einfach nicht gut genug bezahlt“, meint derweil der grüne Parlamentsabgeordnete Jean Huss. In die Notaufnahme gehörten erfahrene Ärzte, die abwägen könnten, ob ein Fall dringend sei oder nicht. „Schließlich ist es ein großer Unterschied, ob sich jemand den Zeh verstaucht hat oder innere Blutungen hat“, so Huss. Nicht zuletzt die teilweise monatelangen Wartezeiten bei Fachärzten führten dazu, dass viele PatientInnen lieber gleich in die Notaufnahme einer Klinik gingen. Der Déi-Gréng-Politiker hat sich des Themas angenommen und will kommenden Dienstag in einer aktuellen Fragestunde im Parlament vor allem Fragen nachgehen wie: Verfügt das Personal über ausreichende Kenntnisse? Sind genügend Ärzte im Notdienst? Müssen diese extra bezahlt werden?

Huss fordert eine ernsthafte Bestandsaufnahme: „Darüber muss diskutiert werden.“ Er weist auf den Fall des zehnjährigen Mike Kieffer hin, der im Oktober 1995 in der hauptstädtischen Kinderklinik an einem Hirnüberdruck starb. Einer der beiden Kinderärzte, die wegen fahrlässiger Tötung des Jungen angeklagt worden war, erhielt kürzlich eine sechsmonatige Gefängnisstrafe auf Bewährung. Im Laufe des Prozesses kam unter anderem der akute Personalmangel in der Klinik zur Sprache. „Es muss geklärt werden, ob dies nur die Spitze des Eisbergs war“, fordert Huss. Während der Grünen-Politiker das luxemburgische Notdienstsystem „an sich nicht schlecht“ findet, krankt es nach Meinung des Vorsitzenden der Ärztevereinigung AMMD, Joé Wirtz, im Großherzogtum an der gesamten Krankenhaus-Infrastruktur. Diese bewege sich, so Wirtz kürzlich in einem Interview mit dem Télécran, auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Nicht nur, dass es an Untersuchungsräumen fehle, die Verantwortung der Ärzte sei außerdem enorm und das Risiko in einer überfüllten Notaufnahme hoch, erklärt der Ärztevorsitzende gegenüber der woxx.

Den gesamten Notdienst neu zu organiseren, fordert unterdessen René Pizzaferri. Der Präsident der Patientenvertretung zielt in Richtung eines „vollamtlichen Ersatzdienstes“, der nur mit Notfällen beschäftigt sein soll. Außer den ÄrztInnen des CHL würden die meisten Klinikärzte in einer Art Akkordsystem arbeiten. Das ginge auf Kosten der PatientInnen, die sich zudem oft über die anonyme Behandlung beklagen. Sie hätten schließlich das Recht darauf, dass ein ordentlicher Notdienst geleistet werde, so Pizzaferri. Greife die Politik nicht bald ein, würde auch die Situation in den Warteräumen immer schlimmer. Dort kommt es mitunter auch vor, dass Wartende aggressiv werden, wenn sie nicht schnell genug behandelt werden, weiß Romain Differding zu berichten.

Stefan Kunzmann


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