Soziale Fragen: Die Energieklassengesellschaft

Gibt es Energiearmut in Luxemburg? Bisher kann dies niemand so
genau sagen. Das Thema könnte aber schon bald im Zentrum energie-, klima- und sozialpolitischer Debatten stehen.

Der Herbst steht vor der Tür, und der Griff zum Heizungsthermostat wird wieder eine alltägliche Geste. Anfangs erinnert sie noch schmerzlich daran, dass der nächste Sommer weit weg ist, aber bald schon geschieht sie automatisch. Es sei denn, das Geld fehlt, um das Heizöl zu bezahlen. Dann verlieren angenehm beheizte Wohnräume schnell ihre vermeintliche Selbstverständlichkeit. Letztes Jahr hatten in Luxemburg genau 17.040 Personen dieses Problem, weshalb sie auf einen staatlichen Heizkostenzuschuss angewiesen waren. Die Zahl der Anträge an den Nationalen Solidaritätsfonds zur Gewährung der sogenannten „Allocation de vie chère“ hat seit 1983 stetig zugenommen. Gleichzeitig kletterte der Ölpreis, zwar in einem verwirrenden Zickzackkurs, aber doch mit einer klar erkennbaren, langfristigen Tendenz ? nach oben. Genauso das Budget für die Hilfsmaßnahme: Es stieg von 2,6 Mio. (1983) auf 28,5 Mio. Euro (2009)1. Fast unbemerkt ist damit im Laufe der Jahre eine sozialpolitische Baustelle entstanden, die bisher keinen Namen hat. Aber langsam stellt sich die Frage, ob sie nicht ein erstes Symptom der in anderen EU-Ländern bereits diagnostizierten Energiearmut ist.

Energiearmut ist nicht etwa ein ungelenkes Synonym für Lethargie. In Großbritannien, das in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen eine Vorreiterrolle spielt, wurde bereits in den 90ern die Energiearmutsgrenze bei einer Energienebenkostenlast (für Heizung, Gas und Strom) von 10 Prozent des Haushaltsbudgets festgelegt. Der Grund: Bei Haushalten mit kleinem Einkommen ergaben sich spätestens ab diesem Sockelwert gravierende Folgeprobleme, wie Verschuldung, Einstellung der Energiezufuhr, gesundheitsschädliche Wohnzustände usw. In der Folge orientierten sich auch Untersuchungen in Spanien, Italien und Belgien an diesem statistischen Wert. Die jüngste Studie entstand in Frankreich im Rahmen des „Plan Bâtiment – Grenelle de l’Environnement“. Eine Arbeitsgruppe zur „précarité énergétique“ stellte im Dezember 2009 die ernüchternde Diagnose: 13 Prozent der Haushalte fallen unter die Energiearmutsgrenze. Begleitet von dramatischen Folgeerscheinungen: Schlecht beheizte, feuchte Wohnräume erhöhen in Frankreich die winterliche Krankheits- und Sterberate.

In Luxemburg, mit seinem hochwertigen Gebäudebestand, ist das Problem der Energiearmut weniger ein gesundheits- denn ein energiepolitisches ? wenn es überhaupt wahrgenommen wird. Statistische Untersuchungen fehlen bisher, aus den Statec-Tabellen zu den jährlichen Ausgaben der Privathaushalte lässt sich jedoch ein, wenn auch vages, Bild von der Lage gewinnen. Der Anteil der Energienebenkosten stieg für Geringverdiener von 2,6 im Jahr 1993 auf 4,1 Prozent im Jahr 2006. Für Haushalte mit höheren Einkommen hingegen sank er leicht von 2,6 auf 2,3 Prozent. Keine extreme Entwicklung, könnte man einwenden, aber doch ein deutlicher Trend ? umso mehr, wenn berücksichtigt wird, dass es sich hierbei nur um Durchschnittswerte handelt, die darüber hinwegtäuschen, dass, wer über ein garantiertes Mindesteinkommen plus Sozialleistungen verfügt, 8 Prozent seines insgesamt verfügbaren Budgets (also nicht nur der Ausgaben!) für Energienebenkosten aufwendet. Hierzu kommen noch die Aufwendungen für Transport (in erster Linie in Form von Autokauf und ?unterhalt, sowie Benzinkosten), die zumindest teilweise ebenfalls als Energienebenkosten berücksichtigt werden müssten und alleine bereits durchschnittlich 18 Prozent der Ausgaben ausmachen.

„Fass ohne Boden“

Am Telefon mit den Statec-Zahlen konfrontiert, zeigt sich der für die Wohnungspolitik zuständige Nachhaltigkeitsminister Marco Schank (CSV) bestürzt und verspricht die Lage vom „Observatoire de l’Habitat“ genauer untersuchen zu lassen. Doch dann beschwichtigt er pauschal: „Wenn die Preise ansteigen, springt der Staat natürlich in die Bresche.“ Eine ziemlich widersprüchliche Auskunft, wenn man bedenkt, dass der Premierminister am liebsten die Erdölprodukte aus dem Indexwarenkorb herausnehmen würde, um die unabwendbare Preissteigerung dieses raren Guts von der Inflationsrate abzukoppeln. Ich frage den Minister, wie lange eine solche Spirale von Energiepreissteigerung und Zuschusserhöhungen haltbar sei und ob es keine energie- und sozialpolitisch sinnvollere Antwort gebe. Seine Antwort: „Wir haben langfristige Lösungen angeleiert: Der Energiepass, die Subventionen für energetische Sanierungen und mehr sozialer Wohnungsbau nach hohen Energieeffizienzstandards.“

Beseitigen diese aber wirklich das Problem? Während der Bau von energieeffizienten Sozialwohnungen unbestreitbar sinnvoll ist, schafft er doch nur teilweise und vor allem erst auf lange Sicht, Abhilfe. Ob die anderen Maßnahmen, Energiepass und Sanierungssubventionen, tatsächlich probate Mittel im Kampf gegen eine drohende Energiearmut sind, ist schwieriger zu beurteilen.

Mit dem Energiepass werden Immobilien in die Energieklassen A (Passivhaus) bis I (Energiefresser) eingestuft. Für Neubauten ist der Pass seit 2008 und für den Altbaubestand beim Verkauf oder Mieterwechsel seit dem 1. Januar 2010 obligatorisch. Erste unmittelbare Konsequenz der primär klimapolitisch motivierten Maßnahme könnte eine sozial ungerechte Preisentwicklung auf dem Immobilienmarkt sein. Immobilienmakler Victor Rockenbrod kann das in der Praxis zwar noch nicht beobachten: „Dafür ist es noch zu früh. Aber wir erwarten, dass energieeffiziente Gebäude an Wert gewinnen.“

Der Energiepass soll Immobilienbesitzer zur energetischen Sanierung des Altbaubestands motivieren, wofür das Nachhaltigkeitsministerium großzügige Subventionen zur Verfügung stellt. 700 Anträge wurden bisher, mit einer Förderungsumme in Höhe von insgesamt 6,7 Mio. Euro, positiv beschieden. Diese Zuschusszahlungen orientieren sich allein an Kosten und Umfang der Sanierungsarbeiten und bleiben daher blind für soziale Kriterien. Tatsächlich kann die Sanierungskosten nur tragen, wer über ausreichendes Eigenkapital verfügt, da die Amortisierung, wie eine Studie der Immobilienkammer CIGDL unlängst zeigte, viel zu langwierig ist.

Die staatlichen Zuschüsse ändern hieran nichts. Auf die müssen die Antragsteller zudem im Schnitt 15 Monate warten und die Handwerker in der Zwischenzeit ausschließlich aus eigenen Mitteln bezahlen. Der Staat bietet als zusätzliche Stütze eine Zinsvergütung für Kredite bis zu 50.000 Euro an, wenn diese zur energetischen Sanierung verwendet werden. „Sie wurde aber erst sechs Mal beantragt, und wir verstehen nicht warum“, kommentiert Minister Schank die Hilfe, für die es keine Abnehmer gibt.

Anscheinend können allein im sozialen Wohnungsbau Umweltschutz und Sozialverträglichkeit gewinnbringend verbunden werden. Der Fonds de Logement hat in den letzten Monaten für seine etwa 1700 Wohnungen einen Energiepass ausstellen lassen. Präsident Daniel Miltgen berichtet am Telefon: „Ich bin auf den Rücken gefallen, als ich erfahren habe, dass die meisten Gebäude in den Energieklassen F und G liegen. Wenn man bedenkt, welche Nebenkosten das bedeutet, muss man wirklich von einer Katastrophe sprechen. Da müssen wir uns was einfallen lassen.“ Der zuständige Techniker, Jean-Paul Thies, lässt gerade berechnen, wie viel es kosten würde, den ganzen Bestand in die Klassen A und B zu hieven. Thies versteht die Sanierung in erster Linie als Klimaschutzmaßnahme, „schließlich ist es richtig, dass der Umweltminister die CO2-Bilanz Luxemburgs verbessern möchte.“

Grundrecht auf Energie

Welche Probleme den Bewohnern aus den hohen Heizkosten bisher möglicherweise entstanden sind, kann er nicht sagen und leitet mich weiter an die Sozialarbeiterin Nathalie Becker. Als ich ihr die Frage stelle, kommt aus dem Telefonhörer erst lautes Lachen, dann der knappe Kommentar: „Die Leute holen sich das Geld vom Staat und machen sich über Heizkosten keine Gedanken mehr. Ernste Sorgen bereiten denen eher Streitigkeiten mit ihren Nachbarn.“

Bleibt die Frage, wie Maßnahmen zu mehr Energieeffizienz auf dem freien Markt nicht nur von negativen sozialen Folgen freigehalten, sondern umgekehrt für den Schutz vor sozialer Ausgrenzung genutzt werden können. Verschiedene Akteure aus dem Sozial- und Umweltsektor beginnen erste Antworten zu formulieren. Dietmar Mirkes, der nicht nur Mitarbeiter bei der ASTM, sondern auch Koordinator des Klimabündnisses ist, schlägt vor, anstelle der Heizkostenzuschüsse einen Fonds zu gründen, aus dem die Installierung von Holzpelletheizungen in den Wohnungen einkommensschwacher Haushalte unterstützt wird. „Dann hört die reine Symptombehandlung auf, und diesen Menschen wären langfristig niedrige Nebenkosten garantiert.“ Für den Raum Trier gebe es bereits eine Studie, die zeigt, dass der lokale Waldbestand für eine auch aus der Perspektive von Umwelt- und Klimaschutz nachhaltige Versorgung mit Holzpellets ausreichend wäre. „Das sollte man auch für Luxemburg überprüfen“, so Mirkes.

Caritas-Koordinator Robert Urbé erinnert daran, dass Energiearmut bereits während der Debatte um die Liberalisierung des Strom- und Gasmarkts thematisiert und ein gesetzlich garantierter Minimalanspruch auf Energie gefordert wurde. Das heißt, erklärt Urbé, „wenn Leute ihre Rechnungen nicht bezahlen können, dürfen Strom und Gas nicht einfach abgeschaltet werden.“ Leider sei diese Forderung bei der Liberalisierung nicht berücksichtigt, dann aber doch im Gesetz über die Sozialhilfen geregelt worden ? „aber nur sehr vage, weshalb wir gespannt sind, wie das nach Inkrafttreten des Gesetzes im Januar 2011 in der Praxis gehandhabt wird.“

„Eine weitere Hilfe für einkommensschwache Haushalte könnte eine professionelle Beratung beim Energiesparen sein“, ergänzt der Caritas-Mitarbeiter und verweist auf Erfahrungen der Schwesterorganisation in Deutschland. Dort hat die Caritas bereits in 11.000 Haushalten einen „Stromsparcheck“ durchgeführt. Auf ihrer Internetseite begründet die Hilfsorganisation die Initiative damit, dass „viele finanzschwache Haushalte ungewöhnlich hohe Stromkosten haben. Der Informationsstand rund ums Energiesparen ist oft niedrig, die Verschwendung enorm. Doch ausgerechnet die Betroffenen nutzen kaum klassische Beratungsangebote, etwa von Verbraucherzentralen.“ Auch in Luxemburg wird die eigentliche Energieberatung von einer Einrichtung angeboten, die keinen sozialen Auftrag hat, nämlich der Energieagence. Ein Austausch zwischen den Energiesparexperten und den zwei Anlaufstellen für die Beantragung von Heizkostenzuschüssen ? den „Offices Sociaux“ und dem Nationalen Solidaritätsfonds ? ist nicht vorgesehen. Mit einigen Ausnahmen: Die grünen Bürgermeister Camille Gira und Henri Kox möchten nächstes Jahr die Sozialbüros in Beckerich und Remich reformieren und einen „sozialen Energieberater“ mit der Beratung der Bezieher von Heizkostenzuschüssen betrauen. Henri Kox erklärt: „Die ?Allocation de vie chère‘ ist ein Fass ohne Boden, und wir befürchten, dass ihr Entlastungseffekt schnell verpufft. Wer sie erhält, sollte automatisch Informationen erhalten. Erstens über kleine Gesten, mit denen im Alltag viel Energie gespart werden kann. Und zweitens über mögliche Sanierungsarbeiten und ihre Finanzierung.“

Solche Einzelmaßnahmen seien notwendig, würden aber allein nicht ausreichen, um Energiearmut langfristig zu bekämpfen, befürchtet Robert Urbé: „Energiearmut ist ein vielschichtiges und weitreichendes Problem. Nicht nur im Wohn- und Transportbereich, denn steigende Ölpreise treiben auch die Lebensmittelkosten hinauf. Wir müssen umfassendere Lösungen entwerfen.“ Deshalb hat die Caritas zusammen mit Greenpeace Luxemburg den in Brüssel ansässigen Thinktank „Pour la Solidarité“ mit der Erstellung einer Studie beauftragt, die derzeit in Zusammenarbeit mit dem CEPS und der Universität Luxemburg durchgeführt wird. Paul Delaunois von Greenpeace erklärt, weshalb sich auch die Umweltorganisation für das Thema interessiert: „Die Menschen haben verstanden, welche Herausforderungen der Klimawandel mit sich bringt. Jetzt geht es darum, herauszufinden, wie gesellschaftlicher Wandel im Sinn des Klimaschutzes vollzogen werden kann. Damit geraten zu allererst soziale Aspekte ins Blickfeld.“

Expertisen gegen die Armut

Die Studie soll eine detaillierte Analyse der Situation in Luxemburg liefern und dabei alle energiebezogenen Kosten und die durch sie gegebene Belastung der Haushaltseinkommen ermitteln. Zusätzlich soll auch der Gebäudebestand überprüft werden, denn „keiner weiß, ob es in Luxemburg nicht doch mehr Häuser in sehr schlechtem Zustand gibt als angenommen, und wie viele Menschen in ihnen wohnen.“ Geprüft wird auch, wer genau von den staatlichen Sanierungszuschüssen profitiert und ob sie nicht spezifischer auf einkommensschwache Haushalte zugeschnitten werden können. Über den Fortschritt der Recherchearbeit, die voraussichtlich Mitte Oktober abgeschlossen sein wird, verrät Delaunois nur so viel: „Wir hatten einen vagen Verdacht, dass die Sache nicht zum besten steht, und die ersten Resultate haben dies bestätigt: Es gibt ein reales Problem.“ Bis zur ihrer Veröffentlichung Ende des Jahres wird die Studie noch um einen Katalog mit Lösungsvorschlägen ergänzt. Ziel ist, so Delaunois, darauf hinzuwirken, „dass Klimaschutz und Energiepolitik an erster Stelle den sozial Schwächsten einen Ausweg aus unnachhaltigen Lebensstilen ermöglichen.“

Auch beim Mouvement Ecologique möchte man das Problem zunächst einmal präzise verstehen, um dann mit konkreten Forderungen Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausüben zu können. Zusammen mit der Chambre des Salariés hat der Mouvement eine Studie beim Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt in Auftrag gegeben, die aber ebenfalls erst Ende des Jahres abgeschlossen sein wird. Mouvement-Präsidentin Blanche Weber erklärt: „Die Studie ist klar auf den Bereich Wohnen ausgerichtet, das Thema Mobilität wird nur am Rand berücksichtigt.“ Mehr könne sie noch nicht sagen.

Im Herbst beginnt dieses Jahr auch das „Partenariat für die Umwelt und das Klima“, bei dem der Nachhaltigkeitsminister, Umweltverbände, Gewerkschaften und Arbeitgeber über eine neue Klimaschutzstrategie beraten. Die Arbeitsgruppen treffen sich am 20. September zu ersten Gesprächen. Eine davon wird sich dem Thema Wohnen widmen. Und Energiearmut, so beteuerten alle Interviewpartner, werde für sie ein wichtiges Stichwort sein. Ob es dazu führt, dass eine Klimapolitik entworfen wird, deren Messeinheit zwar eingesparte CO2-Tonnen sind, deren Messlatte aber soziale Gerechtigkeit ist, bleibt abzuwarten.

1 Eine Person erhält jährlich 1320 Euro, für jedes weitere Familienmitglied gibt es einen Zuschuss von 330 Euro.


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