Ein neues Gesetz garantiert behinderten ArbeitnehmerInnen unter anderem ein Mindesteinkommen. Der Weisheit letzter Schluss ist es allerdings noch nicht.
„Vom Tollhaus des 19. Jahrhunderts zur Werkstatt für Behinderte, das kann nicht der ganze Weg sein, sondern höchstens eine Zwischenstation.“ Mit diesen Worten zitierte die Grünen-Abgeordnete Renée Wagener am Dienstagabend in der Chamber den saarländischen Staatssekretär Josef Hecken. Dieser hatte im März bei einem Symposium in Luxemburg über die Umsetzung des im vergangenen Jahr in Kraft getretenen deutschen Gesetzes zur Gleichstellung von behinderten Menschen referiert. Von einem Paradigmenwechsel wurde damals im Nachbarland gesprochen – und von einer europaweiten Signalwirkung, die von dem Gesetz ausgehe.
Als ein Schritt in die richtige Richtung wurde auch das neue luxemburgische Gesetz über die Einkommenslage der Behinderten bezeichnet. Mehr als das sei es jedoch nicht, schränken die KritikerInnen ein. Mit dem neuen Gesetz werden den behinderten ArbeitnehmerInnen die gleichen sozialen Rechte zugestanden wie ihren nicht-behinderten KollegInnen. Darüber hinaus garantiert es den in so genannten Ateliers protégés Beschäftigten ein Mindesteinkommen. Bisher waren diese mit Minimalprämien abgespeist worden. Die Arbeit von Behinderten fiel nicht unter das Arbeitsrecht. „Ein Widerspruch zu einer Politik, die Gleichstellung zum Ziel hat“, nannte die CSV-Abgeordnete Marie-Josée Frank den bisherigen Zustand am Dienstag und fügte hinzu: „Von sozialer Integration konnte hierbei keine Rede sein.“ Nach der aktuellen Reform des Gesetzes zur Integration der Behinderten in den Arbeitsmarkt besitzen diese nun das Recht auf einen geregelten Arbeitsvertrag.
End- statt Zwischenstation
Dabei sollen die Werkstätten nur einen Übergang darstellen auf dem Weg ins so genannte gewöhnliche Berufsleben. Aus der Zwischenstation wird jedoch für die meisten behinderten ArbeitnehmerInnen eine Endstation. In der Tat ist die Zahl derer, die den Sprung auf den freien Arbeitsmarkt schaffen, gering: Ihr Anteil beläuft sich nach offiziellen Angaben auf magere drei Prozent. „Die anderen, die in den Ateliers bleiben, bekommen bis zu ihrer Pension das Mindesteinkommen“, erklärt Joël Delvaux gegenüber der woxx. Der Präsident der OGBL-Sektion „Département des travailleurs handicapés“ kritisiert, dass mit dem neuen Gesetz Aspekte wie berufliche Weiterbildung und Aufstiegsmöglichkeiten für die Betroffenen nach wie vor zu kurz kommen. „Wichtig wären zum Beispiel Bewerbungsseminare, in denen die Teilnehmer lernen, wie sie sich bei einem Arbeitgeber präsentieren oder wie sie sich bei der Stellensuche leichter zurecht finden können.“
Delvaux arbeitete selbst Jahre lang in einem Atelier protégé. „Als ich mich beruflich weiterentwickeln wollte und beim Arbeitsamt vorstellig wurde, bekam ich gleich zu hören: ‚Aber Sie haben doch schon eine Stelle‘. Und im Atelier wurde ich zusätzlich demotiviert. Da hieß es: ‚Bei uns bist du doch gut aufgehoben‘.“ Trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten schaffte es Delvaux – und zwar auf eigene Faust. Heute ist der 30-Jährige bei der Fonction Public im Telefondienst tätig.
In den Zeiten der konjunkturellen Flaute sind auch die Aussichten für Behinderte gesunken, einen Job zu finden. Von den insgesamt etwa 2.800 behinderten ArbeitnehmerInnen seien rund 280 arbeitslos, betonte Renée Wagener bei ihrer Rede im Parlament. JedeR zehnte „travailleur handicapé“ hat demnach keinen Job. Ganz zu schweigen von denen, die sich erst gar nicht arbeitslos meldeten, so die Grünen-Politikerin, weil sie bereits in irgendwelchen Maßnahmen untergebracht sind.
Seit 1991 müssen nach dem Gesetz zur Integration von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt im öffentlichen Dienst fünf Prozent der Arbeitsplätze mit „travailleurs handicapés“ besetzt werden. Im Privatsektor hängt die Quote von der Größe des Betriebs ab: Firmen mit 25 bis 50 MitarbeiterInnen müssen mindestens einen Behinderten beschäftigen, Betriebe mit bis zu 300 MitarbeiterInnen zwei Prozent – und größere Unternehmen vier Prozent ihrer Belegschaft. Doch nicht einmal im öffentlichen Sektor wird die Quote erfüllt. Dort beläuft sich die Rate gerade einmal auf 2,18 Prozent. Einige Behörden sollen sich nach woxx-Informationen angeblich besonders resistent zeigen, was die Einstellung von Behinderten angeht. Strikte Kontrollen und damit verbundene Sanktionen gegen Behörden und Betriebe, die die Quote nicht erfüllen, forderte deshalb bei der Parlamentsdebatte neben Renée Wagener auch der Déi Lénk-Abgeordnete Serge Urbany. Die Strafgelder könnten dann in einen Fonds für soziale Zwecke fließen. Doch bereits die Forderung der Grünen nach verlässlichen Statistiken stieß besonders im CSV-Lager auf Widerstand.
„Das neue Gesetz begrenzt sich stark auf den Bereich der Ateliers protégés, mit der Gleichstellung im täglichen Leben hat es wenig zu tun“, bemängelt Joël Delvaux. Für die Behindertenwerkstätten ist die Neuerung allerdings ein Erfolg. Da die meisten nicht in der Lage sind, die vorgeschriebenen Mindesteinkommen aus der eigenen Tasche zu bezahlen, wird laut Gesetz der staatliche Zuschuss nun von 60 auf 100 Prozent geschraubt. „Damit sinkt aber auch der Produktivitätsdruck für die Ateliers“, wendet Delvaux ein.
Überhaupt regelt das Gesetz nur einen Teilbereich der Behindertenintegration. Ein Rahmengesetz wie in Deutschland gibt es in Luxemburg nach wie vor nicht. Die einzelnen Aspekte der Integration greifen jedoch ineinander über, angefangen bei der Einschulung behinderter Kinder. „Wenn nicht bereits in der Schule Integration stattfindet, dann wird sie in der Berufswelt umso schwieriger“, erklärt Renée Wagener.
Nicht weit her ist es auch mit einem anderen Schwerpunkt der Behindertenintegration: der Beteiligung an politischen Entscheidungen. Das Gesetzesprojekt von Familienministerin Marie-Josée Jacobs war dem „Conseil supérieur des personnes handicapées“ zur Begutachtung und Stellungnahme vorgelegt worden. Um eine Mitarbeit im engeren Sinne des aus elf behinderten und nicht-behinderten Mitgliedern bestehenden Gremiums handelte es sich jedoch nicht. „Wir haben lediglich ein Gutachten abgegeben“, erklärt Andrée Biltgen aus dem Conseil. Am Verfassen des Textes war Letzterer jedoch nicht beteiligt.
Stefan Kunzmann